Alfred Grosser und Etienne François im Streitgespräch über die Erinnerungskultur in Deutschland und Frankreich
Deutsche und französische Erinnerungsorte überdenken – das ist das Anliegen Alfred Grossers, der sich selbst als „Moralpädagoge“ und Mittler zwischen Deutschland und Frankreich versteht. In Deutschland und Frankreich erinnert man sich anders, ist Grosser überzeugt. Würden in Frankreich viele negative Aspekte der eigenen Geschichte weiterhin verklärt, so dominiere in Deutschland das Bewusstsein um die Schuld am Holocaust und am Weltkrieg. „Grass zeigt mir, wir sind noch befangen“, so Grosser. „Dieses „Wir sind alle schuld“ ist nervig.“
Diese Haltung habe auch großen Einfluss auf die deutsche Außenpolitik, wie die herausragende Bedeutung der Beziehungen zu Israel zeige. Aber auch deutsch-französische Erinnerungspunkte werden falsch dargestellt. Grosser mahnte eine Korrektur an: „Nicht De Gaulle, nicht der Elysée-Vertrag haben die deutsch-französischen Beziehungen groß gemacht, sondern Schumans Idee der Montanunion.“ Die Bundesrepublik solle allerdings keinesfalls so werden wie andere Länder, sondern ihre spezifische Identität behalten: „Deutschland ist das einzige Staatswesen, das nicht einfach auf eine Nation aufgebaut ist, sondern auf eine politische Ethik.“
Etienne François ergänzte dieses Bild und meldete teilweise Widerspruch an. „Betrachtet man die Entwicklung Deutschlands und Frankreichs nach 1945, so verschwimmen die Unterschiede der Erinnerungskultur.“ Die starke Annäherung zwischen beiden Ländern habe zu einem gemeinsamen deutsch-französischen Gedächtnis als Ergänzung zur nationalen Erinnerungskultur geführt. In Frankreich werde mittlerweile intensiv über die Schattenseiten der eigenen Geschichte diskutiert.
„Wir sind allerdings erst am Beginn einer langen Diskussion. Ich hoffe, dass wir das so machen wie die Deutschen mit ihrer jüngsten Vergangenheit.“ Was die deutsche Außenpolitik betreffe, so sei diese längst nicht so stark von der Vergangenheit geprägt wie oft unterstellt, sagte Etienne François. „Deutsche Außenpolitik ist nicht weniger interessengeleitet als die Frankreichs.“ Er mahnte zudem, nicht zu vergessen, dass die rasante Entwicklung der deutsch-französischen Freundschaft nach 1945 stets auch der Mitwirkung anderer Staaten zu verdanken sei.
Der Politologe und Publizist Prof. em. Dr. Alfred Grosser und Prof. em. Dr. Etienne François folgten einer Einladung der DGAP und des Club ParisBerlin zur Veranstaltung „Vergangenheit und Außenpolitik. Eine deutsch-französische Diskussion mit Etienne François und Alfred Grosser“ am 7. Juni 2012 in der DGAP Berlin.