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Die neue geopolitische EU-Kommission
Die Präsidentin der neuen Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, hat eine „geopolitische Kommission“ zusammengestellt, die als „Beschützer des Multilateralismus“ handeln soll. Mit ihrem Amtsantritt Anfang Dezember 2019 soll künftig das ökonomische Gewicht der EU stärker eingesetzt werden, um in der Außen- und Handelspolitik europäische Interessen und Werte zu verteidigen.
Damit reagiert die EU auf die Politik der USA und den bilateralen Handelskrieg der beiden Großmächte USA und China, der Europa in Mitleidenschaft zieht und zunehmend in die Rolle eines Beobachters statt eines aktiven Gestalters drängt. Die EU muss schnell handlungsfähig werden, denn es stehen wichtige Entscheidungen an.
Bereits im Dezember 2019 könnten die USA die Welthandelsorganisation (WTO) bewusst schwächen. Wegen der Blockadehaltung Washingtons werden weniger als drei Mitglieder am Berufungsgremium (Appellate Body) des Streitschlichtungsmechanismus der WTO tätig sein. Damit wird die Mindestzahl unterschritten, die für eine Fallentscheidung nötig wäre. Dies führt zu einer deutlichen Schwächung der WTO und damit auch der globalen, regelbasierten Handelsordnung, da kein Verfahren mehr ohne einen funktionierenden Berufungsausschuss abgeschlossen werden kann. Somit wird der bindende Streitschlichtungsmechanismus untergraben, der die WTO-Regeln bislang effektiv durchsetzen konnte. Vor allem die EU – und Deutschland – sind aufgrund ihrer Präsenz auf globalen Märkten in besonderem Maße von den multilateralen Regeln der WTO abhängig, die für alle 164 Mitgliedstaaten gelten. Die USA unter Präsident Trump sind hingegen der Meinung, dass ihre auf wirtschaftlicher und militärischer Stärke fußende Macht von multilateralen Regeln nur beschnitten werde. Gulliver will sich nicht mehr von den Liliputanern fesseln lassen.
Amerikas Abkehr vom regelbasierten Multilateralismus
Multilaterale Organisationen wie die WTO sind in der sozialdarwinistisch anmutenden Weltsicht von US-Präsident Donald Trump ein Hindernis: Diese sind schließlich darauf ausgerichtet, internationalem Recht zur Stärke zu verhelfen, auszugleichen, den Stimmen auch der – nach Trumps Meinung – Schwächeren im Konzert der Nationen Geltung zu verschaffen. Für Trump begründen jedoch maximale militärische Macht das Recht des Stärkeren und somit die „transaktionale Führung“ der USA.
Um Amerikas Machtfülle zu entfesseln, soll die internationale Einflussnahme, allen voran das Regelwerk der WTO, begrenzt werden. Nach Ansicht der Trump-Regierung soll ein WTO-Urteil gegen die USA nicht mehr automatisch zu einer Änderung eines amerikanischen Gesetzes oder einer Handelspraxis führen. In der Konsequenz werden die Urteile des WTO-Streitschlichtungsmechanismus von den USA nicht mehr grundsätzlich anerkannt – oder das multilaterale Schiedsverfahren soll selbst ausgehebelt werden.
Das Politikverständnis Donald Trumps
- Trumps „realistische“ Weltsicht
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Das in der aktuellen Nationalen Sicherheitsstrategie der USA nunmehr explizit als „realistisch“ bezeichnete Politikverständnis Trumps setzt auf das Recht des Stärkeren.
In der Weltsicht von Trump und seinen Wirtschafts- und Sicherheitsberatern bietet Wirtschafts- und Militärmacht den ‚kompetitiven Wettbewerbsvorteil‘ schlechthin: Er dient dazu, um im härter werdenden internationalen Wettbewerb zu gewinnen – mit dem Recht des Stärkeren und zwangsläufig auf Kosten aller anderen Nationen.
In einer grundlegenden Neuausrichtung wollen die USA – so auch der Bericht des Handelsbeauftragten (USTR) Robert Lighthizer für den Kongress vom März 2017 – ihre wirtschaftliche und politische Macht nutzen, um von den Handelspartnern einen „fairen und reziproken“ Marktzugang zu erzwingen.
- Transaktionale Führung
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Der Begriff „transaktionale Führung“ bringt sowohl die Beziehungs- als auch die Inhaltsebene zum Ausdruck. In diesem hierarchischen Austauschverhältnis gibt ein Vorgesetzter – in diesem Fall US-Präsident Trump – eine Zielvereinbarung mit spezifischen Erwartungen vor und belohnt oder bestraft die Untergebenen mit finanziellen oder immateriellen Vorteilen beziehungsweise Nachteilen, wenn sie die Anforderungen erfüllen oder verfehlen. Ausführlicher zur transaktionalen Führung siehe James MacGregor Burns, Leadership, New York 1978.
Hingegen sollen die nationalen Handelsgesetze der USA gegen alle Handelspartner strikt und effektiv angewandt werden. Die wichtigsten Gesetze sind zum einen die Sektion 301 des Handelsgesetzes von 1974, die es dem Präsidenten erlaubt, Zölle und Quoten gegen Handelspartner zu errichten, die „unvertretbare“, „unangemessene“ oder „diskriminierende“ Maßnahmen einführen.
Zum anderen wird – in einer Verknüpfung von Handels- und Sicherheitsaspekten – die aus dem Kalten Krieg stammende Sektion 232 des Handelsgesetzes von 1962 wieder angewandt, die es dem US-Präsidenten ermöglicht, Zölle im Namen der nationalen Sicherheit einzuführen. Eine Gefahr der Sektion 232 für das internationale Regelwerk liegt darin, dass die nationale Sicherheit auch eine WTO-Ausnahme nach Artikel XXI GATT darstellt, die, ohne die Glaubwürdigkeit der WTO zu belasten, schwer zu überprüfen ist. Am Beispiel der Stahl- und Aluminiumzölle wird deutlich, dass die USA dabei nicht zwischen Verbündeten und anderen Staaten unterscheiden. Neben China oder Russland sind selbst Alliierte wie Kanada, Japan oder die EU von den Zöllen betroffen.
Notwendige Reaktionen der EU …
Die EU kann sich nicht mehr auf ihren traditionellen Status als Verbündeter verlassen, sondern muss wie alle anderen Staaten mit den USA Abkommen aushandeln, die amerikanische Interessen stärker berücksichtigen. Im Gegensatz zu anderen Staaten ist die EU jedoch – zumindest im Handelsbereich – ein gleichgewichtiger Verhandlungspartner, der aufgrund der engen Vernetzung im Handel mit den USA auf Augenhöhe verhandelt (siehe Grafik 1 Handelsströme). Und mit diesem Pfund der Marktgröße will die neue EU-Kommission künftig besser wuchern. Politische Ansatzpunkte, um dieses Ziel zu erreichen, lassen sich identifizieren.
Abbildung 1: US-Außenhandel mit ausgewählten Ländern 2018
… in der Handelspolitik
Ein Abkommen wie die Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft (Transatlantic Trade and Investment Partnership, TTIP) ist mittlerweile aus politischen Gründen nicht mehr vorstellbar. Auch der Abschluss des Abkommens über den Abbau von Industriezöllen ist zurzeit nicht denkbar. Fortschritte sind jedoch in anderen Bereichen möglich. So sollte es unter dem designierten EU-Handelskommissar Phil Hogan möglich sein, das vom scheidenden Präsidenten der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker und US-Präsident Trump im Juli 2018 vereinbarte Abkommen über gegenseitige Konformitätsbewertungen abzuschließen. Damit können europäische und amerikanische Unternehmen leichter nachweisen, dass sie die technischen Anforderungen des jeweils anderen Partners erfüllen.
Die EU muss zudem darauf achten, dass sie mit den USA nur Abkommen abschließt, die nicht gegen internationale Regeln verstoßen. Es gilt unter allen Umständen, Handelsbeschränkungen zu verhindern, die die USA etwa im NAFTA-Nachfolgeabkommen, dem United States-Mexico-Canada Agreement (USMCA), erwirkt haben: Kanada und Mexiko wurden genötigt, ihre Autoexporte in die USA auf ein zollfreies Kontingent von 2,6 Millionen Pkws zu begrenzen. Damit wurde das WTO-regelwidrige Prinzip des Managed Trade in ein US-Abkommen eingeführt. Durch eine ebenso problematische ‚China Klausel‘ im USMCA wollen die USA ihre Nachbarn Kanada und Mexiko von einem Abkommen mit China abhalten und unterminieren somit deren handelspolitische Souveränität.
In anderen weniger sicherheitsrelevanten Handelsfragen könnten die europäischen Verbündeten hingegen taktisch vorgehen, um das Wohlwollen Trumps zu erwirken. Sie könnten – wie von Juncker mit Trump vereinbart – etwa amerikanisches Flüssiggas und insbesondere Rüstungsgüter kaufen, damit technologisch abhängig bleiben und zudem das amerikanische Handelsdefizit verringern. Auch verstärkte Sojaimporte aus den USA helfen, den Handelsstreit mit den USA zu entspannen.
Strategisch kann die EU ihre Abhängigkeit vom dominanten US-Markt durch Diversifizierung mindern, etwa durch weitere bilaterale und regionale Freihandelsabkommen, die nicht nur Märkte für europäische Produkte öffnen, sondern auch europäische Werte, Normen und Standards exportieren. Die Abkommen mit Kanada (Comprehensive Economic and Trade Agreement, CETA) und Japan sind bereits in Kraft und ein großer Erfolg für die EU. Die Unterzeichnung des Abkommens mit den Mercosur-Staaten war ein weiteres wichtiges Signal gegen Protektionismus. Es muss jedoch gegebenenfalls im Umweltbereich nachverhandelt werden. Auch die Verhandlungen mit den ASEAN-Staaten sowie Australien und Neuseeland schreiten voran. Dieses Netz an Abkommen bietet der EU etwas mehr Sicherheit und Berechenbarkeit, falls das regelbasierte multilaterale Handelssystem weiter zerbrechen sollte.
Diese Gefahr ist begründet, denn eine Einigung mit den USA über die Zukunft des Appellate Body der WTO bis zum Verstreichen der Frist für die Neubenennung im Dezember 2019 ist wenig wahrscheinlich. Deshalb hat die EU unter anderem mit Kanada und Norwegen auf Basis von Artikel 25 des Dispute Settlement Understanding (DSU) bereits ein alternatives Berufungsgericht vereinbart, um weiterhin internationale Streitigkeiten regelbasiert lösen zu können. Dieses soll so lange in Kraft sein, bis auf WTO-Ebene eine Einigung zum Fortbestand des Berufungsausschusses erzielt werden kann. Für den Fall, dass die USA auf Dauer die Neubesetzung von Mitgliedern des Appellate Body blockieren und damit das rechtlich bindende Streitschlichtungsverfahren der WTO permanent außer Kraft setzen, sollte die EU mit gleichgesinnten Ländern für einen Plan B werben: ein multilaterales Streitschlichtungssystem ohne die USA.
… in der Sicherheitspolitik
Indem die US-Regierung Strafzölle auf Stahl und Aluminium mit der nationalen Sicherheit begründet, gefährdet sie nicht nur die Funktionsweise der WTO. In der NATO können diese Zölle als Erpressungsinstrument eingesetzt werden. Europa sollte die Drohung von US-Präsident Trump ernst nehmen, dass die USA ihren Schutzverpflichtungen gegenüber ihren europäischen Verbündeten nicht mehr nachkommen werden, wenn diese nicht bereit sind, selbst mehr Lasten zu schultern.
Die EU-Regierungen sollten den Europäischen Verteidigungsfonds aufstocken
Um Trumps Forderungen nach höheren Militärausgaben zu entkräften und für die eigene Sicherheit zu sorgen, sollten europäische Regierungen den seit 2017 bestehenden Verteidigungsfonds, den European Defence Fund (EDF), weiter aufstocken. Die durch den EDF ermöglichten Rüstungsanstrengungen sollten so weiter ausgebaut werden – auch in Kooperation mit amerikanischen Unternehmen. So könnten die in Washington gehegten Befürchtungen entkräftet werden, dass Europa bei der Auftragsvergabe die USA diskriminiert, die Fähigkeiten der USA dupliziert und sich damit sicherheitspolitisch von der Schutzmacht emanzipieren will. Sie werden bereits seit Ende der 1990er Jahre in Washington gehegt und haben durch die verstärkte europäische Zusammenarbeit in Verteidigungsfragen seit 2017 zugenommen.
Gleichwohl könnten die Europäer auch in Sicherheitsfragen selbstbewusster auftreten, indem sie den Verantwortlichen in Washington aufzeigen, dass sich die USA seit Jahrzehnten nur deshalb ihre exorbitante Rüstung haben leisten können, weil ausländische Kreditgeber bereit gewesen sind, die zunehmende Verschuldung privater und staatlicher Haushalte in den USA zu finanzieren. Über lange Zeit waren dies vor allem China und Japan, seit der Finanzkrise 2007/2008 vermehrt auch die Golf- und EU-Staaten. Im Jahr 2018 betrug die Netto-Kapitalbilanz der USA 3,235 Milliarden Dollar. Obwohl die Kapitalbilanz von 2000 bis 2018 stark schwankte, ist der Kapitalfluss in die USA tendenziell weiter gestiegen.
Trumps „Milchjungenrechnung“
Vor dem Hintergrund dieser umfassenderen volkswirtschaftlichen Betrachtung gleicht Trumps Kritik am Außenhandelsüberschuss Deutschlands und an der mangelnden Bereitschaft, mehr Geld – konkret das Nato-Ziel von zwei Prozent der Wirtschaftsleistung – für (amerikanische) Rüstung auszugeben, einer „Milchjungenrechnung“.
Trump hat zwar Recht, wenn er sagt, dass Europa mehr in die USA exportiert als umgekehrt. Doch das amerikanische Außenhandelsdefizit entsteht nicht, weil Europa die USA übervorteilt, sondern aufgrund von makroökonomischen Faktoren. So haben die USA einen großen Binnenmarkt mit einer wachsenden Bevölkerung. Exporte spielen daher eine geringere Rolle als bei den europäischen Staaten. Hinzu kommt, dass die hohen Binnenkonsumausgaben kreditfinanziert sind. Amerikas mangelnde Sparquote und seine exorbitante Verschuldung von knapp 22 Billionen Dollar, das sind rund 79 Prozent seiner gesamten Wirtschaftsleistung (BIP), werden dazu führen, dass die USA auf absehbare Zeit ein Handelsdefizit haben werden (siehe Abbildung 2: Staatsverschuldung der USA).
Abbildung 2: Jährliche US-Staatsverschuldung
Gefahr für die Weltwirtschaft
Gleichwohl können die makroökonomischen Ungleichgewichte zu einem weltwirtschaftlichen Problem werden. Dies wurde bereits bei der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise 2007/2008 deutlich. Ungleichgewichte werden nicht durch Zölle und Abkoppelungen von Wertschöpfungsketten verringert, sondern durch langfristige, strukturelle Anpassungsprozesse: Überschussländer sollten weniger sparen, also mehr konsumieren. Defizitländer hingegen sollten mehr sparen.
Deutschland hat bereits die Binnennachfrage erhöht. Hierzu hat vor allem der private Konsum beigetragen. Trotzdem kann es durch weitere Investitionen (vor allem im digitalen Bereich) und eine Öffnung des Dienstleistungssektors mehr tun, um den Leistungsbilanzüberschuss abzubauen – auch im Interesse der europäischen Partner.
Ungleichgewichte werden durch langfristige, strukturelle Anpassungen verringert
Bei sinkender Fremdfinanzierung würde sich der Druck auf die USA erhöhen, besser zu haushalten. Denn es sind auch Defizitländer wie die USA, die durch ihr riskantes Finanzgebaren makroökonomische Ungleichgewichte befördern: 2007/2008 haben sie unter anderem damit die Weltwirtschaft kurz vor den Kollaps geführt, auch viele europäische Anleger um ihre Vermögen gebracht und die Eurozone in eine Krise gestürzt.
Da das Zwillingsdefizit (Haushalts- und Handelsdefizit) der USA auch eine Folge der Dollar-Dominanz ist, sollten Maßnahmen ergriffen werden, um die strukturelle Überbewertung des Dollars zu verringern. Zusammen mit Frankreich und als Kooperationsanreiz für China könnte die Bundesregierung auf der Ebene der G7 und G20 dafür werben, dass die Wechselkursschwankungen reduziert werden, indem die Sonderziehungsrechte des Internationalen Währungsfonds (IWF) zu einer supranationalen Reservewährung ausgebaut werden. Dann könnten auch Trump und seine Wirtschaftsberater nicht mehr sagen, dass ein zu starker Dollar Amerika schade.
Es ist das Gebot der Stunde, Europas politische Einheit und damit auch den Wirtschafts- und Währungsraum im globalen geoökonomischen Wettbewerb zu stärken. Damit wird auch verhindert, dass die erneut anschwellenden makroökonomischen Ungleichgewichte wieder durch einen größeren Schock korrigiert werden – der das nächste Mal nicht mehr mit dem Geldsegen der Notenbanken aufgefangen werden kann.