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05. Apr. 2012

Justiz: Wie blickdicht ist die Augenbinde der Justitia?

Präsidentschaftswahlkampf 2012 in Frankreich

Das französische Tagesgeschehen war die letzten Monate geprägt von aufsehenerregenden Ermittlungsverfahren, Prozessen und Urteilen - und dies, obwohl die französische Justiz in vielen Bereichen deutlich überlastet ist, die Justizvollzugsanstalten seit Jahren überbelegt sind und dort katastrophale Zustände herrschen.

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Das französische Tagesgeschehen war die letzten Monate geprägt von aufsehenerregenden Ermittlungsverfahren, Prozessen und Urteilen - und dies, obwohl die französische Justiz in vielen Bereichen deutlich überlastet ist, die Justizvollzugsanstalten seit Jahren überbelegt sind und dort katastrophale Zustände herrschen. Frankreich hat im Jahr 2010 beispielsweise nur 0, 19 Prozent des Bruttosozialprodukts für sein Justizwesen verwendet und steht damit im europäischen Vergleich auf Platz 37 von 43, weit hinter Deutschland, Großbritannien, Polen oder Spanien. Selbst Aserbaidschan tätigt demnach pro Kopf mehr Neuinvestitionen in sein Justizwesen als Frankreich. Auch wurde Frankreich wiederholt von Meldungen über Verbrechen erschüttert, die von Rückfalltätern begangen wurden. Im bisherigen Präsidentschaftswahlkampf haben alle Kandidaten Themen aus dem Bereich der Justiz oder hinsichtlich einer Justizreform angesprochen, ohne sie aber zu ihrem Hauptanliegen zu erklären. Dabei werden insbesondere folgende Fragestellungen thematisiert:  Wie kann die Unabhängigkeit der Justiz gestärkt werden? Wie gewährleistet Frankreich die innere Sicherheit, inklusive eines effizienten Strafvollzugs und verbesserter Haftbedingungen?

Die Notwendigkeit einer unabhängigen Justiz

Verschiedene Verfahren und Urteile der letzten Monate, in die Staatsanwälte, Politiker oder Beamte verwickelt waren, haben die Unabhängigkeit der Justiz regelmäßig in Frage gestellt. Darunter insbesondere: Die Clearstream-Affäre, bei der der ehemalige Premierminister Dominique de Villepin wegen Rufmordes angeklagt wurde und Nicolas Sarkozy, im Berufungsprozess bereits amtierender Staatspräsident, als Nebenkläger auftrat; die laufenden Ermittlungsverfahren gegen den Staatsanwalt von Nanterre, Philippe Courroye oder den Leiter des französischen Verfassungsschutzes, Bernard Squarcini, im Rahmen der verschiedenen Verfahren um die L’Oréal-Erbin Liliane Bettencourt, bei denen es auch um illegales Abhören von Journalisten, illegale Parteienspenden zugunsten der Partei von Nicolas Sarkozy und um Steuerhinterziehung ging; die laufenden Ermittlungsverfahren gegen Polizeibeamte im Rahmen der sog. Prostitutionsaffäre „Hotel Carlton“ in Lille, bei der Dominique Strauss-Kahn vermeintlich mitgewirkt hat.

Des Weiteren veranschaulichen einige Ermittlungen und seitens der Justiz mitunter mutig geführte Prozesse gegen amtierende oder ehemalige Politiker, wie wichtig eine unabhängige Justiz als Garant für einen funktionierenden Rechtsstaat ist: Etwa die Verurteilung Jacques Chiracs im Dezember 2011 (und dies entgegen des Antrags der Staatsanwaltschaft) zu einer zweijährigen Bewährungsstrafe wegen Veruntreuung und Vertrauensbruchs in seiner Zeit als Pariser Bürgermeister in einem, aufgrund seiner Präsidentenimmunität, mehrfach vertagten Verfahren; die zweifache Verurteilung des damaligen Innenministers, Brice Hortefeux, im Jahr 2010, einmal wegen rassistischen Äußerungen und ein weiteres Mal wegen Verletzung der Unschuldsvermutung; die seit Ende 2011 laufenden Ermittlungen gegen den sozialistischen Senator und Vorsitzenden des Conseil Régional der Region Marseille, Jean-Noël Guérini, wegen Einflussnahme und Verschwörung bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen oder die Ermittlungsverfahren gegen den ehemaligen Budgetminister und Schatzmeister der 2007er Wahlkampagne von Nicolas Sarkozy, Eric Woerth, im Zusammenhang mit Parteispenden der L’Oréal Erbin Liliane Bettencourt oder mit dem Verkauf der staatlichen Pferderennbahn in Compiègne im März 2010.

Außerdem hat die aktuelle Regierung in den letzten Wochen und Monaten eine sehr aktive und kritisierte Besetzungspolitik von Schlüsselpositionen in Justiz und Polizei durch Vertrauensleute betrieben. Das prominenteste Beispiel hierfür ist die umstrittene Ernennung von François Molins, Kabinettchef von Justizminister Mercier, in die Schlüsselposition als Oberstaatsanwalt von Paris im November 2011.

Zudem stellt Nicolas Sarkoys Entscheidung, während seiner Amtszeit als Staatspräsident, im Berufungsverfahren der Clearstream-Affäre als Nebenkläger aufzutreten, auch im Zusammenhang mit der Verurteilung Jacques Chiracs 2011, die Frage nach der strafrechtlichen Verantwortung von Staatspräsident und Ministern neu: Aufgrund dieser Präzedenzfälle kann demnach ein Staatspräsident wie jeder Bürger als Nebenkläger auftreten, nicht aber wie ein einfacher Bürger angeklagt werden.

Nicolas Sarkozy hat darüber hinaus mehrfach seine kritische Einstellung gegenüber Richtern und dem Justizsystem bekundet und einzelne Entscheidungen deutlich angegriffen: Seiner Ansicht nach behindert die Justiz häufig die Arbeit der Sicherheitskräfte, arbeitet zu langsam und ineffizient und berücksichtigt die Belange der Opfer nicht ausreichend. Für einen amtierenden Staatspräsidenten, kraft seines Amtes Garant des Rechtsstaates und der Gewaltenteilung, waren dies jeweils ungewöhnlich deutliche Stellungnahmen.

Vorschläge zur Justizreform

  • Ernennung von Richtern und Staatsanwälten

Alle Kandidaten haben sich mehr oder weniger detailliert zur Unabhängigkeit der Justiz geäußert: So fordern François Bayrou, François Hollande und Eva Joly, dass bei der Besetzung von Staatsanwaltsposten zukünftig die vom Conseil Supérieur de la Magistrature (CSM) ausgesprochenen Empfehlungen für den Justizminister bindend sein sollen (statt bisher unverbindlich), wie dies bereits für Richter der Fall ist. Nicolas Sarkozy hat zwar erklärt, dass künftig die Empfehlungen des CSM für Staatsanwälte befolgt würden, diesbezüglich jedoch nicht explizit eine Reform in Aussicht gestellt. François Bayrou geht noch einen Schritt weiter und schlägt vor, den Justizminister von beiden Kammern des Parlaments ernennen zu lassen. Marine Le Pen möchte die Ausbildung von Richtern und Staatsanwälten aus der dafür speziell eingerichteten Ecole Nationale de la Magistrature herauslösen und in die universitäre Ausbildung als Studienoption einbinden, sowie Richtern und Staatsanwälten jegliches politisches oder gewerkschaftliches Engagement untersagen.

  • Justizsystem  und strafrechtliche Verantwortung von Präsident und Ministern

François Hollande schlägt vor, die Sondergerichtsbarkeit der Cour de Justice de la République zugunsten der allgemeinen Gerichtsbarkeit abzuschaffen. Die Cour de Justice de la République wurde im Rahmen des Aidsblutskandals der 80er Jahre 1993 gegründet und ist ausschließlich für Verbrechen oder Vergehen zuständig, die von Ministern oder Präsidenten in der Ausübung ihres Mandats verübten werden. Das Programm von François Hollande beinhaltet des Weiteren noch die – nicht näher erläuterte – Schaffung von jährlich 1.000 Stellen in Justiz, Gendarmerie und Polizei sowie mehrere Einzelmaßnahmen bezüglich der Justizorganisation, wie etwa die Bündelungen der Zuständigkeiten von verschiedenen Zivilverfahren auf ein einzelnes Gericht.

  •  Beteiligung von Schöffen und Rechte der Nebenkläger

Die vom aktuellen Präsidenten vorgeschlagene Beteiligung von Schöffen in bestimmten schwerwiegenden Strafverfahren (für die das Schwurgericht (Cour d’assises) nicht zuständig ist) sowie bei Verfahren vor dem Haftrichter ist bereits in der Testphase und soll in Zukunft ausgeweitet werden. Zudem möchte er den Zivilparteien im Strafprozess die Möglichkeit geben, Berufung oder Revision einzulegen, sollten sie das erstinstanzliche Urteil als nicht zufriedenstellend erachten, was von Richtern und Rechtsanwälten landläufig als „Racherecht“ eingestuft wird. Marine Le Pen möchte ebenfalls Schöffenrichter bei Verfahren vor dem Bewährungsrichter hinzuziehen.

Sicherheitsrecht

Mit Blick auf das Sicherheitsrecht wird insbesondere der Strafvollzug von allen Kandidaten thematisiert: Nicolas Sarkozy und Marine Le Pen wollen zusätzlich 80.000 bzw. 40.000 Vollzugsanstaltsplätze schaffen, um sicherzustellen, dass verhängte Strafen auch effektiv verbüßt werden. François Bayrou plädiert für eine – nicht näher von ihm spezifizierte – Verbesserung der regelmäßig als katastrophal beschriebenen Zustände in den Justizvollzugsanstalten, während François Hollande zum einen zusätzliche geschlossene Jugendvollzugsanstalten schaffen und zum anderen sicherstellen möchte, dass Strafen tatsächlich verbüßt werden und die Anstalten mit dem Prinzip der Menschenwürde vereinbar sind.

Das Sicherheitsrecht ist zudem Gegenstand einer Links-Rechts-Polarisierung. Die drei Kandidaten aus dem linken Lager François Hollande, Eva Joly und Jean Luc Mélenchon wollen die unter Nicolas Sarkozy verabschiedeten, verschärften Gesetze, insbesondere bezüglich des erhöhten Strafmaßes bei Rückfalltätern und Minderjährigen, abschaffen. Nicolas Sarkozy möchte hingegen automatische Straferleichterungen abschaffen, das erhöhte Strafmaß für Rückfalltäter auf Wiederholungstäter ausweiten und für Minderjährige ab 12 Jahren die Verurteilung zu Reparationsarbeiten ermöglichen. Marine Le Pen ist die einzige Kandidatin, die einen Volksentscheid zur Todesstrafe vorschlägt; zudem verlangt sie eine stärkere Bestrafung von Drogendealern und Drogenkonsumenten.

Eva Joly und François Hollande wollen Sammelklagen nach amerikanischem Vorbild ermöglichen, die der Arbeitgeberverband „Medef“ bisher ablehnt. Zudem möchte Eva Joly besondere Straftatbestände für schwerwiegende Umweltdelikte schaffen und diese, zusammen mit Finanzdelikten und organisierter Kriminalität, gezielt verfolgen; sie ist die einzige Kandidatin, die eine Legalisierung von Cannabiskonsum vorschlägt.

Die Vorschläge der Kandidaten zum Themenbereich der Justiz haben bisher kaum Aufmerksamkeit erregt, außer einiger, spezieller Vorschläge, wie die Abschaffung der Cour de Justice de la République (François Hollande) oder das Berufungs- oder Revisionsrecht für Zivilparteien (Nicolas Sarkozy). Es ist jedoch wahrscheinlich, dass, in Anbetracht der Mordserie in Toulouse und Montauban, die sicherheitsrechtlichen Themen in den kommenden Wochen deutlicher in den Vordergrund der Kampagnen treten werden, auch wenn alle Kandidaten zur Zeit eher unsicher sind, wie mit den tragischen Ereignissen im Wahlkampf respektvoll umgegangen werden sollte.

Christian Sauer ist französischer und US-amerikanischer Rechtsanwalt und Teilnehmer des Jahrgangs 2009 des Deutsch-französischen Zukunftsdialogs.

Bibliografische Angaben

Sauer, Christian. “Justiz: Wie blickdicht ist die Augenbinde der Justitia?.” April 2012.

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