Memo

20. Sep 2021

China mutiger ins Auge Sehen

Deutschland sollte seine Wirtschaft diversifizieren und seine Technologien schützen
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Deutschland hat seine Beziehungen zu China in den letzten Dekaden energisch vorangetrieben. Allerdings hat die EU 2019 die Volksrepublik (VR) China als „systemischen Rivalen“ identifiziert. Hintergrund sind die Machtambitionen der aufstrebenden Diktatur, den Handel zu ihrem politischen Nutzen einzusetzen, ihre aggressive Cyperspionage, die Übernahme und der Diebstahl von Technologien sowie massive Verstöße gegen die universellen Menschenrechte und das Bestreben, die internationale Ordnung zu verändern. Deutschland muss dringend seine Wirtschaft diversifizieren und seine Technologie schützen.

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Aufgrund der engen wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und China halten es sowohl die deutsche Industrie als auch die Bundesregierung für nahezu unmöglich, sich ­Chinas Auftreten offen zu widersetzen, – obwohl dies Deutschlands langfristigen Wohlstand und letzten Endes die Sicherheit der Demokratie bedroht. Sich von China abzuwenden und umfangreiche politische Abwägungen und Sicherheitsaspekte einzubeziehen, wird nicht einfach sein, ist jedoch notwendig und überfällig.

Der Aufstieg Chinas seit 1978 zur weltweit zweitgrößten Wirtschaft geschah mit der breiten politischen, technologischen und gesellschaftlichen Unterstützung Deutschlands und anderer Industrienationen. Jahrzehntelang war die deutsche Wirtschafts- und Außenpolitik gegenüber China geprägt vom normativen Prinzip „Wandel durch Handel“ („Change through Trade“). Hochrangige deutsche Unternehmen, vor allem der Auto-, Chemie- und Maschinenbauindustrie, sowie Unternehmen des Mittelstands investierten mit Begeisterung in die Volksrepublik (VR China). 2017 wurde sie Deutschlands größter einzelner Handelspartner, die EU nicht mitgezählt. 2020 betrug das bilaterale Handelsvolumen von Deutschland und China 212 Milliarden Euro.

Rahmenbedingungen

Abhängigkeiten beenden, neue Allianzen schaffen

Trotz der offensichtlichen wirtschaftlichen Vorteile sind die Risiken einer Abhängigkeit von einem nicht-demokratischen, nicht-rechtlichen Staat real und langfristig. China setzt ganz offen den Handel zum politischen Nutzen ein. So wendet die VR China ­aktuell Handelsverbote für Litauen an, da das baltische Land seine Beziehungen zu Taiwan verbessert hat. Zudem hat ­Peking als Reaktion seinen Botschafter abgezogen – und damit zum ersten Mal in Europa so demonstrativ gehandelt. Darüber hinaus droht ­China, in Taiwan einzumar­schieren und ging mit rund 15 offiziellen und inoffiziellen Handelsverboten sowie massiven Cyberangriffen gegen Australien vor, nachdem dieses sich politischer Einmischung aus Peking entgegenstellte und eine unabhängige Untersuchung zum Ursprung des Covid-19-Virus gefordert hatte. Dennoch hat es Australien geschafft, 80 Prozent des ausländischen Handelsvolumens, das es durch die Handelsverbote verloren hat, wieder hereinzuholen. Ein weiteres Zeichen dafür, dass Australien an der Spitze der politischen Spannungen sowie Handelsspannungen mit ­China steht, ist die kürzliche ­Schaffung der ­sogenannten „Aukus“-Allianz, einem trilateralen Sicherheitsbündnis zwischen Australien, Großbritannien und den USA. Dies verdeutlicht einmal mehr, wie ein Scheitern Deutschlands, die Richtung zu ändern, es zunehmend ins Abseits gegenüber den weltweiten Demokratien drängen könnte.

Unter der Führung der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) ist das Land kein freier Handelspartner und wird es so bald auch nicht werden, denn dies würde für die Partei mit Kontrollverlust im eigenen Land einhergehen. Chinas Herrschaftsstrategien in verschiedenen internationalen Bereichen wachsen. Im Oktober 2020 sagte Staatspräsident Xi Jinping, dass sein Land beabsichtige, die Abhängigkeit der Welt von seinen industriellen Lieferketten zu verstärken. Im März 2021 betonte Premierminister Li Keqiang das Bestreben, China in ein „starkes Gravitationsfeld“ zu verwandeln, dem man nicht widerstehen könne. Es wäre in diesem Kontext unangebracht, von einer „Abkopplung“ zu sprechen, die von den demokratischen Ländern gesteuert wird. Denn in Wirklichkeit hat sich China niemals „gekoppelt“ und so die Welt vor eine Reihe politischer und wirtschaftlicher Herausforderungen gestellt. Nun wendet es sich wieder stark nach innen. Hinter verschlossenen Türen fragen sich bereits so manche Geschäftsleute hierzulande, ob Deutschland von Chinas Märkten de facto als Geisel genommen wurde.

Deutschland hat erkannt, dass es diversifizieren muss. Die Bundesregierung hat 2020 ihre politischen Leitlinien für den indopazifischen Raum veröffentlicht, um das Land weg vom jahrzehntealten Fokus auf China hin zu anderen Beziehungen und wirtschaftlichen Verbindungen im westpazifischen und indopazifischen Raum auszurichten. Neben Australien haben auch Japan und sogar Südkorea angefangen, sich in andere Richtungen zu orientieren. Solch eine Neuausrichtung würde im Fall Deutschlands das transatlantische Bündnis automatisch stärken und im weiteren Sinne auch die NATO. Der Zeitpunkt ist günstig, denn manche Beobachter gehen davon aus, dass Xi sein Land auf einen Krieg mit Taiwan vorbereitet. In der Tat steigen die durch China getriebenen politischen, wirtschaftlichen und militärischen Risiken in Asien und im indopazifischen Raum.

 

Deutsche Wirtschaft und chinesische Politik

Einer Studie zufolge hat Deutschland seit 1978 in circa 100 Kategorien eine Warenabhängigkeit von China entwickelt. Da die VR beginnt, Deutschland bei der Herstellung von Exportprodukten zu überholen, liegt es in deutschem Interesse, zu diversifizieren und neue Märkte und Produktionsstätten zu erschließen, um zu verhindern, dass sich die Abhängigkeiten vertiefen. Eine genauere Prüfung und ein besseres Risikomanagement sind nötig sowie gezielte Technologiekontrollen, da Deutschland es lange versäumt hat, seine Technologien und sein Wissen vor einem Abfluss nach China zu schützen.

 

2015 hat Peking seinen „Made in ­China 2025“-Plan veröffentlicht, der darauf abzielt, erster Hersteller von Qualitätswaren zu werden, und damit Deutschland abzulösen. Der Plan beschreibt das Ziel, dass China in zehn Schlüsselindustrien dominiert, darunter E-Autos, IT, Luft- und Raumfahrt, verschiedene Arten von Maschinenbau und Medizintechnologie. Die VR ­China hat ebenso einen staatlich gelenkten Plan für industrietaugliche künstliche Intelligenz, das „China Brain Project 2030.“ Zusätzlich arbeitet sie an den „China Standards 2035“, die eine ­Alternative zu Deutschlands weltweiten Industriestandards bieten sollen. Dies geschieht allerdings mit ­deutscher Unterstützung.

Die Diversifizierung Deutschlands weg von seiner wachsenden Abhängigkeit von China muss und kann nicht sofort vonstattengehen, aber sie muss dennoch jetzt beginnen. Sie bedarf mutiger und intelligenter politischer Führung und sollte sich auf Verbündete konzentrieren. Es darf nicht vergessen werden: Nur acht Prozent der deutschen Exporte gehen nach China, während 67 Prozent nach Europa gehen. Volkswagen verkauft 40 Prozent seiner Autos in China, aber erzielt – soweit wir wissen – dort nur 20 Prozent seines Umsatzes. Auch wenn dies nicht unbedeutend ist, muss Deutschland mehr auf langfristigen Wohlstand schauen, vor allem angesichts der neuen chinesischen Wirtschaftsstrategie der „zwei Kreisläufe“, einer Form der Importsubstitution und der weiteren Entkopplung, die den Druck auf deutsche Unternehmen erhöht, sich örtlich auf China festzulegen, mehr intellektuelles Eigentum zu übergeben und Forschung und Entwicklung zu übertragen. Unter dem chinesischen System der „militärisch-zivilen Verschmelzung“ ist es leider nicht möglich, eine Firewall zu errichten, um die Zusammenarbeit in Wissenschaft und Technologie von einer militärischen Nutzung zu trennen.

Der Schutz von Menschenrechten ­sollte die Diversifizierung ebenfalls vorantreiben. Aktuell betreiben deutsche Schlüsselunternehmen, darunter BASF und Volkswagen, Fabriken in der chinesischen Region der Uiguren. Das ist der Preis, den Peking dafür verlangt, auch in anderen Regionen in China Fabriken zu errichten, und ein weiteres Beispiel dafür, wie die KPCh wirtschaftliche Beziehungen politisch vereinnahmt. ­Chinesische Offizielle haben geäußert, dass die VR China darauf abzielt, den uigurischen Bewohnern „die Wurzeln zu brechen“. Die Uiguren sind systematischen Menschenrechtsverletzungen einschließlich Zwangsarbeit ausgesetzt. Die Aktivitäten deutscher Unternehmen in China werden seit Kurzem in ­Europa von Akteuren der Zivilgesellschaft rechtlich angefochten und die Unternehmen werden sich aufgrund des deutschen Lieferkettengesetzes mit weiteren Herausforderungen konfrontiert sehen. Das Lieferkettengesetz sieht Strafen für deutsche Unternehmen vor, die an Sklavenarbeit beteiligt sind. Deutsche Unternehmen in China sollten eine größere Übereinstimmung zwischen ihren finanziellen Interessen im Ausland und ihren ethischen und politischen Werten zu Hause schaffen. Der Bundestag kann eine Schlüssel­rolle spielen, wenn es darum geht, demokratischen Druck auf die eigene Regierung und Industrie zu erzeugen, damit diese ­Menschenrechtsstandards in China so ernst nehmen wie zu Hause. Die Gewerkschaften könnten sich auch zum Thema Zwangsarbeit und Arbeiter­versammlungsrecht engagieren.

Herausforderungen

Mit China politisch und wirtschaftlich umgehen

Deutschland muss sich eingestehen, dass es sich – zusammen mit dem Rest der Welt – was China betrifft, in unbekannten Gewässern befindet. Sobald die neue deutsche Regierung gebildet ist, sollte sie umgehend handeln und eine nationale Sicherheitsüberprüfung durchführen, um Chinas Ambitionen und die daraus resultierenden politischen und wirtschaftlichen Konsequenzen für Deutschland zu verstehen.

Der neue Bundestag kann daran arbeiten, sicherere Investitionsziele zu unterstützen und auf ein bilaterales Investitionsabkommen mit asiatischen Ländern inklusive Taiwan und Australien drängen. Entscheidend ist, dass Richtlinien festgelegt werden, die es vielversprechenden deutschen Unternehmen vor allem aus den Bereichen Hightech und Spezialwirtschaft ermöglichen, mehr in die Zukunft Deutschlands und seiner Nachbarn zu investieren. Der Bundestag sollte ebenso dem Beispiel des Europäischen Parlaments folgen und sich dafür einsetzen, die Beziehungen zu Taiwan zu verbessern, um für Peking die Hürden einer Invasion zu erhöhen.

 

Die wichtigste Aufgabe wäre nun womöglich, dass Deutschland den nahezu ungehinderten Abfluss von Technologien nach China stoppt. Denn dieser ist nicht nur schädlich für die deutsche Wettbewerbsfähigkeit, sondern auch für die Investition Deutschlands und der Europäischen Union in die Bildung von Menschen. Über Jahrzehnte hat China die Abgabe von Technologien – bekannt als erzwungener Technologietransfer – zur Bedingung für deutsche Unternehmen gemacht. Obwohl diese Praxis sowohl als ­China vor 20 Jahren der WTO beitrat als auch im Dezember 2020 geschlossenen Umfassenden Investitionsabkommen (Comprehensive Agreement on Investment, CAI) zwischen der EU und China verboten wurde, wird die Umsetzung weiterhin scheitern. China baut seine eigenen Fähigkeiten aus, ist jedoch noch zu abhängig von ausländischen Technologien für sein Wirtschaftswachstum, zu eifrig, das zu beschaffen, was es braucht, und zu entschlossen, um diese Praxis aufzugeben. Der Technologietransfer „auf vielen Wegen und mit vielen Mitteln“, wie chinesische Ministerien es offiziell beschreiben, erfolgt nahezu kostenlos, denn die Quellen dieser Technologien, wie zum Beispiel Deutschland, wehren sich kaum und erheben keine Kosten. Folglich muss Deutschland dringend Schritte einleiten, um sich den insgesamt 32 Methoden, die der chinesische Parteienstaat nutzt, um Technologien zu sammeln und nach China zu transferieren, entgegenzustellen. Die Beendigung des Verlusts von Technologien und bestimmten Arten von Hightech- oder Fachkräften von Forschungsinstituten, Universitäten und Unternehmen würde Deutschlands eigene Demokratie und Wirtschaft erhalten. Das wäre ein systemischer Vorteil. Die nächste Bundesregierung und die Legislative sollten die wichtige Arbeit leisten, sehr viel genauer auf legale, illegale und Grauzonen-Technologietransfers zu blicken und die bestehenden Regelungen verstärken, um diese zu kontrollieren, gegebenenfalls auch durch Strafverfolgungsbehörden.

Empfehlungen

Ein mehrstufiger Ansatz

Die neue Bundesregierung und der neue Bundestag müssen folgende Aufgaben angehen:

Diversifizierung weg von China, indem Deutschlands Außenhandels- und Steuerrichtlinien überprüft und so bessere Bedingungen für Investitionen außerhalb Chinas geschaffen werden. Da Taiwan eine Quelle wichtiger Herstellungskomponenten ist, zum Beispiel von Halbleitern, liegt es in Deutschlands Interesse, seine Beziehungen zu Taiwan zu stärken und die Bemühungen des Europäischen Parlaments, diese zu verbessern, zu unterstützen.

Betonung der Kernfragen der Menschenrechte und verstärkte Beobachtung von Einschüchterungstaktiken wie der Überwachung und Bedrohung ­chinesischer und nicht-­chinesischer Bürgerinnen und Bürger in ­Deutschland. Auf diese Weise sind die Rechte chinesischer Bürgerinnen und Bürger, einschließlich der Uiguren und Hongkonger, global besser geschützt. Eine Konzentration auf grundlegende Werte wird unweigerlich zu einer engeren Annäherung an Verbündete führen. Die neue deutsche Regierung sollte außerdem zeitnah offensichtlichen Bemühungen Chinas, Mitglieder des Bundestags zu bestechen oder sich auf andere Art und Weise in innerdeutsche Angelegenheiten einzumischen, entgegenwirken.

Direktinvestitionen aus China sollten sorgfältiger geprüft und hinterfragt werden, indem Expertinnen und Experten sowie Forschungsinstitute bei der Prüfung beratend hinzugezogen werden. Deutschland sollte schnell handeln, um den Prüfmechanismus für Investitionen aus dem Ausland zu verbessern. Dieser berücksichtigt derzeit die nationale Sicherheit nicht ausreichend. Zwei Entwicklungen der jüngsten Zeit zeigen, warum: erstens eine Investition von China Logistics, einem chinesischen Staatsunternehmen in den Jade-Weser-Port, der sich nahe Deutschlands großem Marinehafen und logistischem Drehkreuz befindet. Zweitens eine Investition des chinesischen Staatsunternehmens, der Reederei COSCO, im Hamburger Hafen. Für solche Investitionen zeigt China sich im Gegenzug nicht erkenntlich. Es ist an der Zeit, diese in Deutschland zu beenden. Reziprozität ist ein Zeichen des Respekts. China betont oft das Konzept von „gegenseitigem Respekt“ – das sollte für beide Seiten gelten.

Stärkere Investitionen in sich selbst, in Nachbarn und in Verbündete. Deutschland muss die Kommerzialisierung seiner Technologien verbessern, anstatt zu erlauben, dass diese woandershin transferiert werden und dadurch ein Verlust an Technologien und Marktanteilen entsteht. Es ist nicht hinnehmbar, dass talentierte deutsche Start-ups sich an ­China wenden müssen, um Risikokapital zu erhalten, da ihnen in Deutschland notwendige Unterstützung verwehrt bleibt.

Genauere Überprüfung von Studierenden aus der VR China und ­ihrer wissenschaftlichen Aktivitäten. Deutschland sollte chinesische Studierende sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus den Geistes- und Sozialwissenschaften inklusive Soziologie, Recht, Politik, Literatur und Kunst weiterhin willkommen heißen. Die neue Regierung sollte jedoch in Erwägung ziehen, chinesische Studierende von sensiblen Forschungsbereichen auszuschließen. Dazu zählen Robotik, Kybernetik, Luft-, Raumfahrt und Meeresforschung. Diese haben alle eine große Bedeutung für Chinas System der militärisch-zivilen Verschmelzung und folglich fördert der Wissenstransfer in diesen Bereichen nur die zunehmende Instabilität in der Region.

Bibliografische Angaben

Tatlow, Didi Kirsten. “China mutiger ins Auge Sehen.” German Council on Foreign Relations. September 2021.

DGAP Memo Nr. 9, September, 2021, 4 pp.

Die englische Version dieses Memos ist im September 2021 erschienen.

In dieser Memo-Reihe bietet die DGAP fundierte Analysen zu Bereichen der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik, die die nächste Legislaturperiode prägen werden.

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