Ausgangslage
Die deutsch-französische Zusammenarbeit ist für die EU überlebenswichtig. Dass die zwei historischen Treiber der EU-Integration in der Verteidigungspolitik keine gemeinsame Linie finden, trotz des andauernden Krieges in der Ukraine und angesichts der drohenden Reduzierung amerikanischer Sicherheitsgarantien in Europa, ist eine existenzielle Gefahr. Gelingt es der Union nicht, die verteidigungspolitische Integration voranzutreiben, könnte sie sterben, meint Macron. Zeit, ihn ernst zu nehmen. Schon die nächste Wahl in Frankreich könnte einen radikalen Kurswechsel mit sich bringen.
Viel ist in den vergangenen Monaten zur Verschiebung der Gleichgewichte innerhalb der EU geschrieben worden, gerade in der Verteidigungspolitik. Polen hat seine Ausgaben für Verteidigung massiv gesteigert, die osteuropäischen Staaten üben berechtigte Kritik an Verfehlungen deutscher und französischer Russlandpolitik der vergangenen Jahrzehnte. Das Gewicht Osteuropas spiegelt sich auch in der Neubesetzung der EU-Kommission wider. Doch unter polnischer oder baltischer Führung wird die souveränere Union als Plan B zur transatlantischen Partnerschaft nicht Gestalt annehmen. Die Abhängigkeit von den USA ist zu groß, der Blick zu sehr durch das transatlantische Prisma gebrochen. Sollten US-Sicherheitsgarantien in Europa nach der Präsidentschaftswahl geschwächt werden, sind aus Osteuropa keine Alternativen im Rahmen der EU zu erwarten.
Der Krieg in der Ukraine hat den Europäern ihre Wehrlosigkeit vor Augen geführt. Seit 2022 konzentrieren sich die meisten EU-Mitgliedstaaten wieder voll auf die Landes- und die Bündnisverteidigung. Da hier aber die NATO die unangefochtene Deutungshoheit besitzt, bleibt wenig Raum für neue Initiativen der EU. Stattdessen nimmt gerade Form an, was der ehemalige US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld 2003, nach dem Nein Deutschlands und Frankreichs zur US-Invasion des Iraks, prophezeite: Die Entstehung eines „NATO-Europas“, dessen Takt nicht mehr das deutsch-französische Duo bestimmt, sondern Polen und die baltischen Staaten. Dieses NATO-Europa ist strukturell abhängig von US-Sicherheitsgarantien. Werden die infrage gestellt, droht die gesamte europäische Sicherheitsarchitektur in sich zusammenzufallen. Für einen europäischen Plan B zu den US-Garantien bleibt die deutsch-französische Zusammenarbeit deshalb alternativlos.
Szenarien
Trump 2.0: Rückbesinnung auf Paris
Die Abwägungen rund um die Auswirkungen einer Wiederwahl Trumps auf die deutsch-französische Kooperation orientieren sich zwangsläufig an der ersten Amtszeit. Nach Jahren deutsch-französischen Streits im Zuge der Euro- und Staatsschuldenkrise eröffnete Trump ab 2017 die Gelegenheit für verstärkte bilaterale Zusammenarbeit. Das deutsche Vertrauen in die transatlantische Beziehung war durch seine Wahl wie auch durch das Brexit-Referendum im Juni 2016 stark erschüttert worden. Umso größer war in Berlin die Erleichterung, als im Mai 2017 mit Emmanuel Macron ein äußerst pro-europäischer französischer Präsident die Bühne betrat. Plötzlich eröffneten sich Spielräume für EU-Projekte in einem historisch kaum integriertem Politikfeld: der Verteidigungspolitik.
Trump verlieh alten französischen Forderungen, Europa unabhängiger von den USA zu machen, die notwendige Dringlichkeit. Seine „America First-Politik“ lieferte Macron den idealen Hintergrund, um für EU-Souveränität zu werben. Anders als in der Vergangenheit ließ sich die deutsche Kanzlerin darauf ein. Nach der Rückkehr von ihrem Antrittsbesuch in Washington hielt Angela Merkel in einem Münchner Bierzelt eine vielbeachtete Rede, deren Kernaussage im Anschluss um die Welt ging: „Die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten, die sind ein Stück vorbei […]. Wir Europäer müssen unser Schicksal wirklich in unsere eigene Hand nehmen“.
In Paris weckte Merkel damit enorme Erwartungen. Noch 2017 wurden Abkommen für die gemeinsame Entwicklung zweier Waffensysteme der nächsten Generation beschlossen, dem Future Combat Air System (FCAS) und dem Main Ground Combat System (MGCS). In den folgenden Abschlusserklärungen, etwa jener von Meseberg, 2018, beteuerten die beiden Regierungen ihren Willen, die Kooperation zu vertiefen und zu einer „gemeinsame strategischen Kultur“ zu finden. 2019 wurde in Aachen ein neuer Vertrag unterzeichnet, mit ambitionierten Zielen für die gemeinsame Außen- und Verteidigungspolitik.
Der einzig realistische Weg zur europäischen Souveränität führt im Falle eines Wahlsiegs von Trump über einen deutsch-französischen Kompromiss.
Trumps Drohungen hatten die Integration der EU-Verteidigungspolitik also beschleunigt. Das führt zur Frage, ob seine Rückkehr die deutsch-französische Dynamik wiederbeleben könnte, die seit dem Amtsantritt Joe Bidens, 2021, spürbar an Kraft verloren hat.
Der Bundeskanzler und die Bundesregierung haben sich so klar für die US-Demokraten positioniert, dass Trumps Vertraute, darunter der vormalige Botschafter in Berlin Richard Grenell, bereits auf Rache sinnen. Im Falle eines Wahlsiegs dürften sie kein Problem haben, auch die Republikaner im Kongress für ihre Pläne zu gewinnen. Diese Brücke scheint für die aktuelle Bundesregierung verbrannt. Bereits vor vier Jahren war Berlin Trumps erster Adressat, wenn er EU-Verbündete mit Blick auf ihre Verfehlungen bei den NATO-Zusagen kritisierte. Russlands Überfall auf die Ukraine und die Rolle des Nord-Stream-2-Projekts haben ihn wie viele andere Amerikaner in der Auffassung bestärkt, dass Deutschland der schlimmste unter den europäischen Besserwissern sei.
JD Vance, republikanischer Senator und Trumps Vize-Präsident im Falle des Wahlsiegs, fasste die Erwartungen an die europäischen Verbündeten im Februar zusammen: Es wird Zeit, schrieb er, „dass Europa auf eigenen Füßen steht“. Aus Sicht der Bundesregierung wird zu Beginn einer zweiten Trump-Präsidentschaft deshalb viel von der Reaktion in Paris abhängen. Lässt sich die französische Regierung also darauf ein, den Gesprächsfaden mit Deutschland dort wieder aufzunehmen, wo Berlin ihn aus französischer Sicht nach Bidens Wahlsieg 2021 fallen gelassen hat? Oder erliegt man in Paris der Versuchung, bilaterale Deals zu Lasten anderer Europäer zu schließen? Der einzig realistische Weg zur europäischen Souveränität führt im Falle eines Wahlsiegs von Trump über einen deutsch-französischen Kompromiss, das muss Europäern wie auch den US-Partnern klar sein. Erst auf Grundlage einer solchen Einigung könnten dann europäische Partner, in der EU und außerhalb, gewonnen werden.
Harris 1.0: Transatlantisches „Weiter so“
Die Auswirkungen einer Harris-Präsidentschaft auf die deutsch-französische Beziehung sind schwieriger abzusehen als die einer Rückkehr Trumps. Seit Beginn der russischen Invasion der Ukraine haben viele deutsch-französische Initiativen an Dynamik verloren. Die Bundesregierung bekannte sich im Koalitionsvertrag zwar zu den bestehenden bilateralen Abkommen. Mit dem Transatlantiker Biden im Weißen Haus und ohne die Drohkulisse Trumps scheint den Projekten wie FCAS oder MGCS aber der strategische Imperativ abhandengekommen zu sein. Vielerorts wird nur noch verwaltet und auf die Bundestagswahl 2025 gewartet – in der vagen Hoffnung auf einen Neustart der bilateralen Kooperation. Während Trump US-Sicherheitsgarantien in Europa sicher infrage stellt, droht der EU mit Harris Stillstand, geprägt von dem Wunsch Berlins, den transatlantischen Status quo zu erhalten.
Verliert Trump die Wahl, wird das Aufatmen in Berlin am vernehmbarsten sein. Doch die Bundesregierung muss sich auch mit Harris auf schwierige Debatten einstellen. Die Forderung von Trumps potenziellem Vizepräsidenten JD Vance, dass die EU-Verbündeten in Zukunft wesentlich mehr leisten müssen, ist eine der wenigen parteiübergreifend gültigen Positionen in Washington. Hinzu kommt, dass die Republikaner auch im Falle der Niederlage in der Präsidentschaftswahl die Senatsmehrheit zurückgewinnen dürften. Die Fortsetzung der Ukraine-Unterstützung wie bisher ist kaum vorstellbar, Deutschland und Frankreich müssen auch im Falle eines Harris-Sieges bedeutend mehr leisten.
Wie schon 2017 drängen Vertreter der französischen Regierung deshalb seit Monaten auf mehr Abstimmung innerhalb der EU. Sie warnen besonders die deutschen Partner davor, die Harris-Präsidentschaft als Verlängerung der transatlantischen Ausrichtung Bidens zu sehen. Benjamin Haddad, der neue Europa-Staatssekretär im Pariser Außenministerium, der mit den Debatten in Washington aus seiner Zeit beim Atlantic Council gut vertraut ist, kritisierte zuletzt die Behäbigkeit der EU, die in der Verteidigungspolitik auch weiterhin viel zu abhängig von der US-Innenpolitik sei. Dass es stichhaltige Argumente für diese Kritik gibt, bewies vor Kurzem die Absage der Rammstein-Konferenz zur Ukraine-Unterstützung, die der Absage von US-Präsident Biden wegen des Hurrikan Milton folgte.
Das größte Interesse an mehr EU-Souveränität haben langfristig ohnehin die US-Verbündeten.
Die Auswirkungen einer Harris-Präsidentschaft werden Deutschland nicht so unmittelbar treffen, wie die Rückkehr Trumps. Für die deutsch-französische Zusammenarbeit und die Souveränität der EU birgt das Harris-Szenario und ein sanfterer Rückzug der USA langfristig aber vergleichbar große Risiken. Gewinnt Harris die Wahl im November, hängen die Zukunft der europäischen Sicherheit und bilaterale Projekte zwischen Deutschland und Frankreich viel stärker von Washington und den dortigen Prioritäten ab als von der deutsch-französischen Beziehung und der Gesprächsbereitschaft in Paris.
Harris wäre gezwungen, unter dem Druck eines republikanischen Kongresses eine harte Linie gegenüber den EU-Verbündeten einzuschlagen. Ab Ende 2025 läge es dann an einer neuen Bundesregierung, sich erneut zwischen transatlantischem „Hedging“, etwa durch Käufe von US-Rüstungsgütern, und verstärkter Anstrengungen für die EU-Souveränität zu entscheiden. Im Interview deutete der CDU-Vorsitzende und Kanzlerkandidat Friedrich Merz zuletzt an, unabhängig vom Ausgang der US-Wahl mit Blick auf die Ukraine-Unterstützung eine engere Abstimmung mit Frankreich und Großbritannien zu suchen.
Empfehlungen
Gemeinsam neue europäische Wege finden
Egal, wie die US-Präsidentschaftswahl ausgeht: Die Bundesregierung muss das verstärkte Engagement Frankreichs an der NATO-Ostflanke anerkennen und darauf aufbauend die Grundlagen für eine langfristige Stärkung der EU-Souveränität schaffen. Unabhängig vom Ausgang der Wahl im November riskiert Berlin sonst, neben den USA auch den engsten EU-Partner zu verlieren und „allein zu Hause“ zu sein, wie es Jana Puglierin bereits im Juli treffend ausdrückte.
Der französische „Pivot to Europe“ bietet der Bundesregierung die Grundlage für einen Neustart. Frankreichs Anspruch, Weltmacht zu bleiben, wird hinter vorgehaltener Hand seit langem belächelt. Dass Macron sich als Präsident einer Mittelmacht seit 2017 als Architekt einer neuen Beziehung zu Russland sah, Frankreich im frankophonen Afrika und in Nahost als Regionalmacht erhalten und im Indopazifik als Alternative zwischen den USA und China positionieren wollte, schien aus deutscher Perspektive immer vermessen. Eine Reihe von Putschen in Afrika, das Scheitern der Vermittlung Macrons im Libanon, die AUKUS-Affäre und der Ukraine-Krieg haben Frankreichs Ambitionen zurechtgestutzt. Was bleibt, ist der Führungsanspruch in der EU-Verteidigungspolitik.
Statt in Berliner Regierungskreisen Schadenfreude zu wecken, sollte diese Situation als günstige Ausgangslage für neue, deutsch-französische Initiativen erkannt werden. Zwar reklamiert den europäischen Führungsanspruch seit 2022 im Rahmen der Zeitenwende auch der deutsche Bundeskanzler. Das 100 Milliarden-Sondervermögen und langfristige Erreichen des 2-Prozent-Ziels der NATO sollen das genauso unterstreichen, wie die Führung bei der European Sky Shield-Initiative (ESSI) und die dauerhafte Stationierung einer deutschen Brigade in Litauen.
Doch ob Sondervermögen, Sky Shield-Initiative oder Litauen-Brigade: Aus französischer Sicht ist die Zeitenwende transatlantisch und lässt kaum Raum für europäische Alternativen. Schwindet aber das amerikanische Wohlwollen für Europa, droht sie zur Falle zu werden. Dass das Sondervermögen überwiegend in US-Systeme floss, dafür gibt es auch in Paris Verständnis. Kurzfristig gab es für die Fähigkeitslücken in der nuklearen Teilhabe und im Lufttransport keine europäischen Alternativen. Doch bei Sky Shield sieht es anders aus. Die Initiative gilt als Vorzeigeprojekt, das den deutschen Führungsanspruch auch für die Zukunft definiert. Dass keine Abstimmung mit Paris erfolgte, französische Systeme keine Rolle spielen und die Bedenken zur Signalwirkung für die nukleare Abschreckung nicht bedacht wurden, wird in Frankreich als Affront empfunden und sollte möglichst schnell korrigiert werden.
Deutsch-französische Kooperationsmöglichkeiten gibt es auch an der NATO-Ostflanke. Beide Staaten sind dort verstärkt präsent, den US-Verbündeten wird im „europäischen Pfeiler“ bisher aber ein völlig unterschiedlicher Platz zugewiesen, eine EU-Abstimmung findet nicht statt. Die Planungen rund um die NATO-Battlegroups machen das deutlich: Während die Bundeswehr ihren Stützpunkt in Litauen nach US-Vorbild errichtet, sind für Paris eigene und verbündete EU-Truppenkontingente in Rumänien ein Experimentierfeld für eine europäische NATO, die zukünftig im Zweifel ohne US-Führung funktioniert. Doch in Wahrheit bleiben beide Modelle abhängig von außereuropäischen „strategic enablers“, der US-Infrastruktur für Command & Control-Fähigkeiten, Fernaufklärung und Logistik. Gemeinsam mit Frankreich und osteuropäischen Partnern muss Deutschland hier gezielt investieren und Fähigkeitslücken schließen.
Kein Ansatz ist dabei besser als der andere. Frankreichs und Deutschlands Blick auf die USA ist geschichtlich bedingt ein völlig unterschiedlicher. Jetzt gilt es jedoch, gemeinsam neue, europäische Wege zu finden. Das größte Interesse an mehr EU-Souveränität haben langfristig ohnehin die US-Verbündeten – egal, ob im Januar Trump oder Harris ins Weiße Haus einzieht.