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29. Nov. 2018

Streit um Meerenge von Kertsch

Osteuropa-Experte Stefan Meister: "Die russische Seite bereitet die Eskalation systematisch vor"

Eine kleine Meerenge provoziert einen großen Konflikt: Russland und die Ukraine rüsten nach dem Zusammenstoß im Asowschen Meer verbal immer weiter auf. Der Osteuropa-Kenner Stefan Meister erklärt im stern-Interview, wer welche Interessen verfolgt.

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Der Konflikt zwischen der Ukraine und Russland ist mit Wucht wieder auf die Tagesordnung gelangt. Der Konflikt schwelte seit Monaten von der europäischen Öffentlichkeit fast vergessen im Hintergrund. Doch am Wochenende wurde klar, dass Moskau und Kiew bereit sind, für die Meerenge von Kertsch viel zu riskieren. Die Staatschefs in Kiew und Moskau stehen sich unversöhnlich gegenüber. Der Osteuropa-Experte Stefan Meister erklärt im stern-Interview, welche geopolitischen Ziele die Konflikt-Parteien haben. 

Herr Meister, überrascht es Sie, dass am Wochenende Russland und die Ukraine an der Meerenge von Kertsch aneinandergeraten sind, oder hat sich diese Eskalation schon länger abgezeichnet?

SM: Es hat mich nicht wirklich überrascht, da Russland seit Monaten systematisch sein militärisches Potenzial an der Meerenge von Kertsch und im Asowschen Meer aufbaut. Es gab eine ganze Reihe von Provokationen in den letzten Monaten von russischer Seite. Nachdem Russland eine Brücke vom russischen Festland auf die Krim fertiggestellt hat, haben russische Sicherheitskräfte systematisch ukrainische oder internationale Handelsschiffe auf dem Weg ins Asowsche Meer gestoppt und tagelang festgehalten. Das bedeutet, eine Eskalation hat sich bereits angekündigt, mit diesem Vorfall ist nur ein neuer Höhepunkt erreicht worden, der letztlich absehbar war.

Warum ist die Meerenge von Kertsch für beide Seiten so wichtig, dass sie den Zusammenstoß in der Seestraße in Kauf nahmen?

SM: Für Russland ist es die Verbindung mit der Krim, die mit der Brücke eine wichtige Lebensader für die okkupierte Halbinsel ist. Über die Meerenge erfolgt die wichtigste Versorgungsroute der Krim vom russischen Festland. Für die Ukraine ist es der Zugang zu den wichtigen Häfen Mariupol und Berdjansk, aus denen vor allem Getreide aber auch andere Produkte exportiert werden und diese über den Seeweg versorgt werden.

Russland hat die Krim unter seine Kontrolle gebracht, die Versorgung findet über die neue Krim-Brücke statt. Will Russland die Meerenge nur sichern oder glauben Sie, dass Russland sogar noch aktiver werden könnte?

SM: Russland will das ukrainische Hinterland um Mariupol und Berdjansk vom Seeweg abschneiden und damit diese Region und die Ukraine insgesamt schwächen. Es wird davon ausgegangen, dass die russische Führung die Idee einer Landbrücke zur Krim nicht völlig aufgegeben hat und damit gewinnt die Beherrschung der Meerenge und des Asowschen Meeres eine besondere Bedeutung. Gleichzeitig verschiebt Russland mit seiner wachsenden militärischen Präsenz in der Schwarzmeerregion die sicherheitspolitischen Gewichte und begrenzt den Zugang der Ukraine zum Schwarzen Meer.

Sehen Sie Anzeichen dafür, dass eine Seite den Zusammenstoß in der Meerenge provoziert haben könnte? 

SM: Das ist schwer zu kommentieren, da es diese Vorwürfe von beiden Seiten gibt. Russland hat militärisch massiv seine Stellung ausgebaut um die Meeresenge und mit seinen Provokationen in den letzten Monaten die Ukraine unter Druck gesetzt. In diesem Fall hatte die Ukraine mit drei Kriegsschiffen das Ziel, nach Mariupol zu fahren und dort die militärische Position der Ukraine zu stärken. Daran wird der russischen Geheimdienst und das russische Militär kein Interesse gehabt haben und hat genau das verhindert.

Profitieren vielleicht beide Seiten sogar? Immerhin stehen in der Ukraine Wahlen an, in Russland büßt Putin an Popularität ein. 

SM: Innenpolitisch glaube ich nicht, dass Poroschenko dieser Vorfall und die Ausrufung des Kriegsrechts mehr Zustimmung beschert. Nutzt er aber das Kriegsrecht, um die Wahl zu verschieben oder die Pressfreiheit einzuschränken, wäre das problematisch. Putin wird kaum an Popularität wegen des russischen Vorgehens gewinnen, dann müsste er einen größeren Vorfall verbunden mit einer größeren militärischen Aktion inszenieren, um patriotische Unterstützung zu erhalten. Der Westen reagiert schwach, will sich nicht in einen militärischen Konflikt mit Russland reinziehen lassen, auch solch eine Kalkulation bringt wenig. Mir scheint, die russische Seite bereitet die Eskalation systematisch vor. Der ukrainische Präsident Poroschenko versucht sie zwar innenpolitisch zu nutzen, wird dabei aber nicht viel gewinnen.

Die Ukraine hat das Kriegsrecht verhängt. Droht tatsächlich ein heißer Konflikt mit Moskau?

SM: Die Entscheidung über das Kriegsrecht ist vor allem innenpolitisch intendiert, um bei niedrigen Umfragewerten für Poroschenko Unterstützung für eine harte Haltung gegenüber Russland zu zeigen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Ukraine einen militärischen Konflikt mit Russland anstrebt, den sie auch aufgrund ihrer geschwächten Flotte nicht gewinnen kann. In der Hinsicht ist das eher Rhetorik als direkte Konfrontation.

Welche Rolle spielt die EU in dem Konflikt? Die Staatengemeinschaft beschäftigt sich wegen des Brexits ja mehr mit sich selbst. Kann Brüssel irgendwie in den Konflikt eingreifen?

Brüssel und die Mitgliedsstaaten könnten Russland gezielt wegen seiner Provokationen im Asowschen Meer sanktionieren. Dafür wird es jedoch keine Einigkeit geben, da Länder wie Italien, Österreich oder Ungarn dem nicht zustimmen werden. Die EU könnte versuchen zu vermitteln. Aber wir haben bereits bei den Minsker Abkommen feststellen müssen, dass ihre Einflussmöglichkeiten auf die beiden Konfliktparteien und insbesondere auf Russland begrenzt sind.

Das Interview erscheint mit freundlicher Genehmigung von stern.

Bibliografische Angaben

stern.de, 28. November 2018