Integrationsbefürworter halten den Aachener Vertrag für zu wenig ambitioniert und sehen darin ein Kommunikationsmanöver von zwei angeschlagenen Staats- und Regierungschefs. Für EU-Gegner hingegen geht der Vertrag viel zu weit und verletzt die nationale Souveränität beider Länder. Von diesen Verkrampfungen zeugte die absurde, von Marine Le Pen und Rechtspopulisten befeuerte Diskussion, dass der Vertrag Elsass-Lothringen an Deutschland ausliefere.
Weit entfernt von solcher Kritik oder gar Verschwörungstheorien ist der Vertrag zu begrüßen. Sein Hauptverdienst ist es, pragmatisch auf europäische Blockaden zu reagieren und somit Hoffnung in angespannten Zeiten zu vermitteln.
Zuerst einmal bietet der deutsch-französische Vertrag einen neuen Ansatz für die europäische Integration. Die Bildung von Koalitionen von Neinsagern untergräbt das traditionelle Paradigma der europäischen Integration auf staatlicher Ebene. Dazu zählen die Visegrád-Staaten bei Migrations- und Asylfragen sowie die „Hanseatische Liga“ aus zwölf vorwiegend nordeuropäischen EU-Mitgliedstaaten gegen mehr Risikoaufteilung in der Währungsunion. Die Vertiefung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, wie der Vertrag sie vorsieht, ist eine rationale Antwort auf den Zuwachs an innereuropäischen Blockaden. Damit wird es einfacher, auf die Alltagsprobleme der Bürgerinnen und Bürger in den Grenzregionen einzugehen – sei es bei der Ausbildung, der Arbeitssuche oder der Rente. Außerdem kann damit die Rolle der deutsch-französischen Zusammenarbeit als Labor europäischer Integration wiederbelebt werden. Dies kommt nicht nur den Bürgern an der deutsch-französischen Grenze zu Gute, sondern auch den 150 Millionen anderen Bürgern, die in EU-Grenzregionen leben und in Zukunft davon inspiriert werden könnten.
Zweitens liegt die Stärke des Aachener Vertrags darin, dem europäischen Zeitgeist zu widersprechen. In weiten Teilen der Europäischen Union nehmen nationale Egoismen zu, die zu Spannungen und Blockaden führen. Integrationsbestrebungen werden damit behindert und der Zusammenhalt der Europäischen Union gar bedroht. Vor diesem Hintergrund setzen Paris und Berlin auf die Stärkung ihrer bilateralen Zusammenarbeit, und damit auf mehr Integration. Sie hätten ein Abkommen abschließen können, haben sich aber für einen völkerrechtlichen Vertrag entschieden, der eine höhere Verbindlichkeit mit sich bringt.
Aus dieser Sicht verkörpert der Vertrag ein Symbol. Ausgerechnet in einer Zeit, in der die EU eine schwerwiegende Legitimitätskrise durchläuft und heftigen Angriffen ausgesetzt ist – von außen wie von innen –, steht er für Kooperation, Integration und multilaterales Handeln. Der Vertrag bietet so ein Gegengewicht sowohl zum Brexit als auch zum nationalistischen und populistischen Trend, der sich im Vorfeld der Europawahl im Mai 2019 abzeichnet. Das Bekenntnis zur europäischen Zusammenarbeit, das der neue Freundschaftsvertrag beinhaltet, ist alles andere als selbstverständlich. Deswegen ist die Bedeutung eines solchen Symbols nicht zu unterschätzen.
Nicht zuletzt zielt der Aachener Vertrag darauf, die deutsch-französischen Abstimmungsprozesse transparenter und wirksamer zu machen. In der Kontinuität des Élysée-Vertrages von 1963 sollen neue Mechanismen bei der Annäherung der zwei politischen Kulturen in strategischen Bereichen wie Wirtschaft und Verteidigung helfen. Die gleiche Logik gilt für das neue deutsch-französische Parlamentsabkommen, das der Bundestag und die Assemblée nationale in den nächsten Wochen abschließen werden. Es ermutigt unter anderem die Ausschüsse der beiden Parlamente dazu, sich über Themen von beiderseitigem Interesse auszutauschen und sich bei der Umsetzung von europäischen Richtlinien eng abzustimmen. Das klingt nicht spektakulär, ist aber von zentraler Bedeutung, um das gegenseitige Verständnis zu verbessern und somit hartnäckige Missverständnisse zu überwinden.
Bei aller Hoffnung und Optimismus: Der Aachener Vertrag schafft lediglich Instrumente. Was sie bewirken können hängt in erster Linie davon ab, wie sie umgesetzt werden. Ein starker politischer Wille ist dabei unabdingbar. Nichts wäre schlimmer, als ein Symbol zu schaffen, dem keine Taten folgen.