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06. Nov. 2023

Dreckige Drittstaaten-Deals und saubere Zusammenarbeit: Aus dem Dilemma der Migrationskooperation das Beste machen

Kapitel aus dem Buch "Flucht - Ursachen bekämpfen, Flüchtlinge schützen"
Pournara Flüchtlingslager in Zypern
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Der EU-Türkei-Deal ist der wohl bekannteste Drittstaatendeal in Deutschland. Die Kritik an ihm ist umfassend: Er begünstigt Menschenrechtsverletzungen. Er ist teuer. Er ist dysfunktional. Er verrät die europäischen Werte. Und doch gibt es ihn seit 2016. Warum sind solche Deals trotz der vielen Nachteile so langlebig? Welche Arten von Drittstaaten-Deals gibt es und welche Gefahren bergen sie? Warum gibt es immer mehr von diesen Deals? Und wie sollten wir mit ihnen umgehen?

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Die Grundlagen sind einfach. Drittstaaten-Deals sind Vereinbarungen mit nicht-europäischen Staaten mit dem Ziel, Migrationsströme zu steuern oder zu verringern. Die teilnehmenden Staaten schneidern diese Vereinbarungen grob gesagt nach zwei Mustern: Entweder so, dass weniger Menschen irregulär an europäischen Grenzen ankommen. Hier ist das Ziel also die Migrationsreduktion lange vor den eigenen Grenzen. Oder so, dass die Verantwortung für die Schutzprüfung nicht (nur) in oder bei Europäischen Ländern liegt. Hier ist das Ziel, die Verantwortung zu verlagern.

Bekannte Beispiele für das erste Modell sind der EU-Türkei-Deal, die Kooperation Italiens mit Libyens Küstenwache, die Spanisch-Marokkanische Grenzzusammenarbeit – all diese Kooperationen gibt es seit Jahren. Neuer und weniger bekannt, aber genauso gestrickt, ist auch eine Vereinbarung innerhalb Europas, nämlich zwischen England und Frankreich. Das Vereinigte Königreich ist seit dem Brexit ein Drittstaat und tut nun das, was sonst die EU und seine Mitgliedstaaten tun: Es bezahlt einem anderen Land großzügige Summen in der Hoffnung, die Ankünfte im eigenen Land zu verringern. Im Sommer 2021 kündigte England an, Frankreich mehr als 70 Millionen Euro für Sicherheitskräfte und Ausrüstung bezahlen zu wollen, um die irreguläre Migration über den Ärmelkanal zu reduzieren. Nach Medienberichten erfolgte die Auszahlung jedoch nicht, während die Zahl der Menschen, die in kleinen Booten an Englands Küste ankommen, stetig stieg.

Die zweite Art Drittstaatendeal, bei dem europäische Länder die Verantwortung für die Schutzfeststellung auf andere Staaten verlagern, indem Asylprüfungen außerhalb Europas durchgeführt werden (im Englischen: external, extraterritorial oder auch offshore processing genannt) oder die Asylprüfung sogar ganz an ein anderes Land abgegeben wird, bringt ebenfalls weit bekannte und kritisierte Beispiele hervor. Ein aktueller Fall ist die Vereinbarung zwischen dem Vereinigten Königreich und Ruanda. Im April 2022 kündigte die britische Regierung an, irregulär in England ankommende Asylbewerberinnen und Asylbewerber in das mehr als 4.000 Kilometer entfernte Ruanda zu schicken und dem zentralafrikanischen Land im Gegenzug 120 Millionen Pfund bezahlen zu wollen. Die Opposition bezeichnete den Plan als unethisch und unpraktisch und UNHCR warnte vor drohenden Menschenrechtsverletzungen. Diese Kritik deckt sich mit der an früheren Politiken dieser Art, die mittlerweile eingestellt sind, wie etwa Australiens „Pazifische Lösung“, bei der ab Anfang der 2000er mit dem Boot Ankommende zur Schutzprüfung auf die Inselstaaten Nauru und Manus sowie nach Papua Neu Guinea geschickt wurden. Aber auch Israels Initiative, die ab dem Jahr 2013 Asylsuchende vor die Wahl stellte, ob sie lieber in einem Lager in der Wüste Negev inhaftiert oder nach Ruanda geschickt werden wollen, um dort Asyl zu beantragen (was sie dann dort doch nicht durften).

All diese Drittstaaten-Deals sind auf die teilnehmenden Staaten maßgeschneidert und unterscheiden sich in ihren Details, aber sie haben vier zentrale Gemeinsamkeiten.

Erstens bergen sie große Gefahren für die Rechte von Migrantinnen und Migranten.

Einige sitzen in einem Drittstaat fest, der vielleicht als sicher deklariert ist, aber es de facto vielleicht nicht oder nur eingeschränkt ist. Andere sind inhaftiert oder haftähnlich untergebracht, wo sie bis zu ihrem unfreiwilligen Weitertransport (oder gar bis zum Abschluss ihrer Schutzprüfung und darüber hinaus) eingesperrt sind. Die Zentren auf den pazifischen Inseln machten jahrelang Schlagzeilen unter anderem wegen ihrer unzureichenden Gesundheitsversorgung, aber auch weil Kinder mit ihren Familien teils jahrelang eingesperrt waren und oftmals kein Ende der Haft absehbar war. Der Vorwurf des rechtsfreien Raumes ist in solchen Fällen berechtigt.

Zweitens sind Drittstaaten-Deals oft informell, nicht vollumfänglich öffentlich und vage. Es sind meist inoffizielle Vereinbarungen oder Erklärungen, aber keine rechtlich bindenden Verträge oder Abkommen. Daher kommt auch die saloppe Bezeichnung „Deal“, die diesen informellen Charakter betont – der offizielle Name „EU-Türkei-Erklärung“ rollt schwerfälliger von der Zunge. Zudem sind die Vereinbarungen oft so schwammig formuliert, dass, selbst wenn ihre Details öffentlich sind, der Informationsgehalt gering ist. Das Informelle der Vereinbarungen macht es schwerer, ihre Umsetzung zu kontrollieren. Beispielsweise hat das EU-Parlament keinerlei Kontrolle über den EU-Türkei-Deal, da er kein EU-Instrument ist, sondern lediglich eine lose Erklärung einzelner EU-Mitgliedstaaten mit der Türkei, die jederzeit ohne rechtliche Folgen gebrochen werden kann.

Der dritte Fakt, der allen Drittstaaten-Deals gemeinsam ist: Sie haben oft einen geringen numerischen, aber einen hohen abschreckenden Effekt. Besonders bei den beschriebenen Deals, die eine Asylprüfung außerhalb Europas vorsehen, ist die Zahl der tatsächlich betroffenen Migrantinnen und Migranten gering. Australien schickte zwischen 2013 und 2021 etwa 3.100 Menschen nach Nauru und Papua-Neuguinea. Das Vereinigte Königreich versuchte gut hundert Menschen in den Flieger nach Ruanda zu setzen, doch die Zahl schrumpfte am Ende auf sieben – bevor der symbolträchtige erste Flug dann nach einem aufschiebenden Gerichtsurteil ganz unterblieb. Umso größer ist aber der PR-Effekt. Die Ankündigung von Drittstaaten-Deals garantiert Presseaufmerksamkeit. Je länger Medien die Deals in den Schlagzeilen halten und je kritischer sie im Blick auf die Menschenrechte beurteilt werden, umso wahrscheinlicher ist, dass diese Nachrichten potenzielle neue Migrantinnen und Migranten erreicht und diese (so die Hoffnung der Regierungen) daraufhin ihr anvisiertes Zielland ändern. Inwiefern dies tatsächlich der Fall ist, ist allerdings nicht geklärt.

Und viertens sind alle Drittstaaten-Deals teuer. Immens teuer. 70 Millionen für Frankreich, 120 Millionen für Ruanda – das Vereinigte Königreich bezahlt großzügig. Ganz zu schweigen von dem nicht abgehobenen Flieger, der die britischen Steuerzahler eine weitere halbe Million Pfund kostete. Australiens Rechnung ist noch höher. Alleine das Zentrum auf Nauru kostete zwischen 2017 und 2021 satte 1,7 Milliarden Australische Dollar. Der EU-Türkei-Deal begann mit drei Milliarden Euro, gefolgt von weiteren drei Milliarden. Das viele Geld erkauft die praktische Umsetzung der Deals, aber vor allem den politischen Willen des Drittstaats. Doch der kann mit der Zeit nachlassen.

Trotz dieser vielen Nachteile werden Drittstaaten-Deals immer häufiger. Seit Anfang des 21. Jahrhunderts greifen Staaten in ihrem Werkzeugkasten der Migrationspolitik immer öfter zu solchen Deals und versuchen, dafür andere Länder zu gewinnen. Wie die genannten Beispiele zeigen, ist dies kein europäisches Phänomen, sondern eines westlicher Zielländer. Auch die USA haben Vereinbarungen mit Mexico und Guatemala, um Migrantinnen und Migranten schon an der Südgrenze Mexikos zu stoppen und sie postwendend wieder zurückzuschicken. Diese Politiken haben zwar unter Trump zugenommen, aber Obama führte sie ein.

Woher kommt dieses wilde Wachstum von Drittstaaten-Deals? Drei Gründe spielen zusammen. Der wichtigste Grund: Die Deals funktionieren. Sie haben zwar oft keinen langfristigen, aber einen schnellen Effekt, der direkt sichtbar ist. Nach Abschluss des EU-Türkei-Deals sank die Zahl der auf den griechischen Inseln ankommenden Menschen und blieb lange ungewöhnlich niedrig. Drittstaaten-Deals sind daher für Regierungen nützlich, denn sie suggerieren Handlungsfähigkeit. Sie gehen zwar mit menschenrechtlichen und finanziellen Kosten einher, und sie funktionieren nur so lange, wie die jeweiligen Drittländer für sich einen Nutzen sehen und sie umsetzen. Aber ein kurzer und teurer Effekt ist besser als kein Effekt – so die Regierungslogik.

Der zweite Grund für die Zunahme der Deals: Sie sind nur eine weitere Spielart des weltweiten Trends der vergangenen 20 Jahre zu immer harscheren Migrationsmanagement-Werkzeugen. Das bekannteste andere Beispiel sind Mauern und Zäune – die Hälfte aller Grenzbefestigungen, die seit dem Zweiten Weltkrieg errichtet wurden, sind seit dem Jahr 2000 erbaut worden. Abschottung hat Konjunktur.

Drittens sind in den vergangenen 20 Jahren Mechanismen und Plattformen entstanden, die die globale Migrationskooperation fördern – insbesondere zwischen Ländern, die keine direkten Nachbarn oder Teil derselben Weltregion sind. Das seit 2007 tagende Global Forum on Migration and Development hat Grundlagen gelegt. Vereinbarungen wie der UN-Migrationspakt und der UN-Flüchtlingspakt haben das Prinzip von Migrationszusammenarbeit noch fester verankert. Das Resultat: Migrationskooperation ist heute mehr denn je en vogue. Sie wird von allen politischen Richtungen gefordert. Aber dieselben Mechanismen, die die Rechte von Migrantinnen und Migranten fördern sollen, erleichtern auch den Austausch und das Anbandeln mit neuen Partnern, für die diese Rechte wenig zählen.

Wie sollen wir, Deutschland und Europa, also mit den vertrackten Drittstaaten-Deals umgehen? Zwei Vorschläge: Wir sollten Positivbeispiele nutzen und gleichzeitig die Grenzen der Migrationskooperation anerkennen.

Nicht alle Drittstaaten-Deals sind dreckig oder schlecht, denn es kommt auf die Ausgestaltung an. Es gibt Positivbeispiele, die Menschen schützen und die wir nutzen sollten. In den letzten Jahren konnten wir mehrfach das Unterschlupf-Modell (safehouse processing) beobachten, bei dem akut bedrohte Menschen schnell in einem Drittland in Sicherheit gebracht werden, wo dann die Schutzprüfung stattfindet. So brachte UNHCR beispielsweise im Rahmen des Protection Transfer Arrangement (PTA) zwischen 2016 und 2018 um die 140 Menschen aus Honduras, El Salvador und Guatemala nach Costa Rica, bevor sie dann in den USA, Kanada, Australien und Uruguay umgesiedelt wurden. 2021 brachten die USA zudem tausende Afghaninnen und Afghanen in Albanien, Kosovo und Nordmazedonien unter, wo Schutzprüfungen durchgeführt wurden, bevor es weiter in die USA ging. Der historische Ursprung dieses Vorgehens ist das sogenannte Orderly Departure Program, das nach 1979 mehr als eine halbe Million Vietnamesinnen und Vietnamesen nutzten, um auf sicherem und legalem Wege in die USA einzureisen. Auch wenn jedes dieser Programme Schwächen hat und Kritik verdient – es sind doch Positivbeispiele.

Auch das Unterschlupf-Modell ist ein Drittstaatendeal, allerdings mit einem Knackpunkt: Der Wille, tatsächlich Menschen in Sicherheit zu bringen und zumindest teilweise aufzunehmen, muss bei allen beteiligten Ländern da sein. Das Modell schützt die Betroffenen nur, wenn die Aufnahme Schutzbedürftiger tatsächlich passiert, und nicht, wenn das Ziel ist, möglichst viele Menschen wegzuhalten. Und wenn die Drittstaaten tatsächlich Schutz geben können und wollen. Wenn Deutschland Partnerschaften mit Ländern eingeht, deren Regierungen schnelles Geld machen wollen und in denen schon die Interessen der eigenen Bevölkerung nicht viel gelten, dann ist es unwahrscheinlich, dass Migrantinnen und Migranten dort echten Schutz bekommen.

Im Koalitionsvertrag der Bundesregierung von 2021 steht, dass die Antragstellung von außerhalb Europas geprüft werden soll. Bei dieser Prüfung sollten das Unterschlupf-Modell und die hier beschriebenen Programme einbezogen werden.

Traurig, aber wahr, ist jedoch auch: Gute Migrationszusammenarbeit kann sichere Wege für einige Menschen herstellen, aber eben nicht für alle. Selbst wenn beim Unterschlupf-Modell ein großer Teil der Menschen Schutzstatus bekommen kann, so wird es trotzdem immer Menschen geben, deren Prüfung negativ beschieden wird und die mit Zwang in ihre Länder abgeschoben werden oder langfristig am Unterschlupf-Ort festsitzen. Selbst wenn wir eine ausgezeichnete Kooperation mit einem Drittstaat haben (legale Wege für Hoch- wie Niedrigqualifizierte, eine Kooperation, die neben Migration auch Wirtschaft, Entwicklung, Bildung und Gesundheit umfasst), wird es bei starkem Druck weiterhin zu irregulärer Migration und menschlichem Leid kommen. Es wäre aber ein Denkfehler, Migrationskooperationen abzulehnen, nur weil sie das Gesamtproblem nicht lösen.

Drittstaaten-Deals sind wie Migration selber: Sie sind nicht gut und nicht schlecht – sie können aber gute und schlechte Effekte haben, je nachdem wie klug die Regierungen sie gestalten. Drittstaaten-Deals grundlegend abzulehnen hilft daher genauso wenig wie sie als Patentrezept nutzen zu wollen, egal mit welchen Partnerländern. Stattdessen sollte von Fall zu Fall geprüft werden, ob sie unseren Werten und Gesetzen entsprechen und die gewünschten Effekte haben. Ist dies nicht der Fall, ist die wichtigste Frage: Haben wir eine bessere Alternative? Denn ohne gangbare Alternative bleiben auch schlechte Drittstaaten-Deals in Kraft.

Bibliografische Angaben

Rietig, Victoria. “Dreckige Drittstaaten-Deals und saubere Zusammenarbeit: Aus dem Dilemma der Migrationskooperation das Beste machen .” November 2023.

Das Kapitel ist erschienen in: Ralf-Uwe Beck, Klaus Töpfer und Angelika Zahrnt (Hrsg.), »Flucht. Ursachen bekämpfen, Flüchtlinge schützen«, S. 96-102.  160 Seiten, Hardcover, ISBN 978-3-96238-400-5

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