Am 3. Oktober 2013 gedachten die Deutschen einmal mehr der Wiedervereinigung ihres Landes. Vermutlich zum Erstaunen des außenstehenden Betrachters fand die Feier nicht in Berlin am Brandenburger Tor, dem Symbol der friedlichen Revolution von 1989, statt. Stattdessen waren Bundespräsident Joachim Gauck und Bundeskanzlerin Angela Merkel gemeinsam mit Würdenträgern und Bürgern zu Gast in Baden-Württemberg. Außenstehende mögen sich fragen, warum Ministerpräsident Winfried Kretschmann in seiner Ansprache nicht nur über die Deutsche Einheit sprach, sondern auch über Deutschlands föderale Ordnung. Die Zeit war schließlich knapp, bevor der Gastgeber das Wort an den Bundespräsidenten übergab. Kretschmann erinnerte seine Zuhörer daran, dass es kontinuierliche Aufgabe der Politik in Deutschland sei, die richtige föderale Balance zu finden: Wer ist für was zuständig – und wer zahlt für was?
Warum hebe ich diesen Punkt hervor? Die Verteilung von Kompetenzen im Föderalstaat spielt innerhalb des politischen Diskurses in Deutschland eine wichtige Rolle. Die Frage hat einen so zentralen Stellenwert, dass der Ministerpräsident seine kurze Sprechzeit am Nationalfeiertag mit diesem Thema am besten verwendet sah. Das mag aus britischer Sicht ungewöhnlich sein. Aber gerade in den Bundesländern gehört das Thema Kompetenzverteilung zum Tagesgeschäft. Gleichzeitig ist es Gegenstand teils heftiger Kontroversen. Die deutsche Öffentlichkeit hat sich dementsprechend daran gewöhnt (und ist es manchmal wohl auch leid), in regelmäßigen Abständen die Forderung nach einer neuen Föderalismuskommission zu hören, deren Aufgabe in der Entwirrung von Mischkompetenzen liegt; oder von reichen Bundesländern, die die weniger wohlhabenden des Missmanagements verdächtigen und drohen, ihre Unterstützung zu verringern; oder von verschiedenen Bildungssystemen, die die Mobilität über Landesgrenzen hinweg erschweren.
Die Europäische Union hat dieses bereits komplexe deutsche Kompetenzgefüge um eine weitere Ebene ergänzt. Dies hat dazu geführt, dass sich die Bundesländer in den frühen 1990er Jahren erfolgreich für die Einführung des Artikels 23 („Europa-Artikel“) in das Grundgesetz eingesetzt haben, der ihnen ein Mitspracherecht in der Europapolitik der Bundesregierung und in Fragen der weiteren Integration Deutschlands in die EU gibt. Im Verlauf des Europäischen Verfassungskonvents 2002/2003 führte Deutschland die Debatte darüber an, abstrakte Kompetenzkategorien vergleichbar mit jenen im Grundgesetz in die EU-Verträge aufzunehmen. Im Vertrag von Lissabon sind diese Bereiche der sogenannten ausschließlichen, geteilten, unterstützenden, ergänzenden und koordinierenden Kompetenzen in die europäische Rechtsordnung übergenommen worden – ein Fortschritt, auch wenn das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung weiter Gültigkeit besitzt.
Natürlich ist die Frage, wie man in diesem Mehrebenensystem sowohl innerhalb Deutschlands als auch im Hinblick auf die Europäisierung seiner föderalen Struktur die richtige Balance findet, alles andere als entschieden. Die Europäisierung setzt sich gerade im Zuge der Überwindung der Krise in der Eurozone fort, auch wenn noch nicht abschließend klar ist, wie die neue Kompetenzordnung am Ende aussehen wird. Insgesamt hat der Appetit auf Kompetenzverlagerungen auch in Deutschland spürbar nachgelassen. Schon lange aber verweisen Regierungen, Parlamente und das Bundesverfassungsgericht regelmäßig auf das Subsidiaritätsprinzip. In Deutschland ist es quasi Teil der politischen Kultur, dass Vorschläge über die Zukunft Europas auch die Themen Kompetenzverteilung und Föderalismus aufgreifen. Anders als in Großbritannien bedeutet Föderalismus für die Deutschen Dezentralisierung und besitzt eine grundsätzlich positive Konnotation. Die Deutschen lieben zwar keine Kompetenzdebatten – sie sind es aber gewohnt, diese zu führen. Das Wissen in diesem Bereich und die Tradition des deutschen Föderalismus sind damit eine wichtige Ressource für jene, die die Verteilung der Zuständigkeiten in der Europäischen Union verstehen und weiterentwickeln wollen.
Tatsächlich hat die Regierung David Camerons zu Beginn der britischen „Balance of Competence Review“ im Juli 2012 den Kontakt zu den europäischen Hauptstädten gesucht – doch Berlin blockte ab. Es ist nicht schwer zu verstehen warum: Während es in Deutschland sowohl Expertise als auch eine generelle Offenheit für die Thematik gibt, wird die britische Kompetenzagenda in Berliner Regierungskreisen als wesentlich von Eigeninteressen gelenkt verstanden, mit der London Befugnisse von der EU-Ebene auf die nationale Ebene zurückverlagern will. In Deutschland hingegen werden EU-Kompetenzfragen traditionell als Teil einer breiten EU-Reformagenda betrachtet. Obwohl die britische Regierung seit der Rede des Premierministers im Januar 2013 versucht zu demonstrieren, dass London ebenfalls eine breite Reformagenda für die EU habe – Wettbewerbsfähigkeit, Deregulierung, Demokratie stellen deren wichtigste Eckpfeiler dar – wird die Motivation Londons hierzulande anders interpretiert: als innenpolitische nämlich, mit einer Agenda, in der sich eine Mehrheit der deutschen Spitzenpolitiker nicht wiederfindet, weil sie sie im europäischen Kontext nicht als konstruktiv, sondern als spaltend empfindet.
Seit einiger Zeit spekuliert nun die britische Presse über die deutsche Haltung zur Kompetenzfrage in der EU. Anlass dazu gab ein Interview Angela Merkels bei Phoenix und dem Deutschlandfunk am 13. August 2013. Darin äußerte sich die Bundeskanzlerin unter anderem über die Reform der Eurozone und die künftige institutionelle Ordnung der EU. Trotz des Bundestagswahlkampfes ging das Interview in Deutschland in der Sommerpause weitgehend unter. Britische Kommentatoren hingegen sahen darin einen Beleg für eine „Britannisierung“ der deutschen EU-Agenda. Dass die Kanzlerin in dem Interview über Kompetenzen sprach, wurde dahingehend interpretiert, dass David Camerons Europarede inzwischen Wirkung zeige, und, so hört man in London immer häufiger, dass auch andere Mitgliedstaaten – wie die Niederlande, die im Juni 2013 eine eigene Subsidiaritätsüberprüfung durchgeführt haben – von Cameron für dessen Reformziele gegenüber der EU mobilisiert worden seien. Diese Signale werden als Zeichen dafür gewertet, dass London langsam Fortschritte mache in der Eröffnung einer EU-weiten Kompetenzdebatte, die es dringend braucht, um überhaupt eine Chance zu haben, die Beziehungen zu Brüssel neu zu verhandeln.
Aus Berliner Perspektive jedoch stellt sich die Sache anders dar. Was also hat die Bundeskanzlerin genau gesagt? Die Kompetenzfrage war Teil eines längeren Gesprächs zur Reform der Europäischen Union. Mit dem Lissabon-Vertrag, so Merkel, habe das Europäische Parlament sehr viel mehr Kompetenzen erhalten und dies sei „auch richtig so“. Anschließend fährt sie fort zu erklären, dass eine Debatte über die richtige Verteilung von Zuständigkeiten innerhalb der Union im Vorfeld der Wahlen zum Europäischen Parlament 2014 nötig sei: „Was wird man in Zukunft noch an Kompetenzen nach Europa geben müssen, kann man vielleicht eines Tages auch mal was zurückgeben?” Es war vor allem dieser Satz, der das Interesse der britischen Analysten weckte. Warum hat Angela Merkel diesen Punkt aufgegriffen? Und ist dies nicht das erste Mal, dass sie auch über die Möglichkeit einer Rückverlagerung von Zuständigkeiten spekuliert? Aus deutscher Sicht sollte man diese Ausführungen jedoch nicht überbewerten. Es ist naheliegend, dass dies ein taktischer Zug war und die Kanzlerin damit vor allem die Wähler der Schwesterpartei CSU in Bayern sowie die potentiellen Wähler der neuen Partei „Alternative für Deutschland“ ansprechen wollte. Die Bundesländer betrachten mögliche Kompetenzgewinne Brüssels grundsätzlich mit Argwohn. Die Gewogenheit der bayerischen Landesregierung ist zudem unerlässlich für Angela Merkels Zukunft als Bundeskanzlerin. In dem Land fanden nur eine Woche vor den Bundestagswahlen Landtagswahlen statt, also wenige Wochen nach der Veröffentlichung des Interviews. Die deutsche Presse ignorierte die Bemerkung zum Thema Kompetenzen in den darauffolgenden Tagen weitgehend und auch die meisten Zuhörer des Interviews nahmen sie vermutlich nicht als außergewöhnlich wahr – wieso auch, stellt der Satz doch in einer immer wiederkehrenden deutschen Debatte darüber, wer wofür zuständig ist, nichts Besonderes dar.
Verheißt Angela Merkels Sieg im September 2013 nun also den entscheidenden Schritt in Richtung Kompetenzreform? Es ist unwahrscheinlich, dass die nächste Bundesregierung das Thema aufgreifen und konkrete Schritte zur Neuordnung der Kompetenzen in der EU einleiten wird, die London dabei helfen könnten, im Rahmen dieses Prozesses über die Rückverlagerung von Kompetenzen zu verhandeln. Es ist aber durchaus wahrscheinlich, dass Mitglieder der künftigen Bundesregierung gemäß der deutschen Tradition das Thema nicht ausblenden, dabei aber eher langfristige Gedanken formulieren werden – nicht zuletzt auch, um London klar zu machen, dass die Deutungshoheit nicht allein in der britischen Hauptstadt liegt. Denkbar ist auch, dass in einer langfristigen Perspektive sowohl Akzente für eine weitere Verlagerung von Kompetenzen im Zuge der Reform der Eurozone als auch bezüglich einer möglichen Rückverlagerung in anderen Bereichen wie der nicht mehr zeitgemäßen Agrarpolitik gesetzt werden. Absehbar ist jedoch, dass das Thema als Teil einer größeren und längerfristigen Vision für eine Reform der EU aufgegriffen wird, um sich von der als einseitig wahrgenommenen britischen Debatte abzugrenzen. Eines aber hat die britische Regierung bei diesem Thema ganz sicher nicht: Zeit. In London nimmt der Druck auf die Regierung Cameron durch europakritische und europafeindliche Tories stetig zu.
In Großbritannien sollte man bedenken, dass eine Vereinnahmung der Deutschen in der Frage der Kompetenzen, auch wenn sie vorrangig auf die eigene öffentliche Meinung abzielt, zwei elementare Risiken birgt. Erstens könnte Berlin ungehalten auf Versuche reagieren, Deutschland für innenpolitisch motivierte Ziele in Großbritannien zu vereinnahmen. London sollte nicht vergessen, warum Berlin die Einladung zur Teilnahme an der britischen Kompetenzüberprüfung abgelehnt hat. Zweitens, und vielleicht noch gefährlicher, könnten deutsche Spitzenpolitiker sich veranlasst sehen, deutlich zu machen, dass die Glaubwürdigkeit für die Eckpfeiler einer solchen Debatte nicht in erster Linie in London liegt. Es gibt in Deutschland eine Debatte über Kompetenzen – doch diese ist eine andere als die britische. Sie hat ihre Wurzeln in der politischen Kultur des deutschen Föderalismus, sie enthält eine akzeptierte europäische Dimension und sie war immer Teil einer umfassenden Debatte über die Reform und Föderalisierung der EU. Diejenigen Stimmen, die zuletzt in der britischen Öffentlichkeit immer stärker postulieren, dass Berlin in der Kompetenzfrage offen für britische Ideen sei, sollten deshalb vorsichtig abwägen, was sie sich wünschen.
Beitrag am 16. Oktober 2013 erschienen im „Euroblog“ des European Movement UK, in englischer Sprache