Außenpolitik fängt zu Hause an, so lautet eigentlich die Regel. Nur in Deutschland ist das offenbar anders. Denn in der öffentlichen Debatte der vergangenen Jahre erschien deutsche Außen- und Sicherheitspolitik die meiste Zeit als etwas, das dem Land zustieß oder von anderen zugemutet wurde.
Blick auf den eigenen Bauchnabel
Zum Ende der Ära von Bundeskanzlerin Angela Merkel wirkt das Land erstaunlich debattenunlustig, wenn es um die Zukunft von Deutschlands Beziehungen zu den europäischen Nachbarn und dem Rest der Welt geht. Natürlich sorgen die Coronavirus-Pandemie und der bevorstehende Wahlkampf um die Merkel-Nachfolge dafür, dass sich der Blick noch fester auf den eigenen Bauchnabel fixiert. Aber die Pandemie wirft viele Fragen auf, die auch und gerade die äußeren Beziehungen betreffen. Zum Beispiel die Frage: Wie weiter mit der Europäischen Union und der Eurozone?
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, der im September 2017 seine berühmte Sorbonne-Rede zur Zukunft Europas hielt, wartet genau genommen bis heute vergeblich auf eine deutsche Entgegnung. Als die damalige CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer dann eineinhalb Jahre später in die Tasten griff und eine Leitartikel-lange Replik schrieb, vergriff sie sich so sehr im Ton, dass man in Frankreich vermutete, die Brüskierung sei beabsichtigt, um die Debatte zu ersticken. Noch später hielt Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble eine beachtenswerte Humboldt-Rede, die Macrons Initiative würdig war – die aber in Berlin niemand beachtete.
Außenpolitik als Zumutung
Der Umgang mit dem viel zitierten „2-Prozent-Ziel der NATO“ ist ein anderes Beispiel dafür, wie sehr man Fragen nach der Zukunft der deutschen Außenpolitik als Zumutung „von außen“ betrachtet. Das Verteidigungsbündnis beschloss in Reaktion auf die Annexion der Krim durch Wladimir Putins Russland im Jahr 2014: Binnen zehn Jahren sollten alle Mitglieder mindestens zwei Prozent ihres Bruttoinlandproduktes für Sicherheit und Verteidigung ausgeben.
„Mag ja sein, dass das Sozialdemokraten mitbeschlossen haben“, sagte der langjährige SPD-Vorsitzende und zeitweilige Außenminister Sigmar Gabriel einmal. „Trotzdem ist es Blödsinn.“ So denken offenbar immer noch viele in der schwarz-roten Regierung. Laut aktueller Finanzplanung wird die Bundesrepublik das Ziel nicht erreichten. Für die Bündnispartner wirft das Fragen auf: Ist Berlin noch bündnisfähig? Und wie will es sonst den so oft bekundeten Willen, in Europas Nachbarschaft mehr für Stabilität und Sicherheit zu leisten, denn dann umsetzen?
Verhältnis zu Russland und China?
Wie in Zukunft Deutschlands so wichtiges Verhältnis mit den Vereinigten Staaten aussehen soll, oder auch das mit Putins Russland, das sich gerade anschickt, den Nachbarn Ukraine, aber auch den Westen insgesamt einmal mehr militärisch unter Druck zu setzen – all das sind zum Ende der Merkel-Ära unendlich weit offene Fragen, die die nächste Bundesregierung wird beantworten müssen.
Die Parteien, die sie bilden wollen, täten gut daran, den Wahlkampf für grundlegende Debatten zu nutzen jenseits von Floskeln wie „mehr Europa“ oder der Beschwörung „europäischer Lösungen“ für dies und das. Welche Rolle soll Deutschland in der Welt spielen, wenn das Modell, im Schutz des transatlantischen Bündnisses den Exportweltmeister zu spielen, offenkundig an seine Grenzen stößt?
Soll Deutschland gemeinsam mit Macron an der Vertiefung der EU und insbesondere der Eurozone arbeiten? Viele EU-Partner erwarten von Deutschland mehr Bewegung in Sachen Eurobonds, also die gemeinsame Schuldenaufnahme zur Finanzierung des Wiederaufbauprogramms; die meisten Ökonomen halten das für unausweichlich. Kann es dabeibleiben, dass Berlin auch nach September bei diesen Fragen auf der Bremse steht?
Und die größte geopolitische Frage überhaupt: Wie soll Deutschland, auf nationaler und auf europäischer Ebene, der Herausforderung durch die Techno-Diktatur Chinas begegnen, die die Welt in ihrem Sinne formen will – was Europas Werten und politischer Identität diametral entgegenliefe? Er erwarte nicht, dass es im Wahlkampf eine große Auseinandersetzung über die Außenpolitik geben werde, sagte Armin Laschet im Februar. Bleibt zu hoffen, dass er sich da gründlich geirrt hat.