Die Türkei nach den Wahlen

Kontinuität oder Kurswandel?

Datum
02 November 2015
Uhrzeit
-
Ort der Veranstaltung
DGAP, Berlin, Deutschland
Einladungstyp
Nur für geladene Gäste

Share

Einleitend stellte Magdalena Kirchner fest, dass die Wahlkampfstrategie der AKP voll aufgegangen sei: Die AKP habe sich seit den vorherigen Wahlen im Juni als Partei der Stabilität präsentiert, des wirtschaftlichen Aufschwungs und der nationalen Stärke. Sie habe es geschafft, ihre Stammwählerschaft zu mobilisieren und darüber hinaus konservative Wähler und Wählerinnen anderer Parteien – auch der HDP – zu gewinnen. Der Wahlerfolg der AKP werde die Verhandlungsposition der Türkei und Präsident Recep Tayyip Erdogans gegenüber der EU stärken. Laut Kirchner sei der Preis für Deutschland und die EU gestiegen, beispielsweise für Unterstützung in der Flüchtlingskrise. Außenpolitisch werde die AKP nach ihrem Wahlgewinn den Konflikt mit den Kurden und der PKK deeskalieren. Mit Blick auf Syrien sei allerdings kein Kurswechsel zu erwarten.

Michelle Müntefering eröffnete ihren Input mit den Worten „Die AKP hat die Wahl gewonnen und damit müssen wir jetzt umgehen“. Für sie als Parlamentarierin sei es zentral, zu beobachten, wie sich die Wahl auf die deutsch-türkischen Beziehungen auswirke. Hier erwarte sie, dass diese auch weiterhin eng blieben. Die anhaltend hohen Flüchtlingszahlen machten die Kooperation mit der Türkei notwendig, auch wenn Europa und Deutschland nun mit einem noch selbstbewussteren Präsidenten Erdogan verhandeln müssten. Müntefering warnte davor, den EU-Beitrittsprozess für diese Zwecke zu instrumentalisieren. Vielmehr müssten hier rationale und offene Verhandlungen geführt werden. Vor diesem Hintergrund sei die Reise in die Türkei von Bundeskanzlerin Angela Merkel kurz vor den Wahlen sehr unglücklich gewesen, da sie damit, bewusst oder unbewusst, die Stellung Erdogans gestärkt habe. Insgesamt müsse man akzeptieren, dass die AKP die Wahl deutlich gewonnen habe, auch wenn man sich fragen könne, inwieweit der Wahlkampf überhaupt als fair gelten kann. Müntefering sprach sich für einen intensiven Dialog mit der Türkei und mit Ministerpräsident Ahmet Davutoglu aus – denn dieser sei der rechtmäßige Ansprechpartner.

Die anschließende Diskussion thematisierte den Wahlkampf, die innenpolitische Dimension des Wahlausgangs und mögliche Ansatzpunkte für zukünftige europäische und deutsche Politik.

Besonders kritisch wurde die von Erdogan anvisierte Verfassungsänderung hin zu einer präsidialen Demokratie diskutiert. Laut beider Expertinnen lebt Erdogan diese Verfassungsänderung bereits, auch wenn die AKP aktuellen Auszählungen zufolge keine Zweidrittelmehrheit (330 Sitze) erreichen konnte. Ebenfalls kritisch beobachteten Kirchner und Müntefering, wie die Presse- und Meinungsfreiheit im Wahlkampf gelitten hat. Dies wurde am Beispiel des mangelnden Schutzes oppositioneller Politikerinnen und Politikern sowie an Eingriffen in die Medienlandschaft festgemacht. Auf innenpolitische Themen könnten Deutschland und die EU, wenn überhaupt, nur über den EU-Beitrittsprozess Einfluss nehmen. Daher müsse man Missstände offen ansprechen. Das Zurückhalten des EU-Fortschrittsberichts zur Türkei durch die Kommission sei in diesem Kontext nicht richtig. Auch der Kurdenkonflikt wurde angesprochen: Die AKP habe sehr gute Beziehungen zu den Kurden im Nordirak aufgebaut und könnte hieran anknüpfen, um den Friedensprozess wieder anzukurbeln. Zusätzlich sei der Einzug der HDP ins Parlament ein positives Signal an alle Kurden, die türkische Politik auch ohne Waffengewalt mitgestalten zu können. Dennoch wurde festgestellt, dass die AKP die Eskalation der letzten Monate bereitwillig in Kauf genommen habe, um ihr Narrativ zu stärken und die Wahl zu gewinnen.

Was tun?

Klar ist, dass Deutschland und die EU zukünftig mit einer noch stärkeren Türkei und einem noch selbstbewussteren Präsidenten Erdogan konfrontiert sein werden. Der Preis, den Deutschland und die EU der Türkei für ein Entgegenkommen, beispielsweise in der Flüchtlingsfrage zahlen müssen, wird steigen. Die Politik muss sich genau überlegen, wie wichtig ihr Prinzipien und Werte wie Demokratie, Rechtstaatlichkeit und Pressefreiheit sind, insbesondere wenn diese mit Interessen kollidieren. Eberhard Sandschneider erinnerte in diesem Kontext daran, dass Realpolitik nicht mit „Kuhhandel“ gleichzusetzen sei.

Die erstarkte Position der AKP wird sich laut Kirchner allerdings nicht positiv auf die Regionalmachtsansprüche der Türkei auswirken. Die Türkei sei mit ihrem politischen Ziel, sich als Regionalmacht zu etablieren, gescheitert. Durch den Putsch in Ägypten und die erfolgreichen Atom-Verhandlungen mit Iran habe die Gestaltungsmacht der Türkei in der Region ihren Tiefpunkt erreicht. Auch die türkische Syrienpolitik sei gescheitert; dies habe die Türkei auch spätestens seit der Intervention Russlands erkannt. Nun bleibe abzuwarten, wie sich die AKP gegenüber dem IS positioniert. Bisher hätten die türkischen Bombardements vor allem einen „kurdischen Korridor“ in Syrien verhindert und weniger den IS geschwächt – dies könne sich nun ändern.

Michelle Müntefering, MdB ist ordentliches Mitglied im Auswärtigen Ausschuss des Deutschen Bundestages, Vorsitzende der Deutsch-Türkischen Parlamentariergruppe und stellvertretende Vorsitzende der Deutsch-Türkischen Gesellschaft. Dr. Magdalena Kirchner ist Associate Fellow des Programms USA/Transatlantische Beziehungen der DGAP. Prof. Dr. Eberhard Sandschneider, Otto Wolff-Direktor des Forschungsinstituts der DGAP, moderierte die Diskussion. Insgesamt nahmen rund 60 Gäste aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen teil. Wir danken dem German Marshall Fund of the United States für die Unterstützung.

Format

Early Bird Breakfast
Zielgruppe
Think Tank Veranstaltung
Core Expertise region
Themen
Regionen