Die entscheidenden Punkte der Verfassungsreform
Die türkische Regierung stellt die angestrebte Reform als notwendigen Schritt dar, um das Land zu stabilisieren und sein politisches System zu stärken. Doch tatsächlich würde die Verfassungsänderung das System der Gewaltenteilung aushöhlen und das Parlament deutlich schwächen.
Der Staatspräsident als Spitze der Exekutive, mit Befugnissen über die Legislative
Bislang obliegen dem Staatspräsidenten vor allem repräsentative Aufgaben und die Ratifizierung von Gesetzen. Durch die Verfassungsänderung würden das Amt des Ministerpräsidenten und das Kabinett abgeschafft. Damit würde der Staatspräsident nicht nur an die Spitze der Exekutive rücken, sondern auch weitreichende Befugnisse erhalten, welche die Macht und Handlungsfähigkeit der Legislative deutlich beschneiden würden. Das Parlament würde zwar grundsätzlich gesetzgebendes Organ bleiben, doch der Staatspräsident würde das Recht erhalten, Dekrete zu erlassen, deren Gültigkeit keiner parlamentarischen Zustimmung bedürfte. Zwar sollen Grund-, Freiheits- und politische Rechte sowie ausdrücklich gesetzlich geregelte Fälle hiervon ausgenommen sein. Die Eingriffsmöglichkeiten des Staatspräsidenten in die Legislative wären nichtsdestotrotz enorm.
Verlust des parlamentarischen Interpellationsrechts
Der Staatspräsident würde das Recht erhalten, seine Stellvertreter und Minister sowie leitende Beamte eigenmächtig zu ernennen und zu entlassen, während das Parlament sein Interpellationsrecht verlieren würde. Dieses erlaubt Parlamentsabgeordneten, die Regierung durch förmliche parlamentarische Anfragen zur Erklärung einzelner Regierungsentscheidungen aufzufordern. Mit der Aufhebung dieses Rechts würde die Exekutive fast gänzlich der parlamentarischen Kontrolle entzogen.
Ämterhäufung
Der Staatspräsident bekäme das Recht, seine Parteizugehörigkeit und -ämter zu behalten. Dies würde ihm ermöglichen, gleichzeitig das Amt des Staatspräsidenten als auch des Parteivorsitzenden zu bekleiden. Als Letzterer hätte er wiederum maßgeblichen Einfluss auf Politik und Wahllisten seiner Partei und dadurch auf die Besetzung des Parlaments. Die Reform würde also dem Parlament nicht nur entscheidende Kontrollinstrumente entziehen, sondern auch seine Unabhängigkeit weiter untergraben.
Möglichkeit einer dritten Amtsperiode
Der Entwurf sieht maximal zwei fünfjährige Amtszeiten für den Staatspräsidenten vor, dessen Wahl am gleichen Tag wie die Parlamentswahlen stattfinden soll. Sollte es keine vorzeitigen Neuwahlen geben, würde der Staatspräsident demnach in seiner neuen Rolle zum ersten Mal 2019 gewählt. Recep Tayyip Erdoğan könnte also regulär bis 2029 Staatspräsident bleiben. Doch eine Gesetzeslücke im Entwurf könnte es ihm ermöglichen, ein drittes Mal als Staatspräsident zu kandidieren und somit über 2029 hinaus im Amt zu bleiben.
Weitere Eingriffe in die Unabhängigkeit der Justiz
Der Hohe Rat der Staatsanwälte und Richter soll reformiert werden. Der Rat ist für die disziplinarrechtliche Kontrolle der Gerichte und Personalentscheidungen zuständig und dadurch entscheidend für die Unabhängigkeit der Judikative. Nach dem Verfassungsentwurf soll er sich künftig aus 13 Mitgliedern zusammensetzen, von denen der Staatspräsident sechs und das Parlament sieben auswählt. Dieser entscheidende Einfluss des Staatspräsidenten auf den Rat würde dessen Souveränität deutlich gefährden.
Wie fragil die Unabhängigkeit der türkischen Justiz bereits ist, machten nicht erst die Massenversetzungen und Verhaftungswellen nach dem gescheiterten Militärputsch 2016 deutlich. Bereits Ende 2013 zeigte sich im Zuge der Korruptionsermittlungen gegen mehrere Minister und Erdoğans Sohn, dass die Unabhängigkeit der Justiz kaum den Ansprüchen einer tatsächlichen Demokratie gerecht wird. So erreichte die Regierung durch ihr Einwirken auf den Rat die Versetzung der ermittelnden Staatsanwälte und Richter und folglich die Einstellung der anhängigen Verfahren. Die Verfassungsreform würde die Untergrabung der Unabhängigkeit der Justiz nicht nur ausbauen, sondern auch konstitutionell verankern.
Selbstentmachtung des Parlaments und Unterstützung in der Bevölkerung
Die Zustimmung des Parlaments zum neuen Verfassungsentwurf im Januar 2017 mit 339 Stimmen (330 wurden benötigt) ebnete überhaupt erst den Weg für das Referendum am 16. April. Das Parlament beriet offiziell seit Anfang des Jahres über jeden der eingebrachten 18 Artikel. Bereits durch seine Zustimmung zur Aufhebung der Immunität von Abgeordneten Ende Mai 2016 hatte das Parlament entscheidend zu seiner eigenen Schwächung beigetragen.
Erdoğan genießt weiterhin einen ungebrochen starken Rückhalt unter seinen Anhängern. Ein großer Teil der Bevölkerung sehnt sich nach Sicherheit und Stabilität. Politische Instabilität, die hohe Anzahl an tödlichen Terroranschlägen der PKK und des IS sowie der versuchte Militärputsch zehren stark an der Bevölkerung. Die Regierung nutzt dies für sich, indem sie suggeriert, dass eine Rückkehr zu Stabilität und Sicherheit nur durch eine starke Führung im Rahmen des Präsidialsystems möglich sei. Mit einer ähnlichen Strategie gelang es der AKP bereits bei den letzten Parlamentswahlen im November 2015, die absolute Mehrheit wiederzugewinnen. Gleichzeitig besteht in großen Teilen der Bevölkerung auch Widerstand. Doch letztlich ist selbst bei einem Scheitern des Referendums nicht davon auszugehen, dass Erdoğan von seinem Bestreben abrücken wird, das Präsidialsystem einzuführen. Entgegen der Argumentation der Regierung würde das angestrebte System jedoch lediglich eine vermeintliche Stabilität bringen. Momentan bestehende politische Unsicherheiten würden beseitigt, doch gesellschaftliche Konflikte und die Polarisierung des Landes würden sich noch weiter zuspitzen.
Indem die Regierung zahlreiche Medienhäuser entweder schließt oder übernimmt und kritische Journalisten und Intellektuelle inhaftiert, monopolisiert sie den öffentlichen Diskurs in der Türkei und übt somit starken Einfluss auf die Meinungsbildung im Land aus. Die AKP mag das Ergebnis des Referendums als Ausdruck von Demokratie und Volkswillens verstehen. Doch ist die demokratische Legitimation eines Entscheidungsprozesses fraglich, bei dem eine einseitig bestimmte öffentliche Debatte die unabhängige Meinungsbildung enorm erschwert.
Auswirkungen auf das Verhältnis zur EU
Für die EU wird ihre Türkeipolitik damit noch mehr zur Abwägung zwischen realpolitischen Interessen und der glaubwürdigen Vertretung ihrer Werte und Normen. Wie schwierig sich die Union mit dieser Frage tut, zeigte sich bereits in der fortwährenden Debatte um das EU-Türkei-Abkommen im Jahr 2016.
Es stellt sich immer dringender die Frage, welche Instrumente der EU im Umgang mit der Türkei bleiben und wie sie diese effektiver nutzen kann. Während die Erosion demokratischer Strukturen und der rechtstaatlichen Verfasstheit der Türkei zu einer weiteren Entfremdung zwischen der Türkei und der EU führen, verstärkt die steigende Zahl türkischer Asylsuchender die Spannungen.
Die türkische Regierung wirft den europäischen Staaten vor, durch die Annahme von Asylgesuchen und die Nicht-Auslieferung vermeintlicher und tatsächlicher Unterstützer Fethullah Gülens und der PKK terroristische Gruppierungen zu unterstützen. Dabei verkennt die türkische Regierung, dass das Asylrecht vom Zufluchtsgedanken geprägt ist, und der Verfolgerstaat die Grundlage für den asylrechtlichen Schutz schafft. Die Tatsache, dass selbst Anhänger und Mitglieder der PKK, die auch in der EU als terroristische Organisation gilt, dort unter Umständen Asyl erhalten, ergibt sich aus den in der Türkei drohenden Menschenrechtsverletzungen und der mangelnden Rechtsstaatlichkeit, nicht aus der Sympathie europäischer Staaten für die betreffenden Organisationen.
Auch wenn die EU kaum die potenzielle Umwandlung des türkischen politischen Systems in ein Präsidialsystem beeinflussen kann, kann sie Anreize schaffen, die den Grad der autokratischen Ausprägung etwas eindämmen.
Die Modernisierung der Zollunion zwischen der Türkei und der EU, verknüpft mit klaren politischen Anforderungen, könnte hierbei als entscheidendes Instrument dienen. Dies gilt umso mehr, als die Türkei mit wachsenden wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen hat. Doch dafür bedarf es einer einheitlichen Linie innerhalb der EU. Diese zu finden könnte in Anbetracht der zunehmend nationalstaatlich ausgerichteten Diskurse in den Mitgliedstaaten schwierig werden.
Darüber hinaus bleibt die EU der wichtigste Handelspartner der Türkei und größter Geber ausländischer Direktinvestitionen. In Anbetracht der Tiefe der über Jahrzehnte entwickelten wirtschaftlichen Integration und der wirtschaftlichen Bedeutung der EU für die Türkei würde sich dies auch kaum ändern, falls die Türkei verstärkt mit Russland und China kooperieren oder tatsächlich der Shanghai Cooperation Organisation beitreten sollte, ungeachtet Erdoğans Rhetorik.
Gleichzeitig könnte eine Lösung des Zypernkonflikts wichtige Kanäle zwischen der EU und der Türkei öffnen. Sollte es gelingen, die Konfliktparteien an den Verhandlungstisch zurückzubringen, könnte eine Wiedervereinigung Zyperns jahrzehntelange Blockaden und Konfliktpunkte lösen und somit eine neue Dynamik in die Beziehungen zwischen der EU und der Türkei bringen, ungeachtet dessen, wie sich der Beitrittsprozess entwickelt.