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24. Juli 2023

Fünf Punkte, die Kritiker des Tunesien-Abkommens übersehen

Der scheidende Ministerpräsident Mark Rutte, die Präsidentin der Europäischen Kommission Ursela Von der Leyen und die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni bei einem Treffen mit dem tunesischen Präsidenten Kais Saied. Während des Besuchs wird ein Migrationsabkommen zwischen der Europäischen Union und Tunesien erörtert.
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Viele sind empört, dass die Europäische Union mit Tunis zusammenarbeitet, um illegale Migration übers Mittelmeer einzuschränken. Zu Unrecht.

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Das EU-Tunesien-Abkommen steht unter massiver Kritik: Tunesien erledige die Drecksarbeit für Europa. Die EU trete ihre Werte mit Füßen, sie kollaboriere mit dem Autokraten Kais Saied, der Migranten in der Wüste aussetzt und die Demokratie aushöhlt. Sie mache sich abhängig, nur um Migranten abzuwehren.

Welch eine Empörung. Aber die Kritik übersieht fünf wesentliche Punkte.

Erstens: Die traurige Wahrheit ist, dass wir keine guten Alternativen haben. Die Geografie bestimmt unsere Nachbarn und Partner. Es wird immer schwieriger, eine zuverlässige liberale Demokratie mit anständiger Bilanz beim Menschenrechtsschutz an den EU-Außengrenzen zu finden.

Natürlich ist Kritik an Tunesiens Umgang mit Migranten und Flüchtlingen gerechtfertigt und notwendig. Aber ein Abkommen mit anderen Nachbarn wäre kaum besser. Mit wem sollte die Zusammenarbeit ausgeweitet werden – etwa mit libyschen Milizen oder mit dem ägyptischen Diktator? Tunesien ist die am wenigsten schlechte Option für Europa. Wenn weniger Boote in Tunesien ablegen, könnte sich das Sterben im Mittelmeer überproportional reduzieren, denn die zentrale Mittelmeerroute ist mit über hundert Kilometern die längste und gefährlichste der Routen.



Zweitens: Viele Kritiker blenden Migrationsrealitäten in Nordafrika aus. Es herrscht große Empörung in Artikeln und Kommentaren in den sozialen Medien, die darauf hinweisen, dass Tunesien unregulierte Abschiebungen in die Wüste durchführt. Nicht erwähnt wird, dass Marokko, Libyen und Algerien dasselbe tun, und zwar seit Langem. Viele Medien in Deutschland und international zeigen mit dem Finger auf die tunesische Praxis, die Migrantenrechte und die Rechte der Nachbarländer missachtet. Aber kaum jemand weist darauf hin, dass diese Praxis in der Region weitverbreitet und dokumentiert ist.

Einige Kritiker stellen Tunesien als Handlanger ohne eigenen Handlungsspielraum dar. Das ist die dritte Fehleinschätzung. Das Land reagiert nicht nur auf Anreize oder Druck von der EU. Tunesien hat ein Eigeninteresse daran, seine Grenzen zu kontrollieren und gegen gefährliche Bootsüberfahrten vorzugehen. Nicht nur, weil Tunesien wie jeder Staat gern Kontrolle über sein Hoheitsgebiet hat, sondern auch, weil jede fünfte irregulär in Europa ankommende Person ein tunesischer Staatsbürger ist.



Tunesien macht also nicht nur die Drecksarbeit der EU, wie Kritiker es verkürzt darstellen, sondern handelt eigenständig. Die Tendenz, Partnerländern die Handlungsfähigkeit abzusprechen und sie als Marionetten Europas zu sehen, ist besonders bei Kritikern verbreitet, die gegen koloniale Attitüden wettern, diese aber ironischerweise selbst zeigen.

Viertens: Kritiker verwechseln Macht mit Hebeln. Tunesien mag weniger wirtschaftliche und politische Macht haben als die EU, doch es verfügt über Verhandlungshebel. Kaum eine kritische Stimme weist darauf hin, dass die EU eines ihrer größten Migrationsziele in Tunesien offenbar nicht erreicht hat: das Land zur Rücknahme von Migranten zu bewegen, die keine tunesischen Staatsbürger sind.

Diese Forderung war seit Jahren ein Grund dafür, dass die Verhandlungen eines Rückübernahmeabkommens stagnierten, denn die tunesische Regierung (unterstützt von tunesischer und europäischer Zivilgesellschaft) wehrt sich seit Jahren dagegen. Sie scheint dies auch in diesen Verhandlungen effektiv getan zu haben. Tunesien spielt seine Karten gut aus.



Fünftens schließlich sollte das Etikett auf diesem Abkommen nicht nur »Migration« lauten, sondern auch »Geopolitik« und »Systemkonkurrenz«. Europa hat ein Interesse daran, Tunesien zu unterstützen, das als einzige Demokratie in Nordafrika die verbliebene Hoffnung des Arabischen Frühlings ist. Die knappe Milliarde Euro, die die EU in Tunesien investieren will, erklärt sich daher nicht nur durch Migrationsinteressen, sondern auch durch geopolitische Ziele.

Kritik am Abkommen mit Tunesien (und weiteren seiner Art, die folgen werden) ist nötig. Aber sie wird glaubwürdiger, wenn sie sich den unbequemen Wahrheiten stellt, anstatt in einer Abwehrhaltung zu verharren. Die EU muss das Beste aus dem Dilemma der Migrationskooperation machen. Der Ansatz gemeinsamer Migrationssteuerung und Abkommen mit unseren Nachbarn ist trotz aller Schwächen der richtige. Aber die Ausgestaltung muss habhaft und transparenter sein als der phrasenhafte Text. Der Schutz von Menschen sollte kein nachgeschobener, sondern zentraler Gedanke sein. Es muss klar sein, welche Summe in welches Ziel fließt.

Egal, wie empört wir sind, wir sollten uns eingestehen: Wir hängen von unseren Nachbarn ab. Mit oder ohne Abkommen.

Bibliografische Angaben

Rietig, Victoria. “Fünf Punkte, die Kritiker des Tunesien-Abkommens übersehen.” July 2023.

Dieser Text ist am 22. Juli 2023 als Gastbeitrag auf Spiegel.de erschienen

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