Geoökonomie
Was auf dem Spiel steht
Die geopolitischen Entwicklungen stellen die EU derzeit vor große Herausforderungen: Dazu gehören sowohl der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine als auch die zunehmende strategische Rivalität zwischen China und den USA sowie eine geschwächte Global Governance Struktur. In diesem kritischen Umfeld muss die zukünftige Europäische Kommission eine aktive geopolitische Rolle einnehmen, selbst wenn sie über begrenzte Kompetenzen in Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik verfügt.
Dafür sollte die Union verstärkt den Hebel der Gemeinsamen Handelspolitik nutzen, die einen der wichtigsten Pfeiler der strategischen Beziehungen zwischen der EU und Drittländern darstellt. Auf Basis der Handelsstrategie der „offenen strategischen Autonomie“ sollte sie ihre Handelspolitik in Zukunft aktiv nutzen, um auf globaler Ebene ihre strategischen Ziele umzusetzen und ihre Interessen und Werte zu verteidigen.
Was zu tun ist
1.) Auf unilateraler Ebene innerhalb der EU müssen die Handelsinstrumente gestärkt werden, um faire Wettbewerbsbedingungen zu schaffen. Dies bezieht sich auf Handelsschutzmaßnahmen, die Anwendung des Anti-Coercion Instruments sowie die schnelle Umsetzung der „Strategie für wirtschaftliche Sicherheit“. Dabei ist der laufende Prozess zur Stärkung der europäischen Investitionsprüfung und der europäischen Koordination bei Exporten von Dual-Use-Gütern der richtige Weg.
2.) Auf bilateraler Ebene müssen Handelspartnerschaften durch ambitionierte Freihandelsabkommen (FTAs) vorangetrieben werden. Diese können die Globalisierung gestalten, indem sie europäische Standards, Normen und Werte exportieren und Ländern und Regionen alternative und nachhaltige Abkommen anbieten, die besonders unter dem Druck von China stehen. Solche Abkommen sind auch der beste Weg, um in einem konfliktreichen geoökonomischen Umfeld Partner und Verbündete zu finden.
Die neue Kommission muss sich daher dringend dafür einsetzen, die Verhandlungen über bestehende Abkommen abzuschließen etwa mit Australien, Chile, Mexiko und einzelnen ASEAN-Ländern. Dafür müssten auch Kompromisse bei Nachhaltigkeitsfragen gefunden werden, um die Länder des Globalen Südens als Partner zu gewinnen. Dies gilt etwa für das EU-Mercosur-Abkommen sowie die laufenden Verhandlungen zu FTAs mit Indonesien und Indien. Aufgrund der schwierigen Verhandlungen müssen auch alternative Formate in der Handelspolitik gefunden werden. Dazu zählen sektorspezifische Abkommen, Abkommen über den digitalen Handel, Energie- und Rohstoffpartnerschaften sowie gegenseitige Anerkennungsabkommen. Diese müssen jedoch WTO-kompatibel sein.
3.) Schließlich bleibt der multilaterale Rahmen das entscheidende Forum für Handelspolitik, da sie den Handel auf globaler Ebene regelt und transparente, nichtdiskriminierende Regeln setzt, die für alle 166 WTO-Mitgliedstaaten gelten. Leider steht die WTO nach MC13 vor einer höchst ungewissen Zukunft. Daher muss sich die EU auf die WTO-Reform (Streitbeilegung, Agrarwirtschaft) konzentrieren und gleichzeitig neue Handelsfragen durch Koalitionen der Willigen (plurilaterale Abkommen) vorantreiben.
Eines ist sicher: Die geoökonomischen Herausforderungen werden nicht kleiner, und die EU benötigt Verbündete und Partner. Aufgrund der besonderen EU-Kompetenz im Bereich Handel kann die Europäische Kommission ein wichtiger geopolitischer Akteur sein. Doch sie muss ihre Kompetenz aktiver nutzen, vor allem mit Blick auf eine positive Handelsagenda. Einigkeit zwischen den Mitgliedstaaten spielt hierbei eine Schlüsselrolle, wenn die EU ihre strategische Handelspolitik erfolgreich nutzen möchte. Die Kommission muss daher Wege finden, um dies zu gewährleisten.
Technologie und Cyberspace
Was auf dem Spiel steht
Drei Jahre nachdem EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton festgestellt hat, dass der EU eine Doktrin für den Cyberspace fehlt, besteht dieses Defizit weiterhin. Mit ihrer „Gemeinsamen Mitteilung zur Cyberabwehrpolitik“ versucht die EU, Angriffe durch Abschreckung und Sanktionen abzuwehren. Diese Strategie ignoriert jedoch die Tatsache, dass solche Maßnahmen bei der Abschreckung von bösartigen globalen Akteuren unterhalb der Schwelle eines bewaffneten Konflikts bisher weitgehend erfolglos geblieben sind. Auch wenn eine schrittweise Erhöhung der Resilienz sowie Verringerung der Anreize gegenüber Angriffen mittels Sanktionen und Verurteilungen zwar notwendig ist, reicht diese nicht aus, um Cyberoperationen abzuwehren. Darüber hinaus konzentriert sich die derzeitige Cyber-Politik der EU vor allem darauf, Gefahren aus Russland abzuwehren und gleichzeitig eine Partnerschaft mit der Ukraine anzuvisieren. Dabei werden jedoch die Cyber-Herausforderungen durch China völlig außer Acht gelassen, obwohl die Volksrepublik langfristig eindeutig die größere Bedrohung darstellt.
Was zu tun ist
Die EU sollte nicht länger versuchen, das Verhalten feindlicher Akteure zu beeinflussen. Stattdessen sollte sie sich darauf konzentrieren, den Cyberspace selbst proaktiv zu gestalten, das Gleichgewicht zwischen Angriff und Verteidigung zum eigenen Vorteil zu verschieben und hervorzuheben, warum es entscheidend ist, in jeder dyadischen Beziehung den Verteidiger gegenüber dem Angreifer zu stärken. Dieses Vorgehen würde die Kosten eines Angriffs für böswillige Akteure erhöhen. Die EU-Doktrin müsste somit vom traditionellen Abschreckungsansatz zu einem Ansatz übergehen, der sich als Verteidigungsüberlegenheit im Cyberspace zusammenfassen lässt.
Dementsprechend sollte sie sich bei ihrer Strategie zur Sicherung des Cyberspace auf folgende Aspekte konzentrieren:
- Cyberoperationen ihren Einfluss nehmen, indem Maßnahmen ergriffen werden, um die Verbreitung von Malware in Unternehmen, Ministerien und bei Einzelpersonen zu reduzieren. Dies kann zum Beispiel mittels Informationsaustausch geschehen.
- Reduzierung der disruptiven Auswirkungen von Cyberoperationen durch Redundanz
- Begrenzung des Ausmaßes von Angriffen mithilfe von Instrumenten wie der Multifaktor-Authentifizierung
Die vorgeschlagenen Strategien sehen begrenzte Cyberoperationen vor, um die Aktivitäten feindlicher Staaten zu stören. Solche offensiven Cyberoperationen haben jedoch keine Priorität und sind nicht dazu gedacht, das Verhalten des Gegners zu ändern oder relative Vorteile gegenüber feindlichen Staaten zu erlangen. Somit unterscheidet sich die Strategie zum Beispiel von der Haltung der USA im Cyberspace, die die Einschleusung von Schadsoftware in die kritische nationale Infrastruktur von Gegenspielern fördert, um einen Abschreckungsmechanismus zu schaffen und diese von Angriffen oberhalb der Schwelle eines bewaffneten Konflikts abhält. Die hier vorgeschlagene EU-Strategie zur Sicherung der Cyber-Domäne sieht die Einschleusung von Schadsoftware zu einem solchen Abschreckungszweck nicht vor.
Die Tatsache, dass sich, wie erwähnt, das aktuelle Dokument zur Cyber-Politik der EU hauptsächlich auf Russland konzentriert und Cyber-Bedrohungen aus China nicht einbezieht, muss schnell geändert werden. Auf dem Weg zu mehr Cybersicherheit muss die EU zudem Partner finden, mit denen sie eng zusammenarbeitet, um den von China ausgehenden Bedrohungen zu begegnen. Sie sollte ihren Cyberdialog mit Indien vertiefen und nach Möglichkeiten der Kooperation suchen. Die EU-Mitgliedstaaten und Indien könnten zum Beispiel Joint Cybersecurity Advisories herausgeben und Einschätzungen über chinesische Cyber-Bedrohungsszenarien und -gruppierungen austauschen.
Was auf dem Spiel steht
Im Oktober 2023 leitete die Europäische Kommission eine Antisubventionsuntersuchung zu Elektrofahrzeugen (EVs) aus China ein. Diese bietet der EU die Möglichkeit, über die reine Rhetorik hinauszugehen, die China als „Partner, Wettbewerber und Systemrivalen“ bezeichnet. Obwohl das Vorgehen in China auf Unmut gestoßen ist, sollte die EU aus Angst vor Vergeltungsmaßnahmen nicht zögerlich oder untätig bleiben. Dass die Volksrepublik derzeit die grünen Lieferketten dominiert, ist kein Zufall. Ihre Vormachtstellung ist das Ergebnis einer Industriestrategie, die darauf abzielt, asymmetrische technologische Abhängigkeiten vom Massenexport staatlich subventionierter Überkapazitäten zu schaffen, was zu wesentlich billigeren chinesischen Produkten führt. Inmitten des anhaltenden Wettbewerbs ist die Lieferkette auf dem EV-Markt ein Beispiel für die Auswirkungen von Chinas Fähigkeiten, neue aufstrebende Märkte zu dominieren. Die Europäische Kommission muss schnell und effizient Maßnahmen gegen chinesische Subventionen ergreifen. Andernfalls riskiert sie, in den kommenden Jahren nicht nur den EV-Sektor zu verlieren.
Was zu tun ist
Konkret muss die Kommission die mit der genannten Untersuchung einhergehenden Maßnahmen zügig umsetzen, denn die subventionierte chinesische Produktion kann bemerkenswert schnell einen großen Umfang erreichen. Auf globalen Märkten, auf denen diese Kapazitäten die Inlandsnachfrage übersteigen, kann China durch den Export von Überschüssen innerhalb weniger Monate einen dominanten Vorsprung aufbauen. Die EV-Industrie ist nur das jüngste Beispiel dafür. China hat zudem angekündigt, diesen Sektor weiter auszubauen – obwohl seine EV-Produktionskapazitäten während des gesamten Jahres 2023 unter der Auslastungsrate von 50 Prozent fielen, es über einen erheblichen Überschuss an Batterielagerbeständen verfügte und die prognostizierte Produktion bereits deutlich über der weltweiten Nachfrage lag.
Der ursprünglich angekündigte Zeitrahmen von dreizehn Monaten für die Antisubventionsuntersuchung der EU könnte zu lang sein. In der Zwischenzeit werden die europäischen Märkte weiterhin mit Elektroautos aus chinesischer Produktion überschwemmt, die von einem unfairen Vorteil profitieren. Die derzeitige Kommission sollte die Untersuchung beschleunigen und sich bemühen, vorzeitig konkrete vorläufige Ergebnisse vorzulegen. Damit würde sie signalisieren, dass der europäische Automobilmarkt für alle Hersteller von Elektrofahrzeugen fair bleiben soll. Die Festlegung von Standards, wie mit illegalen Subventionen umgegangen werden sollte, kann dabei auf drei verschiedenen Ebenen Wirkung zeigen:
1.) Auf europäischer Ebene wird verhindert, dass Wettbewerber einen unfairen Vorteil auf dem EU-Binnenmarkt erlangen. Die Begrenzung des Zustroms illegal subventionierter E-Fahrzeuge in den EU-Binnenmarkt trägt dazu bei, dass die europäischen Automobilhersteller weiterhin mit den in China hergestellten E-Fahrzeugen wettbewerbsfähig bleiben können, und verhindert gleichzeitig, dass Arbeitsplätze in Europa verlorengehen. Der EU-Markt muss für den Wettbewerb mit chinesischen Herstellern offenbleiben, doch die Preise müssen strenger kontrolliert werden, um sicherzustellen, dass die europäischen Automobilhersteller gleichen Wettbewerbsbedingungen unterliegen.
2.) Auf der Ebene EU-China werden klare Grenzen gezogen, die die europäischen Interessen schützen, ohne die bilateralen Beziehungen zwischen der EU und China zu beeinträchtigen. Diese Beziehungen sind von entscheidender Bedeutung, sei es für den Klimaschutz, die Energiewende oder die Wirtschaft im Allgemeinen. Beide Partner sind sich zunehmend uneinig, weswegen sich die EU in der Vergangenheit aus Angst vor Vergeltungsmaßnahmen oft zögerlich gegeben hat. Da im geschilderten Fall jedoch existenzielle Interessen Europas bedroht sind, sollte er als Anlass genutzt werden, um das Zögern der Kommission zu überwinden und neue Bedingungen für die Beziehungen festzulegen.
3.) Auf globaler Ebene kann der Fall der E-Fahrzeuge einen Präzedenzfall dafür schaffen, wie Europa Chinas subventionsgetriebenen Massenexporten begegnen kann, ohne in Protektionismus zu verfallen. Die EU ist nicht der einzige Markt, der mit diesem Problem zu kämpfen hat. Aufstrebende Märkte in Asien und Lateinamerika sind mit ähnlichen Tendenzen konfrontiert. Während diese Märkte womöglich nicht den politischen Willen oder die administrativen Instrumente haben, um China im Handel herauszufordern, kann die EU mit gutem Beispiel vorangehen. Sie kann die Bemühungen dieser Länder unterstützen, sich zu wehren, indem sie einen Fahrplan für Maßnahmen oder andere Formen des Kapazitätsaufbaus anbietet.
Energie und Nachhaltigkeit
|
Was auf dem Spiel steht
Die Energiepolitik wird für die neue Europäische Kommission an erster Stelle stehen. Nach der ehrgeizigen Agenda ihrer Vorgängerin muss die neue EU-Führung die konkurrierenden Forderungen ihrer Wählerinnen und Wähler nach einer Energieversorgung erfüllen, die gleichzeitig erschwinglich, sicher und nachhaltig ist. Um diese drei Dimensionen der Energiepolitik miteinander in Einklang zu bringen, bedarf es sowohl einer soliden Politik als auch eines starken Netzwerks globaler Energiepartnerschaften.
Was zu tun ist
Um Sicherheitsbelange mit Nachhaltigkeitsverpflichtungen in Einklang zu bringen, sollte die nächste Kommission drei Prioritäten auf ihre Energieagenda setzen:
1.) Stärkung der Energieallianzen: Die EU sollte die Energiebündnisse mit traditionell engen Verbündeten wie Norwegen, dem Vereinigten Königreich und den USA weiter festigen. Zu diesem Zweck sollte die kürzlich geschaffene Grüne Allianz zwischen der EU und Norwegen zu einem Aktionsplan weiterentwickelt werden, der die Zusammenarbeit bei grünen Technologien und die Einbindung der norwegischen Wasserkraft in das EU-Energienetz genau regelt. Ebenso sollte die Gruppe der EU-Nordsee-Energiekooperation das Vereinigte Königreich vollständig einbeziehen, um die Kooperation im Bereich der Offshore-Windenergie und der Netzanbindung zu fördern, während die politischen Verantwortlichen in London und Brüssel ihre Politik rund um die Kohlenstoffpreisgestaltung und die Grenzausgleichsregelungen vereinheitlichen sollten.
Da der Energiehandel für die transatlantischen Beziehungen zunehmend an Bedeutung gewonnen hat, sollten bestehende institutionelle Verbindungen wie die EU-US-Taskforce für Energiesicherheit und der EU-US-Energierat ebenfalls zu einer vertieften strategischen Zusammenarbeit in den Bereichen Klima, Energie und grüne Technologien weiterentwickelt werden.
2.) Bündelung der Nachfragemacht: Die EU sollte ihre Nachfragebündelung für den internationalen Energiehandel ausbauen. Aufbauend auf dem Erfolg der Energieplattform als Krisenreaktion zur Koordinierung von Gaseinkäufen sollte ein ständiger Mechanismus, der die Nachfrage und gemeinsame Beschaffung von fossilen Brennstoffen und Wasserstoff bündelt, eine zentrale Säule der europäischen Energiesicherheitsarchitektur bilden. Indem die EU-Mitgliedstaaten daran gehindert werden, sich gegenseitig auf dem globalen Energiemarkt zu überbieten, wird die Verhandlungsposition der Union gestärkt, wodurch günstigere Einkaufspreise erzielt werden können. Dies kommt auch den Lieferländern zugute, die dadurch eine größere Planungssicherheit für Investitionen und Produktionsziele erhalten.
3.) Konsolidierung der Klimaverpflichtungen: Die EU und ihre Mitgliedstaaten sollten ihre Bemühungen zur Dekarbonisierung intensivieren. Die nächste Kommission sollte die Mitgliedstaaten dazu drängen, die Subventionen für fossile Brennstoffe vollständig abzubauen, die sich aufgrund der EU-weiten Energiekrise in 2022 mit 123 Milliarden Euro zuletzt mehr als verdoppelt haben. Diese Subventionen untergraben die Fortschritte bei der Energiewende in Europa und schaden dem Image der EU als globaler Vorreiter in Sachen Umweltpolitik.
Unter Einhaltung der ehrgeizigen Klimaziele der EU für 2030 sollte sich die neue Kommission weiterhin auf die Reduzierung der Emissionen und die Förderung erneuerbarer Energien konzentrieren. Um die Dekarbonisierung weiter voranzutreiben, sollte sie eine Strategie für die Kohlendioxidabscheidung, -nutzung und -speicherung entwickeln und energieintensive Branchen wie das Baugewerbe, die Chemieindustrie, die Schifffahrt und den Transportsektor ins Visier nehmen.
Im Bereich der grünen Energie sollte die Kommission die Interoperabilität der Netze erleichtern und die Kapazitäten für die Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien ausbauen. Investitionsinstrumente wie REPowerEU oder das Global Gateway der EU werden dabei eine Schlüsselrolle spielen, da sie nicht nur Mittel bereitstellen, sondern auch Möglichkeiten für den Aufbau von Partnerschaften über die Grenzen der EU hinaus bieten. Die Förderung internationaler Zusammenarbeit im Energiebereich wird sich als entscheidend für die weitere Diversifizierung des EU-Energiemixes und die Ausweitung des Zugangs zu den Rohstoffen erweisen, die für die Energiewende benötigt werden.
Sicherheit und Verteidigung
Was auf dem Spiel steht
Als Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen 2019 die „geopolitische Kommission“ ausrief, waren die Erwartungen hoch. Drei Jahre später, in Reaktion auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, sprach der Hohe Vertreter der Europäische Union für Außen- und Sicherheitspolitik Josep Borrell vom „geopolitischen Erwachen Europas“. Tatsächlich ist die EU gegenwärtig an mehreren Fronten mit Kriegen und Krisen konfrontiert, die ein geopolitisch strategisches Denken und Handeln erfordern. Doch die Reaktionen der Union fallen gemischt aus. Zur Unterstützung der Ukraine werden zwar über die Europäische Friedensfazilität erstmals gemeinsame Bestellungen an Waffen und Kriegsmaterial finanziert und im Rahmen der EU-Ausbildungsmission EUMAM UA finden Ausbildungen für ukrainische Soldat:innen statt. Dennoch zeigen sich große militärische Kapazitäts- und europäische Produktionsdefizite und auch bei der gemeinsamen Beschaffung und Lieferung von Munition tun sich Lücken auf. Inmitten der Spannungen zwischen Kosovo und Serbien, im Bergkarabach-Konflikt sowie im Israel-Hamas-Krieg hat die EU nur begrenzten Einfluss.
Was zu tun ist
Die nächste Europäische Kommission sollte sich mit Blick auf Sicherheit und Verteidigung folgende drei Prioritäten setzen:
1.) Umsetzung einer (Gesamt-)Strategie: Die EU muss ausdifferenzieren, wann und wie sie in Kriegen und Konflikten militärisch außerhalb der Union tätig werden kann und soll. Zwar wurden mit dem Strategischen Kompass 2022 die Ziele und die Gefahrenperzeption grundsätzlich niedergeschrieben. Aus dieser Gefahrenperzeption geht jedoch nicht hervor, unter welchen Bedingungen und in welcher Form die EU im Fall von Kriegen oder gewaltsamen Konflikten konkret eingreifen soll. Letztlich ist dies auch eine Frage der Ressourcen. Folgende Beispiele zeigen die diesbezügliche Ambiguität der EU: Die Beendigung der militärischen Ausbildungsmission in Mali deutet auf eine Abkehr von ambitionierten Formen der EU-Konfliktintervention hin. In Afghanistan oder Syrien war die EU bei potenziellen Stabilisierungsmaßnahmen erst gar nicht präsent. Dagegen rief sie erst kürzlich die Operation EUNAVFOR ASPIDES zur Stabilisierung im Roten Meer ins Leben.
Die EU darf nicht den vorschnellen Schluss ziehen, dass künftig der einzige Kampf in der Verteidigung des EU-Territoriums zu führen sein wird (gegenüber Russland), selbst wenn der Strategische Kompass dies zum Ausgangspunkt nimmt. Denn wenn die Union geopolitisch tatsächlich mehr Verantwortung übernehmen will, muss sie global auch mehr Einfluss und Handlungsfähigkeit demonstrieren. Dies funktioniert auch über verstärkte militärische sowie zivile GSVP-Missionen und -Operationen.
2.) „Signaling“: Die EU sollte vermehrt und auch öffentlichkeitswirksam gegenüber Partnern sowie Gegnern signalisieren, dass sie über die notwendigen Instrumente zur Konfliktbewältigung verfügt. Die Einsatzfähigkeit der bis zu 5.000-Personen-starken europäischen Schnelleingreiftruppe „EU Rapid Deployment Capacity“ (RDC) ist für 2025 vorgesehen, wenngleich offene Fragen zur Kostenteilung bei Operationen und gemeinsamer militärischer Kommandostrukturen bestehen. Die erste militärische Krisenmanagementübung wurde - wie vorgesehen - im Herbst 2023 in Spanien abgehalten. Die RDC sollte nicht das Schicksal der seit 2007 einsatzfähigen EU-Battlegroups erleiden, die trotz vorhandener externer Konflikte noch nicht zum Einsatz gekommen sind.
3.) Stärkung der europäischen Verteidigungsindustrie: Will die EU eine ambitionierte Rolle als internationale Sicherheitsakteurin spielen, muss sie ihre Verteidigungsindustrie stärken. Zwar stehen der Union grundsätzlich die notwendigen Instrumente für die Forschung und Innovation, kollaborative Planung und Entwicklung sowie die kollektive Beschaffung von Verteidigungskapazitäten zur Verfügung (Stichwort EDA, PESCO, Europäischer Verteidigungsfonds sowie CARD). Doch es fehlt ein langfristig ausgelegter Fähigkeitsplan, der auf glaubwürdigen militärischen Szenarien und einer gemeinsamen Finanzierung beruht. Der mit der ersten europäischen Industriestrategie für den Verteidigungsbereich vorgegebene Slogan „mehr, besser, gemeinsam und europäisch investieren“ ist jedenfalls nicht neu. Jetzt muss der politische Wille gefunden werden, tatsächlich mehr in Europa produzierte Verteidigungsgüter gemeinsam zu beschaffen – und die notwendige Unterstützung für die Ukraine rasch umzusetzen.
EU-Erweiterung
Was auf dem Spiel steht
Die EU-Erweiterung ist ein entscheidender Faktor für die Zukunft und Sicherheit der EU. In Brüssel wurde Russlands Invasion der Ukraine zu Recht als Versuch Wladimir Putins gesehen, die Vorherrschaft über ganz Osteuropa, nicht nur über die Ukraine zu erlangen. So hat der Europäische Rat die Kommission beauftragt, die Erweiterungspolitik, die – wie die Balkankandidaten bezeugen können – seit fast einem Jahrzehnt ruht, wieder in Gang zu setzen. Eine weitere Priorität ist die Schaffung von Rahmenbedingungen, die das Weiterbestehen der Ukraine, ihren Wiederaufbau und ihre Transformation in einen europäischen Staat sichern sollen. Dasselbe gilt für die Republik Moldau.
Die EU-Beitrittskandidaten sind auf neun angestiegen und vielfältiger geworden. Am weitesten fortgeschritten sind die Verhandlungen mit vier Balkanstaaten: Montenegro, Serbien, Albanien und Nordmazedonien. Auch die Ukraine und Moldau haben kürzlich diese Stufe erreicht, gefolgt von Bosnien-Herzegowina. Georgien und der Bewerberstaat Kosovo holen ebenfalls im Prozess auf. Im Gegensatz dazu sind die Verhandlungen mit der Türkei eingefroren. Die Umstellung der EU auf einen strategischen Kurs hat wichtige Anpassungen mit sich gebracht. Der Schwerpunkt liegt nun nicht mehr ausschließlich auf Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in den Beitrittsländern, sondern auch auf deren außenpolitischer Ausrichtung. Dies hat dazu geführt, dass Serbien als größter Balkankandidat aufgrund seiner autokratischen Tendenzen und besonderen Beziehungen zu Russland und China stärker ins Visier genommen wird.
Die Beschleunigung der Erweiterung stellt die EU auch vor interne Herausforderungen rund um Budgets, etwa in den Bereichen Haushalt, Governance und ihren zentralen Politikbereichen wie Kohäsion und Agrarwirtschaft.
Was zu tun ist
Die nächste EU-Kommission und ihre Präsidentin/ihr Präsident müssen die Erweiterung zu einer strategischen Priorität machen. Für diese Agenda wird eine überzeugende Kommissarin bzw. ein Kommissar mit starkem politischem Rückhalt und Ressourcen benötigt – im Idealfall jemand, der gleichzeitig Vizepräsidentin/Vizepräsident der Kommission ist.
In Kürze werden die Prioritäten der nächsten Kommission im Fahrplan für Erweiterung und Reformen, der von den EU-Staats- und Regierungschefs im Juni 2024 angenommen werden soll, festgelegt. Erwartet wird, dass die nächste Kommission bereits Anfang 2025 eine gründliche Überprüfung der Erweiterungspolitik sowie substanzielle Reformvorschläge für den nächsten EU-Haushalt vornehmen wird.
Für die nächste Erweiterung, die nach wie vor ein leistungsbasierter Prozess ist, wird kein Zieldatum genannt. Aus Brüssel heißt es, die Beitrittskandidaten würden hochgestuft, sobald sie die Kriterien erfüllen. Doch die scheidende Kommission wurde dafür kritisiert, dass sie Zielvorgaben immer wieder verschoben und sich gegenüber den „fortgeschritteneren“ Kandidaten passiv verhalten hat. Am weitesten fortgeschritten ist Montenegro, das alle Verhandlungskapitel geöffnet, aber nur drei geschlossen hat. Dessen neue Regierung hat die internen Reformen beschleunigt. Ein realistisches Ziel der nächsten Kommission sollte es daher sein, die Beitrittsgespräche mit Montenegro – und idealerweise mit einigen weiteren Kandidaten – bis Ende ihrer Amtszeit 2029 abzuschließen.
Ein wichtiger Wandel in der Erweiterungspolitik wird die schrittweise Integration der Beitrittskandidaten in ausgewählte EU-Politiken sein. Anstatt alle Vorteile an die Vollmitgliedschaft am Ende des Prozesses zu knüpfen, ist das mittelfristige Ziel, die weitere Integration der Erweiterungsländer bereits vor dem Beitritt voranzutreiben, wobei der Schwerpunkt auf Teilen des Binnenmarkts und der Konnektivität in strategischen Sektoren liegt – zum Beispiel Energie und Klima, Verkehr, Technologie, kritische Rohstoffe, Lebensmittelsicherheit, Migration und Grenzmanagement. Da einige Beitrittsländer Teile ihres Territoriums nicht kontrollieren, wird sich die nächste Kommission auch mit Konfliktlösung und territorialer Konvergenz befassen müssen. Für die Ukraine, deren Bevölkerung und Wirtschaft größer ist als die aller anderen Kandidaten zusammen, gilt es zudem, den Wiederaufbau und Fortschritte beim (wirtschaftlichen und sozialen) Assoziierungskurs zu bedenken. Eine glaubwürdige Erweiterungspolitik erfordert schließlich eine effektivere, langfristige Kommunikation mit den Gesellschaften der EU sowie der Beitrittskandidaten, einschließlich der Bekämpfung von Desinformation.
EU-Nachbarschaftspolitik
Was auf dem Spiel steht
Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine hat die sicherheits- und geopolitische Landschaft in der östlichen Nachbarschaft der EU massiv verändert. Die Entscheidung der Union, infolgedessen der Ukraine, Moldau und Georgien eine Beitrittsperspektive zu geben, hat die Beziehungen zwischen diesen Staaten und der EU grundlegend verändert. Die bisherige Architektur und Ziele der EU-Politik im Rahmen der Östlichen Partnerschaft (ÖP) mussten deshalb neu bewertet werden. Da Belarus seine Teilnahme ausgesetzt hat, bleibt die Politik zur ÖP nur noch für Armenien und Aserbaidschan relevant. Armenien ist an einer Vertiefung seiner Beziehungen mit der EU im Rahmen des Abkommens über die umfassende und erweiterte Partnerschaft (CEPA) und – angesichts der wachsenden Spannungen mit Russland – zusätzlich an einer vertieften und umfassenden Freihandelszone (DCFTA) interessiert. Für Aserbaidschan sind Handel und Investitionen in Energie und Infrastruktur von Interesse, nicht aber EU-Normen oder eine Integration.
Die EU hat auf diese neue Ausgangslage reagiert und eine Konnektivitäts- und Sicherheitsagenda entwickelt. Diese Politik hat jedoch ihre Grenzen und schafft es nicht, die Nachbarschaftspolitik ausreichend zu gestalten. In Osteuropa, dem Südkaukasus und Zentralasien bilden sich neue regionale Ordnungen. Die EU konkurriert zunehmend mit Akteuren wie der Türkei, China, Iran, einigen Golfstaaten und Russland um Einfluss.
Was zu tun ist
In der östlichen Nachbarschaft der EU werden die regionalen Beziehungen zunehmend transaktional. Die EU muss sich dieser Realität anpassen, aber dennoch an ihren Normen und Werten festhalten. Auf diese Weise kann sie sich von den genannten anderen Akteuren, die um Einfluss in der Region konkurrieren, abgrenzen. Unter einer neuen Kommission muss die EU zu einem wichtigen Verhandlungspartner bei Konflikten in der östlichen Nachbarschaft werden. Sie braucht einen flexibleren Ansatz und Instrumente, um in der anhaltenden Instabilität, die zur neuen Normalität geworden ist, ein relevanter Akteur zu sein.
Vor diesem Hintergrund kann die Konnektivität zu einem Querschnittsthema werden, durch das die Europäische Union verschiedene Nachbarschaften und regionale Politiken miteinander verbinden kann. Die derzeitige Konnektivitätsagenda der EU mag auf viele Herausforderungen Antworten geben, aber dennoch fehlt es ihr an einer Strategie sowie an finanzieller Unterstützung. Sie baut auf dem Interesse der EU an der Entwicklung von alternativen Energiebeziehungen, Rohstoffimporten und Handelsrouten auf, ist jedoch nicht wirklich ambitioniert. Die Global-Gateway-Initiative der EU könnte ein Rahmen für verschiedene Konnektivitätsagenden sein, aber sie braucht die nötigen Ressourcen, eine strategische Reichweite und Verbindungen zu anderen EU-Politiken im Kontext eines normativen Ansatzes.
Konnektivität und Sicherheit sind eng miteinander verknüpft. Wir erleben die Versicherheitlichung von Bereichen wie Energie, Handelswegen und Infrastruktur, auch in der Schwarzmeerregion, wo die neue europäische Sicherheitsordnung nach dem Ende von Russlands Krieg gegen die Ukraine ausgehandelt werden wird. Die Verbindung zwischen dem Schwarzen Meer, dem Südkaukasus und Zentralasien ist für die EU bereits wichtiger geworden. Es werden Investitionen getätigt, um die wirtschaftliche Integration der Länder entlang dieser Route in die EU zu fördern und die regionale Entwicklung und Zusammenarbeit zu stärken. Damit solche Investitionen erfolgreich sind, müssen sie jedoch von Sicherheitsinstrumenten für die Länder in der östlichen Nachbarschaft der EU, einer Agenda für regionale Konflikte und einem langfristigen Konzept für die Ukraine begleitet werden, die zum Motor der EU-Politik im nächsten Jahrzehnt werden.
Sahel und Westafrika
Was auf dem Spiel steht
Die Ukraine steht auf dem Schlachtfeld unter enormem Druck, während die US-Unterstützung für das Land zunehmend gefährdet ist. Für die EU bedeutet dies, dass sie ihre politischen und finanziellen Ressourcen auf den Krieg im Osten konzentrieren muss. Einige Beobachter begrüßen dieses Momentum. Es könnte der nächsten Kommission dazu dienen, Instrumente wie die Europäische Friedensfazilität (EFF) oder den Verteidigungsfonds (EVF) zu stärken und politische Maßnahmen wie gemeinsame Rüstungsbeschaffungen zu institutionalisieren. Die Ukraine-„Krise“ könnte so die Integration erneut vertiefen.
Gleichzeitig haben die EU und ihre Mitgliedstaaten jedoch anderswo in der Welt erheblich an Einfluss verloren. In Westafrika, abseits der Medienaufmerksamkeit und öffentlichen Debatte, sind die EU und ihre Mitgliedstaaten schon lange im Hintertreffen. Während Westafrika jahrzehntelang wohl die einzige Region war, in der westliche Präsenz eher durch die EU als die Vereinigten Staaten gewahrt war, schwindet der Einfluss nun. Frankreich ,die USA und andere westliche Staaten wurden gezwungen, Mali, Burkina Faso und schließlich Niger zu verlassen. Kürzlich wurde im Senegal ein neuer Präsident gewählt: der 44-jährige Bassirou Diomaye Faye. Er gehört zu einer neuen Generation afrikanischer Politiker, die mit dem postkolonialen Erbe brechen und neue Partnerschaften suchen möchten – auch außerhalb des Westens.
Entsprechend haben Russland, China, die Türkei und die Golfmonarchien im Sahel an Einfluss gewonnen. Sie bieten Unterstützung und Ressourcen ohne jegliche Bedingungen, etwa die Achtung von Menschenrechten. Iran schürt zudem anti-westliche Stimmungen und bildet Ad-hoc-Allianzen mit Führern der panafrikanischen Bewegung. Darüber hinaus gewinnen Dschihadisten in der Region an Einfluss, zwingen die Bevölkerung zur Flucht und stellen die historisch ohnhin sehr schwachen Staaten vor große Herausforderungen. Viele von ihnen drohen zu „unregierten Regionen“ zu werden.
Was zu tun ist
Trotz dieser Entwicklungen konzentrieren sich die EU-Prioritäten für Westafrika weiterhin auf nachhaltiges Wachstum, grüne Entwicklungsstrategien und die Einbeziehung der Zivilgesellschaft. Deutschland beispielsweise fordert einen sozialen und ökologischen Übergang in der Region, der durch einen gemeinsamen europäischen Ansatz gefördert werden sollte. Angesichts der zunehmenden Instabilität ist dies jedoch unrealistisch.
Die nächste Kommission sollte ihren Fokus daher auf die Eindämmung der Instabilität verlagern, um ihr Ausgreifen nach Nordafrika und in die Küstenstaaten im Golf von Guinea zu verhindern. Dies impliziert Bemühungen im Bereich der Terrorismusbekämpfung und könnte groß angelegte Kampfeinsätze notwendig machen, ähnlich denen von Serval, der französischen Militärintervention in Mali im Jahr 2013. Die Fortschritte, die die Kommission und die Mitgliedstaaten bei der Entwicklung gemeinsamer Finanzierungs- und Beschaffungsmaßnahmen zur Unterstützung der Ukraine gemacht haben, könnten bei gemeinsamen Anstrengungen in Afrika helfen.
Ebenso könnten die Militärbasen und umfangreichen Netzwerke, über die Frankreich in den frankophonen Staaten Westafrikas verfügt, hilfreich sein. Insbesondere auch, weil es zunehmend bereit ist, seine Politik angesichts des eigenen schwindenden Einflusses zu europäisieren. Wenn es der EU nicht gelingt, die westlichen Ideale der globalen Ordnung in dieser Region der Welt zu vertreten, wird kein anderer Verbündeter einspringen – weder die NATO, noch die Vereinigten Staaten oder Großbritannien. Angesichts dessen, dass andere Staaten bereits begonnen haben, die Lücke zu füllen, die durch den französischen oder amerikanischen Rückzug entstanden ist, muss die EU dringend in Westafrika präsenter werden.
Globale Gesundheit
Was auf dem Spiel steht
Die Europäische Kommission hatte für den Zeitraum 2019 bis 2024 Gesundheit ursprünglich nicht als Priorität definiert. Allerdings katapultierte die Covid-19-Pandemie das Thema an die Spitze der EU-Agenda. Die Folge war der Aufbau der Europäischen Gesundheitsunion und eine Strategie für Globale Gesundheit.
Diese schnelle, krisenbedingte Priorisierung von Gesundheitsthemen kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sowohl innerhalb der EU als auch auf globaler Ebene Defizite in der Gesundheitsgovernance herrschen. Die Pandemie hat deutlich gemacht, dass es nachhaltigerer Strukturen bedarf, um für zukünftige Gesundheitskrisen gewappnet zu sein. Erst Mitte Februar hat WHO-Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus auf dem „World Governments Summit“ unterstrichen, dass die nächste Pandemie nur eine Frage der Zeit sei.
Umso problematischer ist es, dass globale Gesundheit seit dem Rückgang der Corona-Pandemie zunehmend aus dem Fokus gerät und Instrumente staatliche Unterstützung verlieren. Der Pandemievertrag, der von EU-Ratspräsident Charles Michel im Sommer 2023 vorgeschlagen wurde, steht sinnbildlich für diese Entwicklung. Während die Verabschiedung dieses völkerrechtlich bindenden Vertrages ursprünglich als Formsache galt, sind die Verhandlungen ins Stocken geraten. Die Verabschiedung bei der Weltgesundheitsversammlung ist ungewiss. Die neue Kommission darf daher keine Zeit verlieren und sollte schnell die richtigen Stellschrauben drehen, bevor das globale Gesundheits-Momentum abebbt.
Was zu tun ist
Die neue EU-Kommission sollte eine zweigleisige Strategie verfolgen. Zum einen sollte sie sich stärker dafür einsetzen, dass sich die Union als dauerhafte und somit verlässliche Akteurin im Bereich globale Gesundheit etabliert. Zum anderen sollte die EU eine aktivere Rolle in der Gestaltung von globaler Gesundheitsgovernance einnehmen. Indem die Kommission Gesundheit zu einer ihrer Prioritäten ernennt, kann sie ein wichtiges Signal senden, dass globale Gesundheit auch nach Covid-19 eine zentrale globale Herausforderung ist. Dabei muss Glaubwürdigkeit nicht zuletzt durch ausreichende finanzielle Ressourcen signalisiert werden.
Auch die WHO benötigt dringend neue und nachhaltige finanziellen Ressourcen, um ihren Aufgaben gerecht werden zu können. Während seiner ersten Amtszeit hatte Donald Trump die Zusammenarbeit mit der WHO eingestellt. Es ist daher von entscheidender Bedeutung, dass eine nachhaltige Finanzierung sichergestellt wird, die einen Ausfall der US-Zahlungen im Falle eines erneuten Wahlsiegs Trumps auffangen kann. Die EU hat hier das Potenzial mehr beizutragen. Obwohl die EU zu den größten Gebern gehört, räumt sie Investitionen in die globale Gesundheit im Rahmen ihrer öffentlichen Entwicklungshilfe (ODA) bisher keine Priorität ein. Während das Vereinigte Königreich und die USA rund 15 bzw. 30 Prozent ihrer öffentlichen Entwicklungshilfe für globale Gesundheit aufwenden, lag die öffentliche Entwicklungshilfe der EU im globalen Gesundheitsbereich 2021 bei knapp 8 Prozent. Und nicht nur das: Aufgrund der geteilten Kompetenz zwischen Mitgliedsstaaten und EU in Gesundheitsfragen wird die EU insbesondere von Partnern im Globalen Süden noch nicht als relevanter Akteur wahrgenommen. Mehr finanzielle Mittel der EU würden die Bedeutung der EU stärken.
Die WHO ist weiterhin der zentrale Ort, an dem globale Gesundheitsgovernance gestaltet wird, doch die EU ist derzeit weder Mitglied noch hat sie offiziellen Beobachterstatus in der WHO. Damit die EU jedoch eine gestalterische Rolle in globalen Gesundheitsfragen einnehmen kann, sollte sie diesen Status schnellstmöglich anstreben. Zudem sollte sie ihre globalen Gesundheitsinitiativen diversifizieren, indem sie komplementär auf innovative Formate der Zusammenarbeit mit privaten und öffentlichen Akteuren setzt wie im Fall der Impfallianz GAVI.