Policy Brief

05. Aug. 2022

Chinas fehlende globale Vision

Über ein Vakuum, das Chancen und Herausforderungen für Europa bietet
Xi-Jingping-UN-General-Assembly_REUTERS_Mary-Altaffer_Pool

China strebt nach einer neuen globalen Ordnung. Doch während die Führung im Land nationale Souveränität und einen starken Staat als ordnungspolitische Ziele propagiert, folgt ihr Handeln nicht dieser Rhetorik. Einige Fragen sorgen für Unklarheit: Wie stark prägt die Integration der Volksrepublik in die Weltwirtschaft ihr Handeln? Versucht sie, unter dem Diktum nationaler Souveränität imperiale Machtansprüche durchzusetzen? Will die EU von diesem Vakuum profitieren, muss sie verstehen, woher es kommt.

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FAZIT
Obwohl das Selbstbewusstsein der chinesischen Führung angesichts zunehmender Macht wächst, ist die Außenpolitik des Parteistaats von seiner innenpolitischen Verletzbarkeit geprägt.
Die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) sieht sich mit einer Vielzahl an Krisen konfrontiert, die die eigene Legitimität untergraben. Ein Defizit, das die Führung im Land mit Nationalismus und Außenwirtschaftspolitik zu minimieren versucht.
Viele parteistaatliche Institutionen prägen die Außenpolitik Chinas. Rhetorisch sprechen sie alle die Sprache des starken Staates, verfolgen aber sehr verschiedene Eigeninteressen.
Da China eine außenpolitische Vision fehlt, untergräbt es das Vertrauen in internationale Institutionen. Um dem entgegenzuwirken, muss Europa die interne Spaltung des Landes verstehen.

 

Um ihren globalen Führungsanspruch zu untermauern, muss eine Weltmacht eine klare ordnungspolitische Vision entwerfen, die zudem von der Staatengemeinschaft geteilt wird. Dies hilft, Transaktionskosten zu senken, da sich andere Länder freiwillig an die Interessen und Arbeitsweisen des Hegemons anpassen, die nicht mehr nur als Partikularinteressen, sondern auch als Interessen der gesamten Gemeinschaft angesehen werden. Aufstrebende Mächte müssen daher überzeugend darstellen, gute Absichten zu verfolgen. China verfügt zwar über enorme Machtressourcen, nicht jedoch über eine kohärente Vision. Stattdessen erschwert die undurchsichtige Entscheidungsfindung innerhalb des Parteistaats, die im Kontrast zur Transparenz der demokratischen Institutionen der USA steht, potenziellen Partnern, außenpolitische Veränderungen zu antizipieren. So erzeugt Chinas Aufstieg Unsicherheit.

Siehe auch: Warum China eine größere Bedrohung als Russland ist

 

Die chinesische Führung hat verstanden, dass sie der Welt ihre Ziele und Visionen erklären muss. Präsident Xi Jinping hat wiederholt die Ambition einer eigenen Weltordnungsvision formuliert. Im Jahr 2016 erklärte er: „Wir sind sehr zuversichtlich, dass China eine Lösung für die Suche der Menschheit nach besseren Systemen sozialen Zusammenlebens anbieten kann.“ Und auf dem letzten nationalen Kongress der KPCh im Oktober 2017 verkündete er, dass China „eine neue Option für andere Länder und Nationen bietet, die ihre Entwicklung beschleunigen und gleichzeitig ihre Unabhängigkeit bewahren wollen“. Der Verweis auf „Unabhängigkeit“ ist eine unausgesprochene Bezugnahme auf staatliche Souveränität. International wird dies als Keimzelle eines möglichen „China-Modells“ angesehen, zumal es sich um den Versuch handelt, eine Kontinuität bis in die Mao-Zeit zu ziehen, als die „Fünf Prinzipien der friedlichen Koexistenz“ in Chinas bilateralem Vertrag mit Indien 1954 die normativen Grundzüge chinesischer Außenpolitik festlegten.

Eine solche staatszentrierte Vision ist für große Teile der internationalen Gemeinschaft attraktiv. Im Verlauf der letzten drei Jahrzehnte vertiefte sich die Zusammenarbeit in internationalen Institutionen und mit Akteuren des Privatsektors. Grund dafür ist die Transnationalisierung zahlreicher Herausforderungen. Nicht nur Handels- und Finanzströme haben sich globalisiert, sondern auch Sicherheitsbedrohungen wurden zunehmend grenzüberschreitend. Klimawandel, Migration und Cyberkriminalität etwa benötigen heute globale Anstrengungen, wobei Risiken und Vorteile ungleich verteilt sind. All dies geht zu Lasten der Fähigkeit einzelner Staaten, wichtige Entscheidungen selbst zu fällen und ihre Auswirkungen umfassend zu kontrollieren. Das heißt: Staaten sind nicht mehr „Herrschaftsmonopolisten“, sondern vielmehr „Herrschaftsmanager“, die den politischen Rahmen setzen, indem eine Vielzahl an Institutionen und Akteuren internationale Politik gestalten.

 

Infobox 1: Auf dem Weg zu einem „China-Modell“?
Einzelne Staaten sind heute keineswegs irrelevant, doch sie müssen, um globale Herausforderungen anzugehen, untereinander stärker zusammenarbeiten und private Akteure einbeziehen. Dieser vom Westen angeführte Prozess der Staatstransformation – der für die meisten Entwicklungsländer nie attraktiv war – ist in eine Krise geraten, denn geopolitische Rivalitäten erschweren eine wirksame internationale Zusammenarbeit, die heute notwendiger ist als je zuvor. Dies öffnet einem ehrgeizige China die Tür. Für viele Länder ist die Idee des „China-Modells“, das die Rolle des Staates neu definiert, vielversprechend. Umfassende staatliche Kontrolle, auch über wirtschaftliche Ressourcen und Aktivitäten, die neben staatlicher Einflussnahme privates Unternehmertum zulässt, erscheint attraktiv. Auch wenn ein kohärentes „China-Modell“ bislang in der Praxis nicht (siehe unten) existiert, sind sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie politische Beobachterinnen und Beobachter darin einig, dass wenn es je existieren sollte, umfassende staatliche Kontrolle und Souveränität seine Grundlage bilden würden.

Die Kluft zwischen Chinas Rhetorik und Chinas Handeln

Zwar sehen viele Staaten Chinas rhetorisches Eintreten für Souveränität positiv. Doch gleichzeitig wächst das Bewusstsein für die Kluft, die zwischen seinen Ankündigungen und seinem Handeln existiert. Die Volksrepublik besteht zwar darauf, dass staatliche Souveränität die konstitutive Idee einer von der Volksrepublik gewünschten internationalen Ordnung sei. Ihr Vorgehen weist jedoch in eine andere Richtung. Dies zeigt das Beispiel der Ukraine. Offenkundig sind Chinas Reden über die Souveränität der Ukraine, ihr Recht auf Selbstverteidigung und den Grundsatz der territorialen Integrität nur Lippenbekenntnisse. Denn gleichzeitig erkennt China Russlands krude Sicherheitsbedenken an und erklärt, dass Russland durch die Ukraine und die Erweiterung der NATO bedroht sei. Diese Argumentation verstößt gegen das von China so häufig gepriesene Souveränitätsprinzip, denn danach hat die Ukraine das Recht ihre militärischen und politischen Bündnisse frei zu wählen.

Dieser Widerspruch tritt nicht erst seit Russlands Angriffskrieg in Erscheinung. Chinas Haltung und Implementierung von internationalen Normen und Völkerrecht weisen eine frappierende Widersprüchlichkeit auf. Ein Beispiel ist die Schutzverantwortung, die sogenannte „Responsibility to Protect“ (R2P). China stand dieser Norm, die das Prinzip humanitärer Sicherheit zu etablieren versucht, immer skeptisch gegenüber. Dennoch hat es die Schutzverantwortung nie grundsätzlich abgelehnt. Während des Libyen-Kriegs 2011 stimmte die Volksrepublik dafür, dass sich der Internationale Strafgerichtshof auf der Grundlage der R2P mit Massenverbrechen befasst. Sie legte kein Veto gegen eine Resolution ein, die es den USA und ihren Verbündeten erlaubte, zum Schutz der Zivilbevölkerung Libyens Souveränität zu verletzen und das Land zu bombardieren. Im krassen Gegensatz dazu steht Chinas Haltung im syrischen Bürgerkrieg. Seit 2012 hat China nicht weniger als zwölf Mal ein Veto im UN-Sicherheitsrat gegen Resolutionsentwürfe eingelegt, die „R2P-Sprache“ verwendeten. Keine der Resolutionsentwürfe ging so weit wie im Falle Libyens, sondern die Texte appellierten an Syrien, der eigenen Schutzverantwortung gerecht zu werden. Chinas Verhalten ist umso bemerkenswerter, wenn man bedenkt, dass die Volksrepublik in der Geschichte des UN-Sicherheitsrates insgesamt nur 16 Vetos eingelegt hat.

Ähnlich widersprüchlich ist Chinas Umsetzung seiner Verpflichtungen im Rahmen der Welthandelsorganisation (WTO). Beobachterinnen und Beobachter bezeichnen das Land mal als in hohem Maße WTO-konform, mal als einen das globale Handelssystem zersetzenden Akteur. Tatsächlich variiert Chinas Einhaltung von Welthandelsrecht gravierend – abhängig von Regelungsbereich und Wirtschaftssektor. Damit einher geht auch eine schwankende Bereitschaft, staatliche Kontrolle über die Wirtschaftsentwicklung einzuschränken. Im Bankensektor beispielsweise verstößt China gegen die Verpflichtungen, die es bei seinem Beitritt im Jahr 2001 eingegangen ist. Gleichzeitig ist Chinas Umsetzungsquote von Urteilen der WTO-Schiedsgerichtsbarkeit bemerkenswert gut.

Ähnlich widersprüchlich war Chinas Umsetzung eines bilateralen Vertrags, den die Volksrepublik 1984 mit dem Vereinigten Königreich zur Rückgabe der damaligen britischen Kronkolonie Hongkong geschlossen hatte. Im Jahr 2020 brach China eindeutig den Vertrag, als es Hongkong ein nationales Sicherheitsgesetz aufoktroyierte. Zuvor war 1997 zwar die volle und ungeteilte Souveränität über Hongkong an China übergegangen. Aber in dem völkerrechtlich bindenden Vertrag mit Großbritannien garantierte China der ehemaligen Kolonie ein „hohes Maß an Autonomie“ bis zum Jahr 2047. Ein völkerrechtlicher Vertrag schränkte damit effektiv die Anwendung von Chinas Souveränität über Hongkong für 50 Jahre ein. Bis zum Jahr 2020 übte China darüber hinaus keinen nennenswerten Druck auf Hongkong aus, ein Gesetz zur nationalen Sicherheit auszuarbeiten. Das ist bemerkenswert, da die lokale Hongkonger Regierung laut dem Grundgesetz dazu verpflichtet gewesen wäre. Zeitgleich verschloss sich die Führung in Peking allen Kompromissvorschlägen für eine Wahlrechtsreform in Hongkong, obwohl die Demokratisierung der Wahlen von Hongkongs Stadtoberhaupt im Grundgesetz als „Endziel“ der politischen Reformen versprochen worden war. Mit Blick auf die Wahlrechtsreform war die Volksrepublik nicht bereit, eigene Kontrollmöglichkeiten einzuschränken. Doch bezüglich eines nationalen Sicherheitsgesetzes verzichtete China sogar auf festgeschriebene Kontrollmöglichkeiten, bis die Volksrepublik schließlich im Jahr 2020, an den Hongkonger Behörden vorbei und im Widerspruch zu den Vereinbarungen mit den Briten, ein nationales Sicherheitsgesetz völkerrechtswidrig durchsetzte und damit Hongkongs „hohes Maß an Autonomie“ faktisch beendete.

Nicht zuletzt aufgrund dieser Widersprüche reichen die wissenschaftlichen Beschreibungen der chinesischen Außenpolitik von „aggressiv“ und „durchsetzungsfähig“ auf der einen Seite bis hin zu „konstruktiv“ und „kooperativ“ oder gar „verantwortungsvoll“ auf der anderen Seite. Ähnlich kontrovers ist, ob China eine „revisionistische“ oder eine „Status-quo-Macht“ ist. Manche Beobachterinnen und Beobachter sind sich sicher, dass China die bestehende Ordnung umkehren und die internationalen Institutionen untergraben möchte, um die eigene Macht und Souveränität zu stärken. Andere sind der Ansicht, dass China sich bereits soweit in die globalisierte Wirtschaft integriert hat, dass sich das Land aus Eigeninteresse heraus bestehende internationale Institutionen zu eigen gemacht hat – und zwar auch in den Fällen, in denen sie die Fähigkeit des Staates zur umfassenden Kontrolle der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung einschränken.

Unterschiedliche Interpretationen und Handlungsoptionen gegenüber China

Einige Beobachterinnen und Beobachter halten die genannten Mehrdeutigkeiten und Widersprüche für einen Konstruktionsfehler einer auf Souveränität basierenden globalen Ordnung. Ein US-Wissenschaftler und ehemaliger Diplomat bezeichnete diese Ordnung etwa als „organisierte Heuchelei“. Obwohl allen Länder dasselbe Recht auf Respekt und Gleichheit zustehe, neigten größere Staaten dazu, souveräner zu sein als andere, so die Argumentation. Nach Jahrzehnten der US-Vorherrschaft verspricht die Volksrepublik anderen Staaten das, was sie hören wollen. In Wirklichkeit, so lautet die Befürchtung, arbeite China längst auf eine neue Ära chinesischer imperialer Herrschaft hin. Diese Interpretation des chinesischen Verhaltens hat in letzter Zeit noch mehr Aufmerksamkeit erfahren, da es dem aggressiven Vorgehen Russlands ähnelt (siehe Infobox 2). Sollte diese Interpretation zutreffen, gibt es für Europa und den Westen kaum Möglichkeiten mit China zusammenzuarbeiten oder das chinesische Treiben zu tolerieren. Der Westen kann jedoch die Doppelmoral Chinas ausnutzen, um potenzielle Verbündete Chinas abzuwerben.

Infobox 2: Wie ethnografische Forschung hilft, China zu verstehen

Der erneute Einmarsch Russlands in die Ukraine im Februar 2022 bildet gleichzeitig den Rahmen für eine deutsche und europäische Analyse des chinesischen Vorgehens. Denn die russische Aggression hat die alte Debatte in Europa darüber verschärft, ob auch China imperialistische Bestrebungen hat und inwiefern das wirtschaftliche Engagement des Westens dem positiv entgegenwirken könnte. Die Gründe für diesen Vergleich liegen auf der Hand: Immer mehr Menschen in Deutschland sehen ein, dass die Vorstellung enge Handelsbeziehungen könnten Russland nachhaltig beeinflussen, naiv war. Gegenüber China gab es die gleiche Annahme. Derzeit deutet wenig darauf hin, dass der Handel mit China einen so substanziellen Wandel hervorgerufen hat, wie von vielen prognostiziert oder zumindest erhofft. Doch eine Änderung der Kooperationspolitik gegenüber China wird sich als sehr kostspielig erweisen.

Ein weiterer Grund für die Vergleiche zwischen Russland und China geht auf eine umfassende gemeinsame Erklärung der Präsidenten beider Staaten kurz vor Kriegsausbruch zurück. Darin vereinbaren die mächtigsten Autokratien der Welt eine umfassende Agenda für die Zusammenarbeit. China und Russland sprechen gar von „einer neuen Ära der internationalen Beziehungen“. Der kurz darauf ausgebrochene Angriffskrieg legt nahe, dass beide Länder womöglich ein neues Zeitalter des Imperialismus eingeläutet haben, in dem das Recht des Stärkeren gilt und internationale Institutionen an Bedeutung verlieren.

Angesichts der Entschlossenheit von Russland und China zeigt man sich in Europa und den USA gleichermaßen besorgt. Dabei ist weiterhin unklar, ob die Partnerschaft zwischen Russland und China so eng ist wie die gemeinsame Erklärung es vermuten lässt. Auch gibt es Zweifel daran, ob Russland wirklich mit dem zunehmend übermächtigen Nachbarn aus China, dem viele in Moskau misstrauen, umfassend zusammenarbeiten will. Auch wenn die russisch-chinesische Partnerschaft eine neoimperialistische Agenda enthält, bleibt offen, ob China bereit ist, für die Durchsetzung seiner geopolitischen Interessen dauerhaft einen ebenso hohen wirtschaftlichen Preis zu zahlen wie Russland. Anders formuliert: Wird sich China als genauso irrational erweisen wie Russland?

Diese Frage bedarf ethnografischer Forschung, denn es gilt, chinesische Außenpolitik im Kontext ihrer eigenen spezifischen Bedingungen zu verstehen. Wenn diese Außenpolitik gemäß unseren Erwartungen womöglich nicht rational erscheint, so kann sie es nach eigener Logik dennoch sein. Das Verhalten Russlands zeichnet somit nicht zwingend chinesisches Handeln vor. Außenpolitische Prozesse sind viel zu komplex, um von einer Autokratie auf die andere zu schließen.

Wer Chinas Außenpolitik und die Auswirkungen auf die Welt von morgen verstehen will, muss das institutionelle außenpolitische Entscheidungsgeflecht und die internen Debatten im Land verstehen. Dieses Ziel verfolgt der Autor des vorliegenden Policy Briefs in seinem kürzlich erschienenen Buch „Understanding China‘s Foreign Policy Contradictions“, das die Grundlage für den vorliegenden Beitrag bildet.

* http://en.kremlin.ru/supplement/5770
(abgerufen am 26. Mai 2022).

Andere Beobachterinnen und Beobachter hingegen meinen, dass die Widersprüche in Chinas Handeln vielmehr ein chinesischer Selbstbetrug seien. Die Illusion, China könne das Souveränitätsprinzip stärken, solle nur davon ablenken, dass die Volksrepublik sich einer weiteren Integration in die von den USA geführte Weltwirtschaftsordnung kaum verschließen könne. Diese Sichtweise geht davon aus, dass China seine Handlungen rational an den eigenen wirtschaftlichen Interessen ausrichtet. Würde dies zutreffen, stünden die Handlungsempfehlungen für europäische und westliche Chinapolitik der ersten Interpretation diametral entgegen. Aber wenn wirtschaftliche Rationalität handlungsleitend für China ist, dann ist wirtschaftliche Interaktion das effektivste Instrument, um Chinas Außenpolitik weiterhin zumindest partiell zu beeinflussen. Ein Beispiel ist die aktuelle Debatte über Halbleiter. Während China mit massiven Investitionen seine Unabhängigkeit von internationalen Lieferketten und Innovation erhöhen will, muss die Regierung anerkennen, dass die Halbleiter-Wertschöpfungskette in absehbarer Zeit stark transnational geprägt sein wird. China wird weiterhin auf westliches Chipdesign und taiwanesische Front-End-Fertigung angewiesen bleiben. Dies wirft die Frage auf, inwieweit die fortbestehende Interdependenz das außenpolitische Kalkül Chinas prägt – und nicht zuletzt auch das Ziel, die Kontrolle über Taiwan wiederzuerlangen.

Beide dieser entgegengesetzten Interpretationen von Chinas Außenpolitik sind in den politischen Entscheidungsgremien Deutschlands und der Europäischen Union vertreten. Offiziell hat die EU einen Mittelweg zwischen beiden Sichtweisen gewählt. Seit die Union 2019 einen neuen „Strategischen Ausblick“ für China verabschiedet hat, bezeichnet sie das Land gleichzeitig als Partner, Wettbewerber und systemischen Rivalen. Zwar bildet diese Beschreibung die Ambivalenzen chinesischer Außenpolitik ab. Doch die EU äußert sich wenig darüber, wie China diese verschiedenen Rollen einnimmt, was das chinesische außenpolitische Handeln bestimmt und wie sie selbst wirksam darauf reagieren kann. Doch genau dies ist notwendig. Die EU muss verstehen, und wenn möglich antizipieren, welche Rolle China in entscheidenden Politikfeldern spielen wird – von der digitalen über die grüne Transformation bis hin zu klassischen Handelsthemen. Nur so kann Europa eine zielgerichtete Außenpolitik betreiben und dem chinesischen Bestreben eigene Visionen einer künftigen globalen Ordnung effektiv entgegensetzen.

Chinas widersprüchliche Außenpolitik erklären

Um Chinas Ansatz besser zu verstehen, hat der Autor dieses Policy Briefs kürzlich eine umfassende ethnografische Studie veröffentlicht. Sie beschäftigt sich mit der Vielzahl und Vielfalt der an außenpolitischen Entscheidungen beteiligten Akteure in China. Mehr als 150 ausführliche Interviews mit chinesischen Parteistaatsfunktionärinnen und -funktionären (hauptsächlich letzteres) zeigen, dass die Widersprüchlichkeiten in Chinas Verhältnis zu einer auf Souveränität basierender internationaler Ordnung wenig mit internationalen Ambitionen zu tun hat. Handlungsleitend und entscheidend ist nicht die Notwendigkeit, internationale Partner und Verbündete zu gewinnen, sondern innenpolitische Verletzlichkeit. Zwar spielen das wachsende Selbstvertrauen in die eigene (wirtschaftliche) Macht und der zunehmende Stolz auf Chinas Position eine Rolle. Doch bedeutender ist die anhaltende Besorgnis um die Verletzbarkeit der KPCh-Herrschaft und das Gefühl, dass das derzeitige internationale System nicht nur eine Chance für China, sondern auch eine Bedrohung für die Stabilität der Ein-Parteien-Herrschaft darstellt.

Jahrzehntelang beruhten die innenpolitische Legitimität der KPCh und die soziale Stabilität, die das Regime stützte, auf einem enormen Wirtschaftswachstum und dem daraus resultierenden Wohlstand. Zwar waren die Wohlstandszuwächse ungleich verteilt, doch alle Teile der chinesischen Gesellschaft partizipierten am Aufschwung. China profitierte vor allem vom Export. Die Wettbewerbsfähigkeit ging zu großen Teilen auf die niedrigen Arbeitskosten zurück, die sich aus einer stetigen Urbanisierung ergaben. Millionen von Wanderarbeiterinnen und Wanderarbeitern im erwerbstätigen Alter zog es in die Ballungszentren des Landes, wo sie in der exportorientierten Industrie zu niedrigen, wenngleich wachsenden Löhnen arbeiteten. Doch das Urbanisierungspotenzial ist weitgehend ausgeschöpft, nicht zuletzt aufgrund einer ungünstigen demografischen Entwicklung. Die ineffiziente Allokation von finanziellen Ressourcen über das staatlich kontrollierte Finanzwesen und die mittlerweile aufgehobene Ein-Kind-Politik, die jedoch noch immer gravierende Auswirkungen zeigt, sind Hinterlassenschaften von Chinas Geschichte als Planwirtschaft. Die bestehende Immobilienblase, die durch die fiskalischen Engpässe des lokalen Parteistaats angeheizt wird, hat ein systemgefährdendes Ausmaß angenommen.

China benötigt – einmal mehr – weitreichende Wirtschaftsreformen, um höherwertige Produkte in der globalen Wertschöpfungskette beizusteuern, innovativer zu werden, den Binnenkonsum zu stärken und die Abhängigkeit von ausländischen Liefer- und Absatzmärkten zu verringern. Die zwei zentralen Transformationen unserer Zeit, die digitale und die grüne Transformation, eröffnen China die Möglichkeit ein neues, erfolgreiches Wachstumsmodell zu entwickeln. Doch kurzfristig geht mit grundlegenden Transformationen Unsicherheit und die Gefahr sozialer Instabilität einher. Der Parteistaat versucht daher das Wirtschaftswachstum durch eine Kombination aus fortgesetzter wirtschaftlicher Integration in globale Märkte bei gleichzeitiger Stärkung des Binnenkonsums zu erhalten. Wie genau wirtschaftliche Offenheit und globale Integration auf der einen Seite mit Eigenständigkeit, Isolation und Protektionismus auf der anderen Seite kombiniert werden können, ist innerhalb des Parteistaates umstritten.

 

 

 

Das Modell des starken Staates als Produkt der Fragmentierung Chinas

Im Moment von Verunsicherung und Verwundbarkeit hat die KPCh ein altes nationalistisches Narrativ wiederbelebt. Nationalstolz als Legitimationsquelle der Ein-Parteien-Herrschaft ist nicht neu. Zuletzt nimmt der Nationalismus allerdings wieder zu – nicht aufgrund von Selbstvertrauen, sondern aus Sorge um den Fortbestand sozialer Stabilität. Die Kommunistische Partei argumentiert, sie habe ein Jahrhundert der Demütigung beendet, das von innenpolitischen Unruhen, Krieg und Kolonialismus geprägt war und das bis zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts andauerte. Mao sei der Vorsitzende, der das Land geeint habe, Deng habe den Wohlstand gebracht und Xi vollende diese Reise, indem er China den ihm zustehenden historischen Platz an der Spitze der Welt zurückgebe. Doch ähnlich wie bei der Frage, wie Wirtschaftswachstum generiert wird, gibt es auch mit Blick auf den Nationalstolz als Legitimationsquelle unterschiedliche Vorstellungen innerhalb des Parteistaats. Während die einen Chinas Nationalstolz durch wachsende Reputation als verantwortungsvolle und friedliche Großmacht stärken wollen, die die breite Unterstützung der internationalen Gemeinschaft genießt, befürworten andere einen chauvinistischen Nationalismus.

In diesen widersprüchlichen Vorstellungen davon, wie die KPCh ihre Legitimität erneuern kann, zeigt sich eine Spaltung in zwei Lager. Dem wachsenden Selbstbewusstsein des Landes als einer konstituierenden Kraft neuer Ordnung stehen Skeptikerinnen und Skeptiker gegenüber, die angesichts der Verletzbarkeiten für eine Integration plädieren. Diese unterschiedlichen Agenden zeigen sich sowohl hinsichtlich der Generierung von Legitimität aus Wirtschaftswachstum als auch aus Nationalstolz. Interessanterweise reagieren aber beide Lager auf den gleichen Befund: die Verletzbarkeit der KPCh-Herrschaft. Chinas Funktionäre sind sich einig, dass Wirtschaftswachstum und Nationalstolz für die Legitimation der KPCh-Herrschaft sowie die Stabilität des Regimes unerlässlich sind. Doch wie genau Wirtschaftswachstum (wirtschaftliche Integration vs. wirtschaftliche Isolation) und Nationalstolz (Reputation vs. chauvinistischer Nationalismus) erzeugt werden sollen, bleibt umstritten.

Diese unterschiedlichen Ansätze spiegeln sich auch in den bei außenpolitischen Entscheidungen zentralen Institutionen wider, die weitaus fragmentierter und vielfältiger sind als es von außen erscheinen mag. Zwar hat China unter Xi Jinping eine Rezentralisierung der Macht vorgenommen. Doch die Fragmentierung besteht fort. Eine Vielzahl an Ministerien konkurriert mit der Volksbefreiungsarmee und einer ganzen Reihe an parteistaatlichen Agenturen um Einfluss. Partei und Staat haben darüber hinaus fast überall institutionelle Parallelstrukturen aufgebaut. Zunehmend entfalten darüber hinaus wirtschaftliche Interessen staatlicher Unternehmen und privater Firmen, die sich im Besitz von Unternehmern mit engen Verbindungen zum Parteistaat befinden und oft als „rote Kapitalisten“ bezeichnet werden, Einfluss auf die chinesische Außenpolitik. Der hohe Grad an Fragmentierung wird durch den weiterhin starken Einfluss subnationaler parteistaatlicher Institutionen komplettiert.

Institutionelle Fragmentierung führt zu drei Handlungslogiken außenpolitischer Bürokratien:

Erstens haben die parteistaatlichen Institutionen unterschiedliche institutionelle Mandate und vertreten daher oft gegensätzliche Ziele. So setzen sich beispielsweise einflussreiche lokale Behörden für den Erhalt des bestehenden Finanzsystems ein, das der lokalen Industrie zugutekommt. Sie wehren sich damit nicht nur gegen internationale Verpflichtungen, sondern auch gegen die chinesische Zentralbank und die Finanzaufsichtsbehörden Chinas, die für eine stärkere Integration in die globalen Finanzinstitutionen eintreten und eine Liberalisierung befürworten.

Zweitens sind die Beamtinnen und Beamten des Parteistaats je nach beruflichem Werdegang unterschiedlich sozialisiert. Das außenpolitische Establishment, das im Ausland im Einsatz war, neigt mehr dazu, auf den internationalen Ruf Chinas bedacht zu sein als Parteikader, die nicht oder nur kaum mit internationalen Angelegenheiten in Berührung gekommen sind.

Drittens konkurrieren die Kader des Parteistaates nicht nur um Einfluss, sondern sie haben auch unterschiedliche materielle Interessen. Die weit verbreitete Korruption in China hat daher Auswirkungen auf die Außenpolitik der Volksrepublik.

Jede der parteistaatlichen Institutionen bringt nicht nur ihre eigene Interpretation der Rolle Chinas in der Welt ein. Vielmehr sind viele geschickt darin, die oben beschriebenen Brüche in der Legitimierung der KPCh-Herrschaft zur Untermauerung der eigenen Sichtweisen ins Feld zu führen. Begriffe wie „Souveränität“, „Fortschritt“ und „antiwestlich“ bieten ihnen eine ausreichend vage Terminologie, um ihre eigenen ideologischen Interpretationen und Interessen zu befeuern. Auf den ersten Blick scheinen alle Institutionen Chinas die gleiche Sprache zu sprechen. Sie sind sich darin einig, dass soziale Stabilität, die Autorität und Legitimität der KPCh erhalten werden müssen. Da jedoch keine Einigkeit darüber besteht, wie dies zu erreichen ist, und die Institutionen des Parteistaats fragmentierter sind als dies von außen erscheint, ergibt sich eine widersprüchliche außenpolitische Praxis. Unterschiedliche Gewichtungen und Auffassungen von Nationalstolz und Wirtschaftswachstum in unterschiedlichen Institutionen führen zu einer widersprüchlichen Außenpolitik. Chinas Rhetorik mag den Wert der Souveränität betonen, doch seine außenpolitischen Praktiken sind inkohärent.

Die Erosion der bestehenden Ordnung – ohne neue Vision

Die institutionelle Fragmentierung und die Uneinigkeit, wie die Legitimität der KPCh Herrschaft erhalten werden soll, haben konkrete Auswirkungen auf Chinas ordnungspolitische Ambitionen: Entgegen der weit verbreiteten Meinung hat China kein klares „China-Modell“ zu bieten – geschweige denn eine Ideologie, die die Welt symbolisch neu ordnen könnte. Doch damit ist der Westen noch lange nicht fein raus. Zum einen orientieren sich zahlreiche Länder an China. Was China rhetorisch vertritt, ist in ihrem Sinne. Zum anderen, und das ist womöglich noch problematischer, versucht China, seine eigenen Schwächen und seine innere Zersplitterung zu kaschieren. Dazu bemüht sich die Volksrepublik, neue Praktiken einzuführen, die dem Land Flexibilität einräumen und Inkonsistenzen verstecken. Dies untergräbt jedoch die bestehenden internationalen Institutionen und erhöht die Transaktionskosten für die USA und die Europäische Union. Gegenüber internationalen Institutionen, die Kooperation und Verlässlichkeit generieren, gewinnen nun wieder Machtunterschiede zwischen Staaten und die Macht des Stärkeren an Bedeutung. Zwar wird es der Partnerschaft zwischen China und Russland kaum gelingen, eine neue Ordnung zu etablieren und neue Grundsätze aufzustellen, die an die Stelle der bestehenden Normen treten. Doch beide haben enormes Potenzial, die bestehende internationale Ordnung auszuhöhlen.

Um nicht als zerstörerische Kraft zu wirken, versucht China, die Widersprüchlichkeit des eigenen Handelns auf zweierlei Weise zu kaschieren. Erstens stellt es die universelle Gültigkeit von Normen globaler Ordnung infrage. So sollen eigene abweichende Praktiken legitimiert werden. Zweitens versucht die Volksrepublik, die Ungereimtheiten ihrer Politik durch vage und unverbindliche internationale Institutionen zu verbergen. So untergräbt China das bestehende Verständnis von zentralen Begrifflichkeiten der internationalen Politik. Es argumentiert etwa, dass Begriffe wie „Freihandel“, „Menschenrechte“, „Rechtsstaatlichkeit“ oder „Demokratie“ keine universell gültige Definition hätten. Stattdessen könnten sie nur kontextabhängig richtig verstanden werden. Dies ermöglicht der Volksrepublik bei der Interpretation ein Höchstmaß an Flexibilität und kommt einer Entwertung politischer Absprachen und Verträge gleich. Internationales Recht und internationale Institutionen können so bei Kooperationen nicht verlässlich zum Einsatz kommen. In jedem Fall kann China auf einen anderen Kontext hinweisen und damit abweichendes Handeln rechtfertigen. Das Völkerrecht verliert seine Möglichkeit, auch das Handeln mächtiger Staaten einzuschränken. Das führt wiederum dazu, dass China als De-facto-Weltmacht seine widersprüchliche Außenpolitik rechtfertigen kann, die aus innerer Verwundbarkeit, divergierenden Visionen und Interessen sowie der fragmentierten institutionellen Entscheidungsstruktur des außenpolitischen Apparats resultiert.

Wie also sollte der Westen darauf reagieren? Der Ansatz der EU, China gleichzeitig als Partner, Wettbewerber und systemischen Rivalen zu beschreiben, erfasst zwar die Vielfalt chinesischer Außenpolitik. Ein konkretes Verständnis der chinesischen Vorgehensweise und eine wirksame Reaktionsmöglichkeit bietet er jedoch nicht. China ist weder eine imperialistische, revisionistische Macht wie Wladimir Putins Russland, das seine wirtschaftlichen Interessen und sein internationales Ansehen vernachlässigt, noch eine Status-quo-Macht, die ausschließlich danach strebt, innerhalb des bestehenden Systems Einfluss und Wohlstand zu erlangen. Die Außenpolitik des Landes ergibt sich aus innenpolitischen Erwägungen, Zwängen und Verletzbarkeiten. Chinas nach innen gerichteter Ansatz schränkt die Möglichkeiten externer Akteure einschließlich der EU und Deutschlands ein, den Kurs seiner Außenpolitik zu beeinflussen.

 

 

Sieben Lehren für Europas Außenpolitik

Europäische Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger sehen sich zunehmend mit der Quadratur des Kreises konfrontiert. Sie sollen eine kaum zu überbrückende Kluft überwinden: Einerseits ist die Kooperation mit China zur Lösung globaler Probleme unausweichlich, andererseits gilt es, Chinas imperialistische Tendenzen durch eine durchsetzungsfähige Politik im indopazifischen Raum und in der Ukraine sowie in einer Reihe geopolitischer Streitfragen einzuhegen. Der EU ist es bislang nicht gelungen, einen klaren Kurs einzuschlagen, der wirtschaftliche Globalisierung und die Verteidigung der Eigeninteressen überzeugend kombiniert. Bestenfalls wirkt der Westen somit unberechenbar, schlimmstenfalls gilt er dem Globalen Süden als heuchlerisch. Europa muss verstehen, dass China weder als idealisierte rationale Wirtschaftsmacht westlicher Prägung noch als irrationaler Imperialist russischer Art behandelt werden sollte.

China aus sich selbst heraus zu verstehen, bedeutet: seine komplexen internen Entscheidungsprozesse zu durchschauen sowie die Versuche der KPCh, diese Spaltung zu verschleiern. Ironischerweise mag dies die Europäische Union an sich selbst erinnern. Auch die EU ist eine äußerst komplexe Macht, die selbst seit Jahrzehnten versucht, eine kohärente Vision für die Welt zu entwerfen. Sie wurde von Partnern und Konkurrenten häufig für ihre inkohärente Kommunikation kritisiert, auch wenn sie selbst von der Klarheit ihrer internen Prozesse überzeugt ist. Vor diesem Hintergrund sollte eine fundierte Chinapolitik die folgenden sieben Lektionen berücksichtigen:

1. Die Bedeutung innenpolitischer Auswirkungen auf die KPCh-Herrschaft verstehen

Will Europa die chinesischen Reaktionen auf eigene Vorschläge und internationale Entwicklungen angemessen abschätzen, muss es stets deren Auswirkungen auf Chinas innenpolitische Verletzbarkeit bedenken. Mögliche Spillover-Effekte auf andere Politikbereiche und deren Bedeutung aus der Perspektive des chinesischen Parteistaats sind zentral. Selbst dort, wo Europa und China gemeinsame Interessen zu haben scheinen, muss die EU ermitteln, welche Priorität diese für die Legitimierung der KPCh-Herrschaft haben.

Die Bekämpfung des Klimawandels ist beispielsweise ein gemeinsames Ziel. Doch löbliche und ehrgeizige Ziele Chinas zur Verringerung der Treibhausgasemissionen könnten rasch Makulatur werden, wenn bei der Umsetzung die soziale Stabilität gefährdet wird. Energie- oder Ernährungsunsicherheit sind bereits heute Schwachstellen des Landes. Deshalb haben europäische Initiativen, die Klimaschutz mit Energie- und Ernährungssicherheit verknüpfen, für China einen größeren Wert. Zwar mag es nicht im EU-Interesse sein, die Verletzbarkeit der KPCh zu reduzieren. Doch um globale Probleme zu lösen, gilt es pragmatisch zu prüfen, wie die Kooperationsbereitschaft Pekings erhöht werden kann.

2. Nicht nur die eigenen Gesprächspartner verstehen, sondern auch die vielschichtigen Agenden Chinas

China mag in verschiedene Lager gespalten sein. Aber europäische Diplomatinnen und Diplomaten können sich ihre Verhandlungspartnerinnen und Verhandlungspartner nicht auswählen. „Teile und herrsche“ ist daher kein Motto, das gegenüber China verfolgt werden kann. Dennoch ist es wichtig, Vielfalt und Strukturen des Parteistaats zu kennen, um eigenen Vorschlägen mehr Gewicht zu verleihen.

Umgekehrt müssen die internationalen Verhandlungsführerinnen und Verhandlungsführer den potenziellen Widerstand von Akteuren innerhalb des Parteistaats berücksichtigen, selbst wenn diese nicht an den internationalen Verhandlungen teilnehmen. So wird die Beseitigung technischer Handelshemmnisse gegenüber China in erster Linie auf den Widerstand staatlicher Planungsbehörden, großer Teile lokaler Behörden und verschiedener Interessengruppen, die von anhaltendem Protektionismus profitieren, zurückgeführt. Unrechtmäßige Praktiken anzuprangern und im Zweifelsfall die WTO-Schiedsgerichtsbarkeit anzurufen, kann vor allem in jenen Feldern, in denen Reformen in China diskutiert werden, Dynamiken wirtschaftlicher Liberalisierung fördern – wenn auch nur in kleinen Schritten.

3. Chinas ehrgeizigen Ambitionen misstrauen und ihre Umsetzbarkeit prüfen

Die KPCh-Führung äußert sich oft zuversichtlich über ihre internationalen Ziele. Zwischen Ambitionen und tatsächlichen Fähigkeiten wird jedoch nicht immer klar unterschieden. Das dient Chinas Führung vor allem dazu, im Inland Stärke zu demonstrieren. Es bedarf daher unabhängiger europäischer Analysen, die diese Diskrepanzen herausarbeiten und Chinas tatsächliche Optionen zum Erreichen ihrer strategischen Ziele aufzeigen.

Ein Beispiel ist die Diskussion um den chinesischen Vorschlag für ein neues Internetprotokoll. Zwar stimmt es, dass dies die Überwachung des Internetverkehrs und das Abschalten des Netzes erleichtern würde. Doch so alarmierend die chinesische „NewIP“-Initiative auch ist, so geht sie dennoch nicht über einen groben Rahmen hinaus. China unterbreitete den Vorschlag, um sich einen Vorsprung zu verschaffen und die Erarbeitung eines neuen Internetprotokolls maßgeblich zu beeinflussen. Dennoch ist es derzeit weit davon entfernt, ein neues globales Internetprotokoll zu etablieren. Ebenso bleiben noch viele technische Fragen offen. Ein europäisches „Frühwarnsystem“ für technische Standards könnte dabei helfen, sowohl die technische Qualität und Machbarkeit als auch die politischen Ambitionen zu berücksichtigen. Damit könnte frühzeitig erkannt werden, wie China universelle Werte durch technische Standards aushöhlt, aber auch Alarmismus vermieden werden, wenn Chinas Ambitionen noch weit von der Umsetzung entfernt sind.

4. Europas Wissensbasis stärken und gleichzeitig chinesische Quellen ernst nehmen

Die Volksrepublik China mag eine zweideutige Sprache bevorzugen, um flexibel zu bleiben. Doch die Herrschaft eines fragmentierten Parteistaatsapparats bedarf zahlreicher schriftlicher Leitlinien, Regulierungen und anderer Dokumente. Die Analyse chinesischsprachiger Quellen ist daher von großem Wert. Viele dieser Dokumente sind frei zugänglich. Da sich diese Dokumente jedoch nicht an ein internationales Publikum richten, gibt es keine offizielle englische Übersetzung. Europa sollte mehr in Übersetzungen investieren, um seine Wissensbasis nachhaltig zu stärken. Übersetzungen mögen keine perfekte Lösung sein. Aber sie könnten helfen, bestehende Defizite partiell auszugleichen.

Zwar wurde der aktuelle Fünfjahresplan des Landes für die Zeit von 2021 bis 2025 übersetzt. Doch diese Pläne sind längst nicht mehr so umfassend und feststehend wie zu Zeiten Mao Zedongs. Vielmehr markieren sie den Beginn eines Zyklus von detaillierten Teilplänen auf nationaler, provinzieller und lokaler Ebene. Diese Pläne werden durch Rundschreiben und Richtlinien konkretisiert. Auch diese Dokumente sind nicht so detailliert wie zu Zeiten der Planwirtschaft, doch sie sind bis heute von zentraler Bedeutung, da sie signalisieren, welche Prioritäten der staatseigene Finanzsektor in der Verteilung der Ressourcen setzen soll. Auch ermöglichen lokale Regierungen häufig durch Deregulierung privatwirtschaftlichen Unternehmerinnen und Unternehmern das Experimentieren in jenen Sektoren, die die Fünfjahrespläne als prioritär festgesetzt haben. Selbst wenn nicht alle Ambitionen der Planungen umgesetzt werden, bieten diese Dokumente wichtige Anhaltspunkte für politische Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger sowie Unternehmerinnen und Unternehmer. Der Westen wertet die von China bereitgestellten Informationen derzeit nicht in vollem Umfang aus.

5. Interdependenzen erkennen und weiterhin für China attraktiv bleiben

Angesichts der geopolitischen Entwicklungen und der Unvorhersehbarkeit des innen- und außenpolitischen Kurses der Volksrepublik ist eine Verringerung wirtschaftlicher und technologischer Abhängigkeiten von China für Europa sinnvoll. Eine vollständige Entkopplung ist jedoch weder realistisch noch wünschenswert. China ist integraler Bestandteil einer globalisierten Welt. In strategisch bedeutsamen Sektoren wird ein gewisses Ausmaß an gegenseitiger Abhängigkeit auf absehbare Zeit unvermeidbar bleiben. Zwar ist nicht gänzlich ausgeschlossen, dass China sich genauso irrational verhält wie Russland und erhebliche wirtschaftliche Kosten für eigene geopolitische Ziele akzeptieren würde. Dennoch bestehen, zumindest bisher, zwischen dem politischen Verhalten Wladimir Putins und Xi Jinpings erhebliche Unterschiede. Darüber hinaus ist Chinas wirtschaftliche Abhängigkeit von Europa das zurzeit einzig verbliebene, wenn auch schwindende Mittel, um Einfluss auf China auszuüben.

Das Ziel der EU sollte es sein, dass China weiterhin von Europa abhängig bleibt. Im Falle einer Konfrontation würde dies die Kosten für China erhöhen. Wichtig ist es, dass Europa die wenigen Engpässe, die es in globalen Wertschöpfungsketten kontrolliert, erhält beziehungsweise bestenfalls ausbaut. Ein solcher Engpass ist die Lithografie, Maschinen für die Herstellung von Halbleitern. Um die Stärke Europas zu erhalten, ist es notwendig, vorausschauend zu denken und zu verstehen, welche Maschinen für zukünftige Generationen von Halbleitern erforderlich sind, um strategisch in diese Bereiche zu investieren. Dies ist zwar keine Garantie dafür, dass China nicht bereit sein wird, einen hohen wirtschaftlichen und technologischen Preis zu zahlen. Dennoch verringert es das Risiko, dass China eine mit Russlands Aggression vergleichbare Krise provoziert.

6. Die Unsicherheit nutzen, die Chinas Politik für den Globalen Süden schafft

Chinas widersprüchliche Politik schafft Unsicherheit. Das ist vor allem für schwächere Staaten besorgniserregend, vor allem im Globalen Süden. Europa kann diese Chance nutzen. Doch dazu muss die EU eine Politik entwickeln, die den Globalen Süden als Akteur mit eigenständiger Handlungsfähigkeit ernst nimmt und ihn nicht als Gegenstand eines geopolitischen Konflikts behandelt. Es gilt einen Kompromiss zu erarbeiten: Einerseits sollte die EU an bewährten Regeln, Standards und Grundsätzen, die ihren Partnern Sicherheit bieten, festhalten. Andererseits muss Europa attraktiver werden und bereit sein, nicht starr auf diesen Regelwerken zu beharren, sondern ausreichend flexibel auf die Bedürfnisse des Globalen Südens einzugehen.

So wird die EU-Infrastrukturinitiative Global Gateway nur dann mit Chinas Belt and Road Initiative (BRI) konkurrieren können, wenn sie die Faktoren versteht, die zum Erfolg der BRI geführt haben. Dies setzt voraus, dass an Global-Gateway-Projekte weniger Bedingungen geknüpft werden als an die derzeit von den Bretton-Woods-Institutionen finanzierte Entwicklungszusammenarbeit. Allerdings sollte Global Gateway die BRI nicht kopieren. Stattdessen geht es darum, Regeln anzuwenden, die Sicherheit bieten und Abhängigkeiten für die Empfängerländer vermeiden. Global Gateway kann ein Angebot zur Diversifizierung und Autonomie sein. Der Großteil des Globalen Südens will nicht zwischen dem Westen und China wählen. Europa sollte seine Rolle stärken, aber nicht darauf abzielen, die Empfänger in ein westliches Bündnis gegen China zu zwingen.

7. Europas Demokratien vor chinesischer Einmischung schützen

Demokratie ist der Schlüssel zur westlichen Vision einer globalen Ordnung. Die KPCh fürchtet florierende, funktionierende Demokratien, da sie eine alternative Regierungsführung darstellen, die auch die chinesische Bevölkerung einfordern könnte. Gerade weil die chinesische Führung von ihrem eigenen Ansatz nicht vollkommen überzeugt ist, sieht sie liberale Demokratien und die Meinungsfreiheit als Bedrohung an. Öffentliche Äußerungen, die ein negatives Licht auf China werfen, sind für die chinesischen Behörden von besonderer Bedeutung. Die Führung im Land befürchtet, dass in Europa lebende Chinesinnen und Chinesen demokratische Erfolgsgeschichten kennenlernen und die Herrschaft der KPCh infrage stellen könnten. Wenn Ideen für eine demokratische Alternative in China auf innenpolitische Krisen stoßen, könnte dies die Herrschaft der KPCh untergraben.

Daher ist es für Europa zentral, seine eigenen Demokratien zu schützen. Insbesondere sollte es die Meinungsfreiheit der chinesischen Diasporagemeinschaften verteidigen. In diesem Kontext sind Hochschulen von besonderer Bedeutung, da sie ausländische Studierende anziehen. Zu beobachten ist, dass chinesische Behörden aktiv auf chinesische Studierende zugehen, um sie mit Informationen auf Chinesisch zu versorgen und sie an politischen Aktivitäten zu hindern. Europa sollte diesem Vorgehen mit Informationen, etwa auf Chinesisch, begegnen und dezentrale Anlaufstellen für Betroffene oder gar Bedrohte anbieten.

Bibliografische Angaben

Rühlig, Tim. “Chinas fehlende globale Vision.” German Council on Foreign Relations. August 2022.

DGAP Policy Brief Nr. 25, August 2022, 14 S.

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