Die 27 Regierungen, die in der EU verbleiben, wollten bei den Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag der Römischen Verträge am 25. März ein weithin sichtbares Zeichen setzen, dass ein neues Kapitel in der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik beginnt. Der Startschuss für diese Bemühungen war die neue EU-Globalstrategie vom Sommer 2016. Ihre Rhetorik ist beindruckend: von strategischer Autonomie ist die Rede, permanente Kooperationsstrukturen und ein gemeinsamer Rüstungssektor sollen für den Schutz der EU-Bürger sorgen. Eine eigene europäische Antwort ist sinnvoll, angesichts des sich schnell und gewaltvoll verändernden Sicherheitsumfelds, von Russland bis zum IS, und umso dringender mit Blick auf die Unsicherheiten über die zukünftige Rolle der NATO, die Effekte des Brexit und die Unberechenbarkeit einer bislang erratisch handelnden US Regierung. Klar ist: Europa muss mehr tun – und die EU soll nach dem Willen ihrer Mitglieder das Zentrum dieser Bemühungen sein.
Die EU steht sich selbst im Weg
Eine schwindelerregende Anzahl an Maßnahmen und Akronymen dominieren seitdem die Debatten, darunter Kooperationen unter EU und NATO, ein gemeinsames EU-Hauptquartier und eine militärische Kerngruppe, die die Verteidigungskooperation vorantreibt. Doch je mehr es um die Umsetzung der starken Verteidigungsrhetorik geht, um so mehr konzentriert sich die EU wieder einmal auf die kleinsten vorhandenen Stellrädchen, wie etwa eine Planungszelle für Trainingsmissionen, was wenig mit militärischen Einsätzen zu tun hat. Oder man versucht sich an alten Projekten, die bis heute unausgereift sind, wie die „Ständige Strukturierte Zusammenarbeit“ – eine Art Eurozone für Verteidigung.
In erster Line entwickeln die EU-Staaten und Institutionen die Lösungsvorschläge für politische Probleme entlang ihrer institutionellen Zuständigkeiten und Grenzen: Auch Deutschland denkt bei Europäischer Sicherheit und Verteidigung vor allem an den Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) der EU. Doch die Sicherheit Europas hängt schon lange nicht mehr von Kleinstoperationen der GSVP in Afrika ab.
Der notwendige umfassende Ansatz für Sicherheit und Verteidigung scheitert weiterhin an Zuständigkeitskämpfen. Denn in der EU sprechen sich die Europäische Kommission und die GSVP viel zu wenig ab. Die Kommission könnte mit ihren Ressourcen viel bewirken, wäre aber noch effektiver, wenn sie ihre Kräfte zusammen mit denen der GSVP bündeln würden, die z. B. Sicherheitskräfte ausbilden kann. Da es mit diesen Absprachen immer noch hapert, schafft es die EU nicht, ihr enormes Potenzial in der Sicherheitspolitik zu nutzen. Die Hauptverantwortung dafür tragen die Regierungen der EU-Mitglieder. Denn sie geben der Außenbeauftragten der EU nicht genug Kompetenzen, um selbst zu entscheiden. Gleichzeitig schaffen sie es kaum, sich auf einen gemeinsamen Nenner zu einigen, so gibt es z. B. trotz großer Rhetorik immer noch keine Avantgarde-Gruppen, die besonders eng zusammenarbeiten, obwohl es bereits seit dem Vertrag von Lissabon 2009 möglich wäre. Doch die Verantwortung wird gerne auf die Außenbeauftragte abgeschoben, wenn es bei der Umsetzung nicht voran geht.
Über Stärke und Verantwortung sprechen reicht nicht aus
Jenseits aller gut gemeinter Rhetorik und der Verweise auf laufende Prozesse, die man beim EU-Gipfel hören wird, zählt beim Thema Verteidigung hauptsächlich eines: die tatsächlich vorhandenen militärischen Fähigkeiten. Worte über Stärke und Verantwortung beeindrucken weder Moskau noch Washington. Schlimmer noch: sie reichen nicht, um eigenständig die Sicherheit Europas zu garantieren. Militärische Fähigkeiten kann man nicht herbeireden – man muss sie schaffen und erhalten. Die Europäer müssen zudem glaubwürdig vermitteln, dass sie sie auch einsetzen werden. Insofern ist das Spiel der EU mit dem Verteidigungsbegriff ein Spiel mit dem Feuer, besonders da die EU-Globalstrategie von Verteidigungsrhetorik durchzogen ist. Wenn die EU nicht liefert, dann diskreditiert sie damit auch weitere Versuche in diesem Bereich, verliert an Glaubwürdigkeit nach außen und innen, und fordert im schlimmsten Fall andere Akteure wie den IS oder Russland heraus, die militärische Schwäche und rhetorische Übersteigerung auszunutzen, um die EU zu attackieren.
Deshalb sollten die Europäer den EU-Gipfel nutzen, eine ernsthafte Initiative für die Sicherheit Europas zu vereinbaren. Immerhin ist das Thema Sicherheit und Verteidigung bei den Staats- und Regierungschefs richtig aufgehoben. Es ist kein Thema, das Außen-, Verteidigungs- oder Innenministerien allein bearbeiten könnten. Zu umfassend sind die Herausforderungen, zu begrenzt die Zuständigkeiten eines einzigen Ministeriums.
Weil die EU aber über die nächsten Monate u. a. durch den Brexit und Wahlen in wichtigen Mitgliedsstaaten wie Deutschland und Frankreich wenig entscheiden dürfte, könnte sie die nächsten Schritte erst 2018 machen. Deshalb sollten die EU-Staaten den Weg bis 2018 durch eigene Initiativen vorbereiten.
Paris und Berlin als treibende Kräfte
Berlin hat sich sehr deutlich zur militärischen Dimension der EU bekannt. Gemeinsam mit Paris hat es vielbeachtete Vorschläge zur Verteidigungspolitik in der EU gemacht. Emmanuel Macron, einer der aussichtsreichen Kandidaten auf die Präsidentschaft, betont die Notwendigkeit der deutsch-französischen Zusammenarbeit, gerade im Verteidigungsbereich. Zusammen machen Deutschland und Frankreich ca. 40% der Kapazitäten in Verteidigung und Rüstung in der EU aus. Deshalb müssen beide nach den Präsidentschaftswahlen in Frankreich ein Zeichen setzen, dass es mit diesem Thema weitergeht in der EU – und wie. Ein gemeinsames Verteidigungsprogramm für die nächste Dekade in den Bereichen Einsätze, Beschaffung, Fähigkeiten und Terrorismusbekämpfung, das zudem mit ca. 40 Mrd. Euro ausgestattet sein sollte, hätte eine erhebliche Ausstrahlung – für die EU und darüber hinaus.
Eine Europa-Division
Deutschland könnte zudem den Aufbau einer europäischen Formation, einer Art Europa-Division, anstoßen und selbst beispielhaft dazu beitragen. Die Bundesrepublik hat sich mittlerweile selbst in eine Vorreiterrolle manövriert, durch ihre zahlreichen Aussagen zu mehr Verantwortung. Gleichzeitig will sie die Europäisierung der Verteidigungsstrukturen. Diese Ziele ließen sich in einem militärisch sinnvollen Beitrag mit erheblicher Signalkraft bündeln: So könnte Deutschland eine weitere Division aufstellen, ca. 20.000 Soldaten, schrittweise bis 2020, und den europäischen Partnern anbieten, sich in diesen Verband einzubringen. Gerade für die Partner, die nur noch kleine Armeen und Hauptquartiere haben ist dieses „Rahmennationenkonzept“ interessant. Es bietet ihnen das militärische Rückgrat, in das sie ihre kleinen Beiträge einbinden könnten.
Diese Initiativen bedürfen zunächst den Willen und die Tatkraft von einzelnen Staaten. Sie würden in jedem Fall die europäische Sicherheit stärken. Ob sie auch die Verteidigungsrhetorik der EU Realität werden lassen, indem sie in die EU integriert werden, sollten die EU und ihre Mitglieder dringend klären. Sonst schaden sie mit ihrer Unentschlossenheit weiterhin dem europäischen Projekt.