Dieser Aktionsplan ist im Rahmen des Berichts „Smarte Souveränität“ der Ideenwerkstatt Außenpolitik, gefördert durch Stiftung Mercator, entstanden.
In den letzten Jahren ist es der deutschen Regierung nicht gelungen, ihre Ziele im Politikfeld Flucht und irreguläre Migration zu erreichen. Es gab keinen Fortschritt bei der Suche nach einer kohärenten europäischen Asyl- und Grenzpolitik. Es gelang auch nicht, das Massensterben von irregulären Migranten, vor allem bei der Überquerung des Mittelmeers, zu beenden. Von allen Migranten, die weltweit an Grenzen ums Leben kommen, stirbt auch 2021 fast jeder zweite beim Versuch, nach Europa einzureisen. Weder in Syrien noch in Afghanistan, weder in Myanmar, im Südsudan oder anderen wichtigen Ursprungsländern für Flüchtlinge gelang es, die „Fluchtursachen“ zu beseitigen.
Deutschland schaffte es auch nicht, funktionierende Abkommen mit Herkunftsländern zu schließen und eine größere Zahl Ausreisepflichtiger tatsächlich zur Ausreise zu bewegen. Weiterhin gehen fast alle Abschiebungen aus Deutschland in andere europäische Länder. In vielen europäischen Innenministerien herrscht Ratlosigkeit angesichts eines in Zahlen messbaren Scheiterns bei der Abschiebung Ausreisepflichtiger vor allem in jene Länder, aus denen die allermeisten irregulären Migranten über das Mittelmeer kommen.
Die Zahl der Schutzsuchenden, die auf legalen Wegen nach Deutschland kam, ist hingegen – auch aufgrund der Pandemie – weiter gefallen. Zwar ist auch die Zahl der irregulär in die EU und auch nach Deutschland einreisenden Menschen in den letzten Jahren zurückgegangen. In den Jahren 2018, 2019 und 2020 kamen jeweils etwa 100.000 Menschen aus Afrika und Asien irregulär über das Mittelmeer in die EU. Doch die Methoden und Strategien, mit denen dies an den Grenzen der EU erreicht wurde, waren nicht die, die die letzte Bundesregierung gemäß ihres Koalitionsvertrags verfolgen wollte. Im März 2020 brach schließlich auch die maßgeblich von Deutschland vorangetriebene Verabredung zwischen der EU und der Türkei zusammen.
Europa in der Krise
Die Genfer Flüchtlingskonvention wurde 1951 für Europäer beschlossen, unter dem Eindruck der katastrophalen Behandlung von Flüchtlingen vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Heute wird sie weltweit, aber auch an den EU-Außengrenzen, missachtet wie noch nie.
In der Krise steckt auch die EU-Grenzschutzagentur Frontex. Anfang 2021 musste sie sich sogar aus Ungarn zurückziehen, weil die Regierung in Budapest ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs zum ungarischen Asylsystem missachtet. Das Gericht hatte festgestellt, dass Ungarn irregulär eingereiste Männer und Frauen nach Serbien abschiebe, ohne den Einzelfall zu prüfen. Frontex selbst erklärte: „Unsere Anstrengungen zum Schutz der EU-Außengrenzen können nur erfolgreich sein, wenn unsere Aktivitäten und Kooperationen im Einklang mit EU-Gesetzen stehen.“ Genau das steht an immer mehr Außengrenzen in Frage, wo heute regelmäßig und systematisch geltendes EU-Recht gebrochen wird. Auch an der kroatisch-bosnischen und griechisch-türkischen Grenze gibt es seit Jahren regelmäßig Berichte über unrechtmäßige staatliche Gewalt als Mittel der Grenzkontrolle.
Deutsche Verantwortung
Deutschland kann in der weltweiten Debatte über den Flüchtlingsschutz und den humanen Umgang mit Migranten an den Grenzen eine Schlüsselrolle spielen. Das liegt in seinem Interesse, aber auch innerhalb seiner Möglichkeiten. Kein anderes Land der Welt hat in den letzten Jahren so viele Schutzsuchende aufgenommen und gleichzeitig einen so hohen Beitrag zu internationalen Organisationen wie dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) geleistet.
Umfragen unter der deutschen Bevölkerung zeigen: Eine Mehrheit will Kontrolle, aber sie will das Prinzip des Flüchtlingsschutzes nicht aufgeben. Im September 2015 wollten 37 Prozent, dass Deutschland so viele Flüchtlinge aufnehmen solle wie derzeit. 22 Prozent wollten mehr, 33 Prozent weniger. Vier dramatische Jahre später sagten im Januar 2020 laut dem Deutschlandtrend der Tagesschau immer noch 42 Prozent der Befragten, dass Deutschland so viele Flüchtlinge aufnehmen solle wie derzeit; 11 Prozent wollten mehr, 40 Prozent weniger. 2015 wie 2020 gab es eine Mehrheit dafür, gleich viel oder mehr, und eine (große) Minderheit dafür, weniger Flüchtlinge aufzunehmen. Eine mehrheitsfähige Politik würde beides versuchen: weniger irreguläre Migration und Asylanträge jener, die am Ende keinen Schutz erhalten, und gleich viel Schutzbedürftige auf legalem Weg aufzunehmen.
Es muss gelingen, der gefährlichen populistischen Panik über eine angebliche Massenmigration aus Afrika und Asien eine Politik der humanen Kontrolle entgegenzusetzen.
Diese bemerkenswert stabilen Präferenzen geben auch der nächsten Bundesregierung eine Richtung vor. Es geht darum, politisch und praktisch durchsetzbare Lösungen zu finden, um die irreguläre Migration nach Deutschland in Übereinstimmung mit den Menschen- und Flüchtlingsrechten und den von der EU selbstgesetzten Standards zu reduzieren und trotzdem Schutzbedürftigen Schutz zu gewähren. Es muss gelingen, der gefährlichen populistischen Panik über eine angebliche Massenmigration aus Afrika und Asien eine Politik der humanen Kontrolle entgegenzusetzen.
Fakten und Mythen der Asyldebatte
In den Jahren 2014 bis 2018 kamen mehr Menschen über das Mittelmeer nach Europa als je zuvor, insgesamt 1,9 Millionen. Von diesen traf allerdings mehr als die Hälfte in einem Jahr in einem Land ein: Eine Million erreichten Griechenland zwischen April 2015 und März 2016. Es gibt, mit Ausnahme dieser kurzen Zeit, auch aus dem Nahen Osten keine irreguläre Masseneinwanderung in die EU: In den 12 Monaten nach der EU-Türkei Erklärung kamen weniger als 27.000 Menschen irregulär aus der Türkei auf die griechischen Inseln. In der ersten sechs Monaten 2021 erreichten nur 5.000 Personen aus Griechenland irregulär die Türkei – auf dem Land und Seeweg, davon nur 600 Afghanen und weniger als 100 Syrer.
Mythen und Klischees bestimmen die öffentliche Debatte. Seit Jahren erzeugen dramatische Bilder junger Männer, die zu Hunderten die meterhohen Zäune um die spanischen Enklaven in Nordafrika stürmen, den Eindruck einer Belagerung. Dieser Eindruck täuscht. Die Zahlen zeigen, dass es jahrzehntelang keine große irreguläre Migration aus Afrika nach Spanien gab und auch heute nicht gibt. In den letzten 20 Jahren kamen durchschnittlich 15.000 Menschen im Jahr irregulär über das Meer. 2019 waren es etwa 25.000 Personen. Für die zweite Route von irregulären Migranten aus Afrika, die zwischen Tunesien, Libyen und Italien verläuft, zeigt sich ein ähnliches Bild. Zwischen 1999 und 2008 lag die Zahl jener, die über das Meer irregulär nach Italien kamen, bei durchschnittlich 25.000 im Jahr. 2019 waren es nur 11.500, im Jahr 2020 dann knapp über 30.000.
2017 lebten grob geschätzt 17 Millionen Afrikaner außerhalb Afrikas. Von diesen lebten neun Millionen in Europa, davon drei Millionen in Frankreich. Unter diesen kamen fast zwei Millionen aus drei Ländern Nordafrikas: den ehemaligen französischen Kolonien Algerien, Marokko und Tunesien. Ohnehin stammen die meisten der Afrikaner, die in Europa leben, aus einigen wenigen Ländern Nordafrikas. Die überwiegende Mehrheit der Staaten Afrikas ist für Migration nach Europa unbedeutend. Eine der wichtigsten Herausforderungen für eine humane Politik an Europas Grenzen ist daher, die richtige Politik gegenüber Marokko und Tunesien zu finden.
Kaum Rückführungen Aus der EU
Unter den wenigen Afrikanern, die in den letzten Jahren das Mittelmeer überquerten und in der EU einen Asylantrag stellten erhielten, im Gegensatz zu Syrern oder Afghanen, nur ein sehr kleiner Teil internationalen Schutz. Dennoch wurden die wenigsten ausreisepflichtigen Afrikaner abgeschoben.
Am Beispiel Spaniens wird deutlich, was in der EU nicht funktioniert. In Spanien kamen 2018 und 2019 vor allem Marokkaner, Algerier und Westafrikaner irregulär aus Afrika an. 2018 waren es 65.000 Personen. 2019 kamen nur noch halb so viele. 2020 waren es wieder mehr, vor allem aus Marokko.
Kaum einer dieser Migranten stellt einen Asylantrag. Von den wenigen, die es tun, erhält in der Regel kaum jemand einen Schutzstatus. Doch mit Ausnahme von wenigen Marokkanern und Algeriern bleiben trotzdem fast alle in Spanien. Wer es also aus Marokko mit einem kleinen Boot nach Andalusien schafft, oder wem es gelingt, über die lebensgefährlichen Klingen der Zäune von Melilla zu klettern, der kann darauf zählen, in Spanien bleiben zu können. Das Kriterium der Schutzbedürftigkeit spielt dabei kaum eine Rolle. Dies ermutigt andere dazu, es ebenfalls zu versuchen.
Das Scheitern von Abschiebungen Ausreisepflichtiger in afrikanische Länder ist kein spanisches Phänomen. In Frankreich und Italien ist das Bild ähnlich. Die Zahlen zeigen klar, dass in allen europäischen Ländern das derzeitige System von Migrationskontrolle und Asyl gegenüber Bürgern afrikanischer Länder versagt. Auch aus Deutschland gibt es kaum Abschiebungen nach Afrika. 80 Prozent aller Abschiebungen aus Deutschland führen in andere europäische Länder: in die EU, auf den Balkan und nach Osteuropa. Acht Prozent kehren nach Nordafrika zurück. Zwölf Prozent gehen in den Rest der Welt.
Geflüchtete weltweit
2019 gab es laut UNHCR in Afrika mehr als 6,3 Millionen Flüchtlinge und 18,5 Millionen Binnenvertriebene. Die meisten Flüchtlinge kamen aus dem Südsudan, aus Somalia, dem Kongo, dem Sudan und der Zentralafrikanischen Republik. Mehr als eine halbe Million Binnenvertriebene gab es in Burkina Faso, in Kamerun, in der Zentralafrikanischen Republik, im Kongo, Äthiopien, Nigeria, Somalia, dem Sudan und dem Südsudan. In allen diesen Ländern gibt es Fluchtursachen: Verfolgung, Kriege und Konflikte. Wer Flüchtlingen und Binnenvertriebenen in Afrika wirklich helfen will, der muss Wege finden, dies in Afrika zu tun.
Die meisten der vom UNHCR als Geflüchtete erfassten Migranten sind intern Vertriebene (IDPs). Das zeigt, wie schwierig es ist, ein Land zu verlassen, selbst wenn man vertrieben wurde. Die Ansicht, die Flüchtlingssituation sei weltweit seit Jahren vollkommen außer Kontrolle, ist ein Trugschluss. Dieser Eindruck ist auch eine Folge dessen, wie das UNHCR Flüchtlinge und Geflüchtete zählt. Nicht alle der weltweit etwa 20.7 Millionen Flüchtlinge, die das UNHCR erfasst, brauchen internationale Unterstützung.
Deutschland sollte zu einer Stärkung von Kapazitäten in Erstaufnahmestaaten beitragen und diese durch eine multilaterale Initiative fördern.
Wo sind die Geflüchteten, denen geholfen werden muss? Es ist wichtig, genau hinzusehen und zwischen sehr unterschiedlichen Schicksalen zu unterscheiden: Rohingya, die 2018 in Panik aus Myanmar in das arme Bangladesch flohen; Familien aus dem Südsudan, die in den Sudan kamen; Millionen Syrer, die in die Nachbarländern Syriens flohen. Oder: chinesisch-stämmige Bürger Vietnams, die in den 1970er Jahren von China aufgenommen wurden und in den UNHCR-Statistiken immer noch als Flüchtlinge gezählt werden. Die fast acht Millionen Kolumbianer, die vor 20 Jahren vor den Kämpfen in Kolumbien in die Nachbarländer flohen, sowie ihre dort geborenen Kinder. Die Flucht der 5,4 Millionen Palästinenser aus Israel liegt inzwischen so lange zurück, dass es heute um die dritte und vierte Generation geht. Viele dieser Menschen sind heute nicht „auf der Flucht“ und tauchen nur aus politischen, nicht humanitären, Gründen in den Statistiken auf.
Deutschland sollte zu einer Stärkung von Kapazitäten in Erstaufnahmestaaten beitragen und Kapazitäten in überforderten Erstaufnahmestaaten durch eine multilaterale Initiative fördern. Denn ein anerkannter Flüchtling in Schweden, ein Asylsuchender in Hamburg, ein syrischer Flüchtling im Libanon und ein Flüchtling aus dem Südsudan in Uganda sind zwar alle auf der Liste der Flüchtlinge, haben aber sehr unterschiedliche Bedürfnisse.
Empfehlungen
Seenotrettung unterstützen
Es gibt weiterhin eine sehr hohe Zahl von Menschen, die auf dem Weg nach Europa ertrinken. Dies zu beenden ist weder allein mit Seenotrettung noch ohne sie zu erreichen. Das Ziel ist ein doppeltes: dass sich weniger Menschen in Boote einschiffen, aber dass diejenigen, die es weiterhin tun, rechtzeitig gerettet werden. Man muss Menschen in Seenot retten und gleichzeitig darauf hinarbeiten, dass nicht mehr Tausende Menschen in seeuntüchtige, überfüllte Schlauchboote steigen.
Dass man nichts tun kann, stimmt offensichtlich nicht. Im Januar und Februar 2016 ertranken 331 Menschen im östlichen Mittelmeer. Im gesamten Jahr 2017 waren es 62. Der Grund für den Rückgang war die EU-Türkei-Erklärung.
Das Ziel ist ein doppeltes: dass sich weniger Menschen in Boote einschiffen, aber dass diejenigen, die es weiterhin tun, rechtzeitig gerettet werden.
Was ist zu tun? Erstens: Seenotrettungsstellen in Rom und Malta sollten wieder die Seenotrettung im gesamten zentralen Mittelmeer koordinieren, um Schiffbrüchige rechtzeitig aufzuspüren, so wie dies bis 2018 der Fall war. Zweitens sollten private Schiffe ermutigt und unterstützt werden, Schiffbrüchige zu retten. Eine Koalition von europäischen Staaten – hier spielt Deutschland eine zentrale Rolle – sollte sich bereit erklären, alle, die von privaten Rettungsbooten und Handelsschiffen gerettet und in Aufnahmezentren im Malta, Italien, Korsika oder auch Tunesien gebracht werden, binnen zwölf Wochen von dort einreisen zu lassen. So wurde dies 1980 bei den Rettungen der deutschen Cap Anamur im Südchinesischen Meer gehandhabt.
Die Zeit im Aufnahmezentrum sollte für Asylverfahren genutzt werden. Jene, die keinen Schutz in der EU brauchen sollten dann direkt von dort in Herkunftsländer oder Transitländer zurückgeschickt werden, so wie dies 2016 mit der Türkei vereinbart wurde. Dazu braucht es Rückführungsabkommen ab Stichtagen, attraktive Angebote an diese Länder und schnelle Asylverfahren, die tatsächlich funktionieren.
Die bereits existierenden privaten Schiffe für die Seenotrettung, unterstützt von der italienischen Seenotrettungszentrale, könnten vermutlich schon jetzt die allermeisten Schiffbrüchigen in den Gewässern zwischen Libyen, Malta und Italien retten, solange zwei Bedingungen erfüllt sind. Erstens dürften Italien und Malta die privaten Schiffe nicht länger durch bürokratische Schikanen daran hindern, schnell wieder auszulaufen. Und zweitens, und das ist entscheidend, müsste die Zahl der Ankommenden auf dem niedrigen Niveau der letzten zwei Jahre bleiben.
Das internationale Asylsystem erneuern
Im Dezember 2018 nahm die UN-Generalversammlung den „Globalen Pakt für Flüchtlinge“ an, der auf „die dringende Notwendigkeit einer ausgewogeneren Lasten- und Verantwortungsteilung bei der Aufnahme und Unterstützung der Flüchtlinge auf der Welt“ hinweist. Einerseits müsse die Unterstützerbasis über diejenigen Länder hinaus ausgeweitet werden, die schon in der Vergangenheit Flüchtlinge aufgenommen hätten. Andererseits gehe es um den Ausbau von Asylsystemen und den Austausch bewährter Verfahren.
Als Sitz des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) ist Nürnberg die Asyl-Hauptstadt der Welt. 2015 und 2016 wurden 37 Prozent aller weltweiten positiven Asylentscheidungen über Flüchtlingsstatus und subsidiären Schutz in Deutschland getroffen. Im Durchschnitt der letzten sieben Jahren waren es 25 Prozent. Allein 2017 traf das deutsche Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) über 700.000 Entscheidungen – mehr als in der übrigen Europäischen Union, USA, Kanada und Australien zusammen. Die Erfahrungen, die dabei gemacht wurden, sind von europäischer und globaler Bedeutung.
Die deutsche Außenpolitik sollte sich für eine Erneuerung und Weiterentwicklung des internationalen Asylsystems einsetzen.
Denn ein Asylgesetz zu haben genügt nicht. Ohne Ressourcen, Investitionen und Qualitätskontrollen, die es erlauben, aus Erfahrungen und Rückschlägen zu lernen, kann es nicht gelingen, angemessene Standards dauerhaft zu halten und die Entscheidungen in einer akzeptablen Frist zu fällen.
Daher sollte sich die deutsche Außenpolitik auch für eine Erneuerung und Weiterentwicklung des internationalen Asylsystems einsetzen. Das Ziel dabei sollte sein, weltweit die Qualität der Asylsysteme zu erhöhen. Die Bundesregierung sollte in anderen Ländern der Welt gut funktionierende Asylsysteme fördern, Erfahrungen zu vermitteln, wie (auch in Krisen) das Recht auf ein faires Verfahren durch qualifizierte Befrager und Dolmetscher, Qualitätsbewertungen und gut begründete Entscheidungen gewahrt werden kann.
Asylverfahren an den EU-Grenzen verbessern
Das dringendste Anliegen ist es, schnelle und faire Asylverfahren an den EU-Außengrenzen zu ermöglichen. Deutschland, Spanien und andere sollen sich für ein Pilotprojekt für schnelle und faire Verfahren in Ceuta und Melilla zusammentun, dafür Asylbeamte und Dolmetscher bereitstellen und anerkannte Flüchtlinge aufnehmen. Eine solche Zusammenarbeit der Asylbehörden Deutschlands, der Niederlande, der Schweiz und Frankreichs mit ihren Kollegen aus Spanien wäre ein Modell für zukünftige Asylkooperationen. Das Ziel muss sein, die meisten Asylanträge innerhalb von acht Wochen zu entscheiden:
Im nächsten Schritt sollten die neue Bundesregierung und das BAMF dann qualitätsvolle Asylverfahren überall im Mittelmeerraum unterstützen und zu diesem Zweck strategische Kooperationen mit Partnerstaaten und deren Behörden eingehen. Solche Kooperationen sollten später auf Europas Nachbarn, von den Westbalkanstaaten bis nach Nordafrika, erweitert werden.
Rückführungen ermöglichen und beschleunigen
Die Abschiebung von Ausreisepflichtigen funktioniert nur dann, wenn Partnerstaaten ein Interesse an der Kooperation haben und wenn es sich um strategische Abschiebungen nach einem Stichtag handelt. Dabei ist das Versprechen von legaler Mobilität das beste Mittel, um Kooperation zu erreichen. Tatsächlich gibt es einen offensichtlichen Zusammenhang zwischen fehlenden legalen Reisemöglichkeiten und dem Scheitern von Abschiebungen. Erfolgreiche Abschiebungen erfolgen in jene Länder, deren Bürger visafrei in die EU einreisen können. Hier haben Regierungen ein Interesse daran, mit der EU zu kooperieren. Das gilt für die Länder des Westbalkans, aber auch für Georgien, Moldawien und die Ukraine.
Derzeit gibt es für Afrikaner nur wenige Möglichkeiten, legal nach Europa zu reisen. Es ist sehr schwer für Menschen aus Subsahara-Afrika, ein immer teureres Schengenvisum zu bekommen. Im Jahr 2018 nahm allein das finnische Konsulat im russischen St. Petersburg mehr als 500.000 Visaanträge entgegen. Die allermeisten wurden genehmigt. In Nigeria wurden in allen Konsulaten der EU zusammen nur 89.000 Visaanträge gestellt, von denen jeder zweite abgelehnt wurde.
Abschiebe-Realismus bedeutet anzuerkennen, dass es ohne Kooperation und Rücksichtnahme auf die Interessen der Herkunfts- und Transitstaaten keine erfolgreiche Abschiebepolitik geben kann.
Abschiebe-Realismus bedeutet daher anzuerkennen, dass es ohne Kooperation und Rücksichtnahme auf die Interessen der Herkunfts- und Transitstaaten keine erfolgreiche Abschiebepolitik geben kann. Die Tatsache, dass Bürger fast aller Länder Zentral- und Südamerikas visafrei in die EU kommen können, aber kein einziger afrikanischer Staat Visafreiheit für Reisen in die EU genießt ist ein dramatisches Symbol des tiefen Grabens zwischen den Kontinenten. Die neue Bundesregierung sollte sich innerhalb der EU für rasche Veränderungen einsetzen.
Länder wie Marokko und Tunesien spielen dabei eine herausgehobene Rolle. Marokko ist das wichtigste Herkunftsland für die irreguläre Migration nach Spanien. Es ist auch ein bedeutendes Transitland. Würde Marokko seine Staatsbürger schnell zurücknehmen, ein glaubwürdiges Asylsystem aufbauen und bei der Rücknahme von irregulären Migranten aus Drittstaaten kooperieren, wären das Sterben im westlichen Mittelmeer und die Dramen an den Zäunen von Ceuta und Melilla bald Geschichte.
Um das zu erreichen, sollte die EU Marokko das gleiche Angebot machen, das sie 2008 der Ukraine machte: Marokko sollte sich verpflichten, seine Bürger und alle irregulären Migranten, die nach einem vereinbarten Stichtag von Marokko irregulär einreisen und nicht schutzbedürftig sind, sofort zurückzunehmen. Im Gegenzug sollten die EU und eine Gruppe von Mitgliedsstaaten marokkanischen Bürgern Stipendien und Visaerleichterungen gewähren. Zugleich sollten sie die Senkung der Visa-Kosten in Aussicht stellen und mit der Liberalisierung der Visa-Vergabe beginnen. Das würde irreguläre Grenzübertritte sofort reduzieren.
Eine erfolgreiche Mobilitätspartnerschaft würde Europas Sicherheit verstärken, denn Marokko würde ein Interesse haben, schnelle Abschiebungen von ausreisepflichtigen Marokkanern und Straftätern zu ermöglichen. Das belegt das Beispiel der Balkanländer heute, deren Bürger seit 2009 und 2010 visafrei in die EU einreisen dürfen. Die Rücknahme ausreisepflichtiger Bürger war von Anfang an eine Bedingung.
Überdies würden von einer solchen Vereinbarung zwei Signale ausgehen: dass die Flüchtlingskonvention und das Recht auf Asylverfahren nicht nur in Europa, sondern auch von aufstrebenden Ländern auf anderen Kontinenten ernst genommen und glaubwürdig geprüft werden, mit der gleichen Ernsthaftigkeit, mit der etwa das UNHCR schon in den letzten Jahrzehnten weltweit seine Asylverfahren durchführte; und dass Visa-Liberalisierung, das Versprechen legaler Mobilität in die EU auf der Basis von Kooperation, auch für afrikanische Länder eine Option sein kann.
Verpflichtung zu jährlicher Richtzahl von Resettlements
Deutschland sollte sich dazu verpflichten, jährlich eine bestimmte Anzahl von Geflüchteten aufzunehmen. Für die neue Bundesregierung ist besonders das Beispiel Kanadas interessant: 2019 gab es in Kanada bei 37 Millionen Einwohnern etwa 60.000 Asylanträge, davon betrafen 30.000 Resettlements, die anderen Asylanträge, die an Kanadas Grenzen und im Land gestellt wurden. Würde Deutschland im gleichen Verhältnis Asylanträge entgegennehmen wie Kanada, wären dies etwa 135.000 Asylanträge im Jahr, davon wären 67.000
Neuansiedlungen.
Eine Politik, die dazu führen würde, dass in einem durchschnittlichen Jahr 80.000 Menschen einen Asylantrag in Deutschland stellen, von denen die Hälfte in einem geordneten Verfahren durch Neuansiedlungen und Umsiedlungen ins Land käme, wäre ein enormer Fortschritt zum Chaos der letzten Jahre: Sie würde mehr Schutz, schnellere Integration und weniger gefährliche Reisen über das Meer bedeuten.
Die nächste Bundesregierung sollte dabei zusammen mit Ländern wie Schweden, Frankreich und Kanada eine Resettlement-Koalition ins Leben rufen, die eine jährliche Neuansiedlung von Flüchtlingen von mindestens 0,05 Prozent der Bevölkerung im Aufnahmeland zusagt. Dies wären für Deutschland rund 40.000 Flüchtlinge im Jahr. Mit anderen EU-Staaten wären so 120.000 Resettlement-Zusagen pro Jahr erreichbar, mit den USA und Kanada 250.000. Ohne irgendein Land zu überfordern, als konkrete Hilfe für Schutzbedürftige und Erstaufnahmeländer.
Neue EU-Türkei-Erklärung und Pilotprojekte für schnellere Außengrenzen-Verfahren
Die neue Bundesregierung sollte der Türkei und Griechenland im Rahmen einer neuen EU-Türkei-Erklärung vorschlagen, jedes Jahr bis zu 20.000 anerkannte Flüchtlinge in Deutschland aufzunehmen. Voraussetzung ist, dass es auf den griechischen Inseln in Kooperation mit dem BAMF tatsächlich zu schnellen Asylverfahren kommt. Ebenso sollte es eine neue Vereinbarung mit der Türkei geben. Damit würde die Zahl irregulär Ankommender einbrechen, ebenso die Zahl der Toten.
In einem zweiten Schritt sollte Deutschland Spanien, Malta und Italien anbieten, bis zu 10.000 Menschen im Jahr aus gemeinsamen Aufnahmeeinrichtungen im Mittelmeer aufzunehmen. Auch dort müsste es im Gegenzug schnelle gemeinsame Asylverfahren und Rückführungen Nichtschutzbedürftiger geben. Außerdem sollte Deutschland auf Einigungen mit afrikanischen Herkunftsstaaten und mit den nordafrikanischen Nachbarn Marokko und Tunesien hinarbeiten. Damit würde die irreguläre Migration über das Mittelmeer einbrechen und damit auch die Zahl der in Deutschland gestellten und am Ende oft erfolglosen Asylanträge.
Die nächste deutsche Regierung sollte sich für die nächsten fünf Jahren ein großes humanitäres Ziel setzen: In einer immer reicheren Welt darf kein Flüchtling mehr in Not leben.
Geflüchtete weltweit mit mehrjährigen Förderpaket unterstützen
Die nächste deutsche Regierung sollte sich für die nächsten fünf Jahren ein großes humanitäres Ziel setzen: In einer immer reicheren Welt darf kein Flüchtling mehr in Not leben. Im Zusammenwirken mit einer Koalition anderer Staaten wäre dies erreichbar: UNHCR, WFP, UNICEF und andere Organisationen würden von den Staaten, die sich diesem Ziel verschreiben, die erforderlichen Ressourcen für ein mehrjähriges Budget erhalten. Dabei sollten insbesondere akut betroffene Erstaufnahmestaaten wie Uganda oder Bangladesch gestärkt werden. Die Organisationen sollten damit etwa 15 Millionen Flüchtlingen in Not eine würdevolle Grundversorgung in ihren Aufnahmestaaten – Bargeldhilfe, Zugang zu Schulen und Gesundheitsversorgung – ermöglichen.
Für ein solches Modell gibt es ein konkretes Vorbild: die Hilfe für Millionen syrische Flüchtlinge, die seit 2016 von der Türkei mit EU-Geldern bereitgestellt wird. Sie ist unbürokratisch und stärkt die Autonomie und Würde des Einzelnen. Die Bundesregierung sollte vorschlagen, Flüchtlingen in Bangladesch und Uganda eine ähnliche Hilfe anzubieten. Da das Geld in den Aufnahmestaaten ausgegeben würde, würde es diesen zugutekommen. Nach spätestens zehn Jahren würde diese Grundversorgung je nach Bedarf durch andere Hilfen ersetzt, und das UNHCR würde sich zurückziehen.
Mehr Staaten am globalen Asylsystem beteiligen
Sowohl aus humanitären Gründen als auch im eigenen Interesse sollte die neue Bundesregierung mehr Länder mobilisieren, einen Beitrag zu leisten. Sie kann sich dafür auf den Globalen Flüchtlingspakt berufen, der am 17. Dezember 2018 mit den Stimmen der 181 Staaten der UN-Generalversammlung offiziell angenommen wurde: Derzeit beherbergen 10 Staaten allein 80 Prozent der weltweiten Flüchtlinge. Lediglich 15 Staaten fördern das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) mit mindestens 20 Millionen US-Dollar pro Jahr (Deutschland 2017 mit circa 477 Millionen. US-Dollar). Die restlichen rund 180 Staaten engagieren sich derzeit nicht oder nur in sehr geringem Ausmaß. Staaten, die sich bisher kaum engagiert haben, sollten mehr Verantwortung übernehmen.
Das auffälligste Merkmal internationaler Solidarität mit Geflüchteten in der Welt heute ist das fehlende Engagement von Schwellenländern, die schon lange nicht mehr arm sind, sich aber im internationalen humanitären System kaum engagieren. Das gilt vor allem für jene Länder, die heute den Lebensstandard eines Deutschlands aus der Mitte der 1960er Jahre erreicht haben. Fast 170 Staaten haben heute ein Asylsystem, doch immer noch werden die meisten positiven Asylentscheidungen in einigen wenigen Ländern vergeben. Die jährlichen Global Trends-Berichten des UNHCR zeigen den weltweiten Zustand von Asyl. Vor dem Ausbruch der Pandemie, zwischen 2013 und 2019
- wurden 14 Millionen Asylanträge weltweit gestellt.
- erhielten 4,2 Millionen Menschen weltweit internationalen Schutz nach einem Asylverfahren.
- gewährten Deutschland, Schweden und Österreich 1,4 Millionen Menschen internationalen Schutz im Anschluss an ein Asylverfahren. Das ist ein Drittel der weltweiten Gesamtzahl, obwohl diese Länder 1,3 Prozent der Weltbevölkerung stellen.
- wurden mehr als die Hälfte aller positiven Asylentscheidungen weltweit in europäischen Demokratien getroffen: in EU-Mitgliedstaaten, Großbritannien, der Schweiz und Norwegen.
- Japan gewährte in diesem Zeitraum 657 Menschen Schutz. China niemandem. Schweden gab mehr Menschen Schutz, 223.000, als zehn andere Länder mit hohem und mittlerem Einkommen und einer Gesamtbevölkerung von 3,8 Milliarden Menschen.
Die Bundesregierung sollte sich diplomatisch dafür einsetzen, dass auch Schwellenländer sich am globalen Asylsystem verteidigen, und gleichzeitig durch mehr Resettlement zeigen, dass dies nicht bedeutet, dass sich Deutschland vom Flüchtlingsschutz abwenden wird. Zwischen 2016 und 2019 ist die Zahl jener, die nach einem Verfahren zur Feststellung des Flüchtlingsstatus weltweit Schutz erhielten, von 900.000 auf 530.000 gesunken. Dies spiegelt eine einfache und beunruhigende Realität wider: Weniger potenzielle Flüchtlinge erreichen Länder, die bereit und in der Lage sind, ihnen internationalen Schutz zu gewähren.
Wenn sich das nicht ändert, hat die Flüchtlingskonvention auf die Dauer keine Zukunft als globale Leitlinie. Diese zu bewahren, und sich sowohl in Europa und weltweit für humane Grenzen einzusetzen, muss ein zentrales Anliegen der nächsten Bundesregierung sein.