Kommentar

21. Mai 2024

Zeit zu handeln! Es braucht eine ­deutsche Strategie für Europa

German Chancellor Olaf Scholz with EU flag in background at a press conference in Berlin on April 29, 2024
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Die angekündigte „Zeitenwende“ verbietet ein Verharren im Status quo. Zwar scheint weitgehend Einigkeit über die Notwendigkeit eines Wandels der EU hin zu einem geopolitischen Akteur zu herrschen, doch nicht darüber, welche neue Politik zum Ziel führt. Da sich Europa nicht bewegt, muss Deutschland Europa bewegen. Die deutsche Politik muss klar benennen, welches Europa sie will – und entsprechend handeln, um es zu verwirklichen. Dabei muss sie sich auch dafür einsetzen, die Unstimmigkeiten und den Widerstand derjenigen zu überwinden, die das Ganze lieber aussitzen wollen.

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Derzeit ist das entgegenkommendste und produktivste Milieu in Gefahr, das Deutschland in seiner jüngeren Geschichte bisher erlebt hat. Die europäischen Staaten innerhalb der EU und NATO stehen vor ernsthaften äußeren und inneren Bedrohungen ihrer Integrität und ihres Zusammenhalts. Die Gefahr des Scheiterns und des Zerfalls dieser Union beziehungsweise dieses Bündnisses ist gegenwärtig womöglich größer als sie es seit den Anfängen des Kalten Krieges jemals war. Damals konnte Deutschland unter dem Schutz anderer seinen ­bemerkenswerten ­politischen wirtschaftlichen und kulturellen Wiederaufstieg vollziehen. Heute dagegen muss es seine Ressourcen dafür einsetzen, um jenes Umfeld zu schützen und zu erweitern, von dem es so profitieren konnte.

Es scheint zwar, als hätte Deutschlands politische Klasse diese Herausforderung grundsätzlich verstanden. So sah die Politik der sogenannten Zeitenwende, die Bundeskanzler Olaf Scholz in einer Rede kurz nach der russischen Invasion in der Ukraine im Februar 2022 als Erster umrissen hat, die Errichtung eines Sondervermögens für Verteidigung in Höhe von 100 Milliarden Euro vor. Als Teil der neuen Politik sprach sich Scholz zudem für die Entwicklung eines europäischen Luftverteidigungssystems und die Schaffung eines gemeinsamen Hauptquartiers für die geplante Schnelleingreiftruppe der EU im Jahr 2025 aus. Außerdem schlug er die Errichtung eines Rates der Verteidigungsminister vor, eine Reform der Europäischen Kommission bei gleichzeitiger Repräsentanz aller Mitgliedstaaten im Kollegium, die Anpassung der Zusammensetzung des Europäischen Parlaments sowie eine Reihe weiterer Reformen in den Bereichen Wirtschaft und Finanzen, Einwanderung und Asyl sowie Industriepolitik.

Was der Bundeskanzler jedoch nicht benannt hat, waren die Mittel und Wege zur Umsetzung derartige Veränderungen in der Politik und den Institutionen der EU. Damit fehlt Deutschlands Zeitenwende-Politik die adäquate Reichweite. Scholz befürwortet den schrittweisen Übergang zu Mehrheitsentscheidungen, lehnt jedoch das Vorangehen einer kleineren Gruppe von EU-Staaten ab. In seiner Rede in Prag im August 2022 erklärte er, „keine EU der exklusiven Clubs oder Direktorien, sondern eine EU gleichberechtigter Mitglieder“ anzustreben. Seine Vorschläge wolle er als Denkanstöße verstanden wissen. Für ihn stehe die Gleichheit aller Mitgliedstaaten im Vordergrund. Sollte man in der EU gemeinsam zum Schluss kommen, dass Vertragsänderungen notwendig seien, um Europa voranzubringen, dann sollten sie anvisiert werden.

Im Ergebnis will Bundeskanzler Scholz also eine stärkere EU, vorausgesetzt, dass alle zustimmen. Nur: Deutschland scheint damit die EU nicht durch eigene Initiative, sondern allenfalls durch Konsens anführen zu wollen. Denkanstöße von der Seitenlinie verfehlen jedoch die Herausforderung der Zeitenwende. 

Eine strategische Antwort auf unsere geopolitischen Zeiten musste vielmehr ein gründliches Überdenken der deutschen Außenpolitik und ihrer Strategie für die EU und NATO erfordern. Europäische Handlungsfähigkeit zur Bewältigung dieser Herausforderung wird nicht spontan entstehen, sondern muss durch bewusste, substanzielle Anstrengungen und gegen den Widerstand derjenigen in Europa geschaffen werden, die es vorziehen, die Dinge auszusitzen. Die deutsche Politik wird das Europa, das sie will, konkret benennen müssen (auch wenn nicht alle damit einverstanden sind) und entsprechend handeln. Sollte Deutschland die Rolle eines kontinentalen Vereinigten Königreichs übernehmen - das sich für die europäische Sicherheit einsetzt, sich aber primär für seine nationale Souveränität engagiert -, muss Deutschlands politische Elite die Auswirkungen auf ihre Nachbarn sowie die EU-Integration berücksichtigen. Wenn sie jedoch ein stärkeres Deutschland will, das fester Bestandteil der Integrationsstrukturen ist, müssen die Verantwortlichen eine stärkere EU anvisieren und aufbauen.

Die Herausforderung

Die internationale Ordnung befindet sich in einem tiefgreifenden Wandel. Ein neuer Status quo ist nicht in Sicht; viele Bereiche der Innen- und Außenpolitik befinden sich im Fluss. Da verschiedene Ereignisse unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen, hat unser Blick auf die Welt nicht mit dem strukturellen Veränderungen Schritt gehalten. Doch eines dieser Ereignisse, Russlands groß angelegte Aggression gegen die Ukraine, hat uns plötzlich die Kluft zwischen Wahrnehmung und Realität vor Augen geführt. Wir sind, wie es Außenministerin Annalena Baerbock formulierte, „in einer neuen Welt aufgewacht“.

Die Kennzeichnung dieses Ereignisses als Wendepunkt der Geschichte, als Zeitenwende, war die unmittelbare Antwort auf diese Erkenntnis, und sie schien die Politik vieler Staaten in Europa und dem Westen zu prägen. Doch scheint die Hoffnung groß, in die Zeit vor 10 oder 20 Jahren zurückgehen zu können, oder dass es nicht so schlimm kommen werde wie befürchtet. Deshalb wird nicht gründlich durchdacht, was die Zeitenwende für Europa für die europäische Integration und für das westliche beziehungsweise europäische Allianzsystem längerfristig bedeutet.

Die über die vergangenen Jahrzehnte entwickelte internationale Ordnung erodiert. Die Rückkehr von Großmachtpolitik stellt die Autorität ihre Institutionen mit ihrem Geflecht von Normen und Vereinbarungen infrage. In je nach Umständen wechselnden Verbindungen handelnde rivalisierende Mächte schieben die Normen und Institutionen der alten Ordnung beiseite. Zunehmend bestimmen geopolitische Konzepte, die Vorstellung von Großmachtprivilegien und die aggressive Nutzung militärischer Macht die Beziehungen zwischen den Staaten.

Wenn Staaten die eigenen Interessen über die gemeinsamen Normen und Verpflichtungen stellen, schwindet der Zusammenhalt von Allianzen. Selbst innerhalb von Nato und EU gibt es Mitgliedstaaten die Gegend den Geist und den Auftrag diese Institutionen handeln. Mittelmächte in verschiedenen Teilen der Welt nutzen den globalen Machtwettbewerb zur Förderung ihrer eigenen Machtinteressen und Vorteile zum Nachteil anderer. All dies verschiebt die Rahmenbedingungen europäischer Politik massiv.

Die Stärke der meisten europäischen Institutionen beruht auf dem Konsens ihrer Mitgliedschaft. Und genau diese Kraftquelle ist zur Achillesferse der europäischen Politik geworden: Fehlender Konsens führt zu Stagnation, wo Wandel gefragt wäre. Konsens auf europäischer Ebene erodiert, weil er auch innerhalb der Demokratien des Westens schwindet. In vielen westlichen Gesellschaften weicht diffuse Systemunterstützung einer wachsenden Unzufriedenheit und einem Verfall der Autorität von Eliten, was diese wiederum von politischer Initiative oder großen Reformanstrengungen abhält. Der Wandel schlägt auch auf die Außenpolitik durch, die vielfach kurzfristiger, nationaler und auf zählbaren Vorteil ausgerichtet scheint. Zwar haben die Europäer unter dem Druck der Ereignisse gemeinsam beispiellose Entscheidungen zur Verteidigung ihrer Interessen getroffen, doch ihre Reaktion bleibt an die spezifische Situation der Ukraine gebunden – als ob eine Niederlage Russlands in der Ukraine die „alte Welt“ zurückbringen könne.

Es ist höchste Zeit, dass die Europäer den Modus ihrer Zusammenarbeit und Integration grundsätzlich überdenken. Dabei sollten sie davon ausgehen, ihre territoriale Integrität, ihre wirtschaftliche Zukunft und ihre gesellschaftliche Ordnung perspektivisch selbst zu schützen und zu verteidigen. Diese Notwendigkeit wurde in der europäischen Politik schon länger erkannt, aber nicht zur Grundlage des politischen Handelns gemacht. Europa kann sich derartige Ambivalenz nicht länger erlauben – nicht nur zum eigenen Schutz, sondern auch zur Bewahrung der transatlantischen Beziehungen. Sehr wahrscheinlich werden die USA auch künftig die wichtigsten Verbündeten Europas bleiben. Da die strategische Priorität amerikanischer Politik jedoch auf China und Asien gerichtet sein dürfte, wird die Qualität der transatlantischen Verbindung künftig auf der Fähigkeit Europas zur Selbstverteidigung beruhen. Der Ausgang der Präsidentschaftswahl im November 2024 wird diese Einsicht bekräftigen, unabhängig davon, wie der Wahlsieger heißt.

Die europäischen Staaten müssen sich entscheiden, ob sie auf die Herausforderung der neuen Lage a) jeder für sich national reagieren oder ob sie b) ihre Integration verstärken wollen. Die nationale Option liefe auf eine Reihe unterschiedlicher Antworten hinaus – eine Einladung zum Nichthandeln oder Trittbrettfahren. Die Unterstützung der Ukraine bietet einen Vorgeschmack auf diese Zeiten, unbeschadet des grundsätzlichen Konsenses und der intensiven Abstimmungsbemühungen. Der Schutz der Außengrenzen und die Migrationspolitik sind ein anderes Beispiel für intensive Abstimmung, die gleichwohl das Problem nicht löst. Die europäische Option würde erfordern, EU und NATO so zu reformieren, dass ein geschlossenes Handeln und eine tatsächlich gemeinschaftliche Politik möglich würden. Derzeit sind die institutionellen Strukturen nicht imstande, diese gemeinsame Verantwortung zu schultern. Dies auch deshalb nicht, weil der Schutz Europas nach der Zeitenwende eine Reihe politischer Entscheidungen verlangt, die viele Mitgliedstaaten von EU und NATO mangels Größe und Fähigkeiten national nicht treffen würden.

Auch wenn Russlands Aggression gegen die Ukraine große strategische Aufmerksamkeit auf sich zieht, stellt dieser Krieg keineswegs die einzige Gefahr für die Integrität Europas dar. Das NATO- und/oder EU-Gebiet könnte selbst zum Ziel russischer neoimperialer Bestrebungen werden; käme es dazu, wäre es das erste Mal in der Geschichte beider Organisationen, dass ein Mitgliedstaat in Europa einem direkten militärischen Angriff von außen ausgesetzt wäre. Darüber hinaus könnten die europäischen Länder durch (nicht-)konventionelle Langstreckenraketen aus der weiteren Nachbarschaft bedroht werden. Die wirtschaftliche Sicherheit Europas hängt heute und wird es wohl auch in Zukunft von Energie- und Rohstoffimporten, Handel, Marktzugang und der Sicherheit der Handelsströme ab. Die technologische Innovation fordert das europäische Wirtschaftsmodell weiterhin heraus und wirft Fragen der Industriepolitik, des technologischen Eigentums oder der Marktorganisation auf, die auf europäischer Ebene beantwortet werden müssen. Die wirtschaftliche Verflechtung läuft zunehmend Gefahr, zu einer Waffe für geopolitische Zwecke oder als Teil machtpolitischer Rivalitäten zu werden, was sich negativ auf die Sicherheit und den Wohlstand in Europa auswirkt. Obwohl Europa von einem Zustrom talentierter und motivierter Menschen profitieren würde, haben Ausmaß und Ursprung der derzeitigen Migration nach Europa – und ihre Auswirkungen auf die innere Stabilität – ihr strategische Bedeutung verliehen und gezeigt, dass sie national nicht zu bewältigen ist.

Auf all diese Fragen müssen politische Antworten gefunden werden. Und zwar nicht zwangsläufig in einer geordneten Abfolge, sondern oft gleichzeitig und ohne Vorwarnung. Europas politisches Modell scheint darauf jedoch nicht eingestellt zu sein.

Die Antwort

Damit Europa bestmöglich auf die Erfordernisse der Zeitenwende reagieren kann, muss die EU zu einem strategischen Akteur werden – oder, wie Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen es genannt hat, zu einem „geopolitischen Akteur“. Als solcher müssten die Union und ihre Mitgliedstaaten die Fähigkeit entwickeln, auf alle Bereiche der oben dargelegten Herausforderungen zu reagieren. 

Ein strategisches Europa würde eine Streitmacht aufbauen und unterhalten, die stark genug ist, um seine territoriale Integrität, seine wirtschaftliche Basis und seine Entscheidungsfreiheit zu schützen, die in der Lage ist, jegliche Aggression von außen abzuschrecken, mit welchen Mitteln auch immer, und die entsprechende Entscheidungsverfahren und Kommandostrukturen einrichtet.

Ein solches Europa würde versuchen, seine außenpolitischen Ressourcen – seine Soft und Hard Power sowie seine Verhandlungsmacht – bestmöglich zu bündeln, um seine eigenen Interessen zu schützen. Es würde versuchen, seine Bürgerinnen und Bürger und sein Territorium von innen heraus zu sichern, seine Migrations- und Asylpolitik zu vereinheitlichen und die Sicherheit an seinen Grenzen zu gewährleisten.

Als geopolitischer Akteur müsste ein solches Europa zudem seinen territorialen Geltungsbereich definieren und die Grenzen für die Mitgliedschaft entsprechend festlegen. Unter Wahrung des Grundsatzes einer Union europäischer Demokratien würde die Mitgliedschaft für Länder offenbleiben, die dazu in der Lage, aber derzeit nicht bereit sind (wie das Vereinigte Königreich oder Norwegen). Ein strategisches Europa würde sich um eine schnellere Integration des westlichen Balkans bemühen, der kritischsten Enklave in der derzeitigen EU. Es wäre bereit, die Ukraine, die Republik Moldau und Georgien zu gegebenem Zeitpunkt aufzunehmen, womit die territoriale Finalität der europäischen Integration definiert würde.

Um effektiver zu werden, würde eine solche Union auch weitere Politikbereiche zusammenführen. Darunter die Energiepolitik, einen Binnenmarkt für militärische Güter, einen einheitlichen Kapitalmarkt und eine gemeinsame Steuerbemessungsgrundlage, die anstelle nationaler Beiträge der Mitgliedstaaten treten würde.

Die Rechtsgrundlagen und der institutionelle Rahmen dieser Union müssten an den Inhalt der politischen Reformen angepasst werden. Damit die EU ein strategischer Akteur sein kann, wäre die uneingeschränkte Loyalität der Mitgliedstaaten an die Normen und Werte der Union – mehr noch als heute – unerlässlich. Dies verlangt auch eine den Mitgliedstaaten übergeordnete Verfassungsrechtsprechung.

Eine solche EU braucht eine klare Aufteilung der Zuständigkeiten und wirksame Institutionen und Regeln für die Entscheidungsfindung. Das derzeitige Einstimmigkeitsprinzip kann in einer strategischen Union nicht aufrechterhalten werden. Die Aussetzung der Mitgliedsrechte oder die Beendigung der Mitgliedschaft müssen in Erwägung gezogen werden, um die Einhaltung zu gewährleisten.

Wenn also Europa ein strategischer Akteur in vollem Sinne werden soll, dann kann dies nur mit einer umfassenden Reform der geltenden Verträge geschehen. Diese muss verhandelt, von allen verabschiedet und von allen ratifiziert werden. Wahrscheinlich wären in den meisten Mitgliedstaaten Verfassungsänderungen erforderlich, die ihrerseits entsprechende Ratifikationshürden zu überwinden hätten.

Ungeachtet komplexer Rechtsfragen liegt die höchste Hürde eines strategischen Europas sicherlich im Bereich der Politik, der Mobilisierung des politischen Willens und der Entschlossenheit den Wandel zu gestalten. Ein großer Entwurf wie das hier umrissene Konzept wird scheitern, wenn es nicht von einer großen Koalition vorangetrieben wird, zu der Deutschland, Frankreich, Polen und andere großen Mitgliedstaaten gehören. Es wird auch scheitern, wenn nicht weitere Staaten aus allen Räumen der EU hinzukommen. Allein ein strategischer Konsens zwischen Deutschland und Frankreich wäre nicht hinreichend, so unverzichtbar beide aufgrund ihrer faktischen Vetoposition auch sein mögen. Paris und Berlin könnten die Reform anstoßen, doch deren Durchsetzung läge deutlich jenseits ihrer Möglichkeiten.

Dieses Bild eines strategischen Europas entspricht vielleicht nicht in jedem Detail, doch in der generellen Zielsetzung und Bewegungsrichtung der geläufigen deutschen Vorstellung von der Finalität der europäischen Integration – eine Vorstellung, die sich in der deutschen Feiertagsrhetorik ebenso findet wie in Wahlplattformen und sogar in Koalitionsvereinbarungen. Im Alltag der deutschen EU-Politik dagegen findet sie sich nicht wieder. Stattdessen herrscht nüchterner Pragmatismus vor, die Logik der kleinen Schritte, die Beförderung kurzfristiger Eigeninteressen und eine Scheu vor politischer Führung. Damit entspricht die Lage der EU der faktischen deutschen EU-Politik viel eher als der deutschen Europarhetorik.

So sehr man die Umwandlung der Europäischen Union zu einem strategischen Akteur für wünschenswert und nötig halten mag, ist ihre Umsetzung, realistisch betrachtet, nicht möglich. Den Europäern mangelt es am erforderlichen strategischen Konsens und den gewichtigsten Akteuren unter ihnen – Frankreich und Deutschland – an gemeinsamem Willen, an Macht und Gefolgschaft. Solange die Vision eines strategischen Europas nicht wirklich gebraucht wurde, konnte sie als fernes Zielbild für Sonntagsreden überleben. Jetzt, wo sie gebraucht wird, zeigt sich ihre Leblosigkeit. Ihre Sargnägel heißen russischer Imperialismus, amerikanische Unsicherheiten und die Rückkehr der Großmachtpolitik.

Deutschlands strategische Stunde

Klar ist: Der Status quo ist ebenso unhaltbar wie die Umsetzung von Plan A und damit eines Grand Design. Deutschlands außenpolitische Strategie kann daher nicht einfach so weitermachen wie in den vergangenen 20 Jahren und das Durchmogeln zur Tugend erheben. Die Notwendigkeit des Wandels ist erkannt, aber die Richtung einer neuen Politik bleibt unklar. Da sich Europa nicht bewegt, muss Deutschland Europa bewegen – aber in welche Richtung, wenn die Wunschoption einer tiefen Integration in der EU verloren ist? Ein deutsches Mantra der Ära Merkel lautet, dass Europa nicht scheitern dürfe. Aber es könnte scheitern und zerfallen, wenn kein Weg nach vorne eröffnet wird. Dieser Weg wird nicht auf den Tagungen des Europäischen Rates oder im Berlaymont-Hauptquartier der Europäischen Kommission gefunden werden, sondern auf die Initiative der Mitgliedstaaten zurückgehen. Die Ausarbeitung eines Plan B ist Deutschlands strategischer Moment.

Bislang hat sich die europäische Integration für Deutschland so sehr gelohnt, dass seine Elite es vorzieht, nicht über das traditionelle Konzept der EU hinauszudenken. Es ist jedoch an der Zeit, einen neuen Ansatz zu definieren. Deutschlands Regierungschefs haben die Wahl zwischen zwei Wegen. Sie sind beide schwierig, unsicher und womöglich unangenehm für eine politische Elite, die Ressentiments fürchtet. Sie lauten: Kerneuropa oder ein Europa verschiedener Geschwindigkeiten.

Kerneuropa

Zwei Monate nach Beginn der deutschen EU-Präsidentschaft 1994 legten Wolfgang Schäuble und Karl Lamers ihre vielbeachteten Überlegungen zu einem Kerneuropa vor. Ihr Hauptanliegen war, angesichts der wachsenden inneren Heterogenität der EU, einen Weg zu tieferer Integration aufzuzeigen. Wie viele Europa-Experten auch waren sie überzeugt, dass sich der Integrationsprozess in Richtung „mehr Europa“ bewegen müsse, um nicht in die Gefahr eines Zerfalls zu geraten. 30 Jahre später kreist das Nachdenken über Kerneuropa um die gleichen Probleme wachsender politischer Fragmentierung und Tendenzen zur Desintegration. Doch heute sind die wesentlichen Treiber die Verletzlichkeit Europas und die offensichtliche Bedrohung seines Zusammenhalts.

Heute muss die Strategie eines Kerneuropa deshalb die Verteidigungsfähigkeit Europas in den Mittelpunkt stellen. Die Mitglieder einer Kerngruppe würden die volle Integration ihrer Streitkräfte beschließen, zumindest jedoch die Vergemeinschaftung ihrer Landesverteidigung. Auf Basis dieser Entscheidung würden sie weitere Handlungsfelder ergänzen, wie etwa eine echte gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, ein einheitliches Entscheidungsverfahren über die Erklärung des Verteidigungsfalls, eine integrierte militärische Kommandostruktur und eine der Bedrohung entsprechende Dislozierung militärischer Verbände. Eine so beschaffene Verteidigungsunion benötigte ferner einen gemeinsamen Verteidigungshaushalt und die gemeinsame Beschaffung von Ausrüstung, was wiederum die Schaffung eines Binnenmarktes für Rüstungsgüter unter den beteiligten Staaten nahelegt. Da die Reichweite dieses Ansatzes deutlich über die in den Vertragsregeln zur „verstärkten Zusammenarbeit“ enthaltenen Grenzen hinausgeht, wäre die Umsetzung über einen eigenen neuen Vertrag erforderlich.

Weil über einen solchen Vertrag eine Union innerhalb der Union entstünde, könnte die Kerngruppe auch weitere Felder tieferer Integration einbeziehen. Die Schaffung eines inneren Zirkels machte ein gewisses Maß an institutioneller Duplizierung unvermeidlich, doch könnte die Kerngruppe andererseits auch die Weiterentwicklung des größeren Kreises der EU-Staaten vorantreiben, indem sie ihr Gewicht die EU-Beratungen im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) zum Tragen bringt. Auch die Konsensfindung innerhalb der NATO könnte von der Kerngruppe profitieren, da ihre Mitglieder eine grundsätzlich gemeinsame Position vertreten und einheitlich votieren würden. Das so beschriebene Kerneuropa könnte als ein Europa der zwei Geschwindigkeiten verstanden werden. Obgleich wenig wahrscheinlich, wäre es doch möglich, dass über Zeit weitere oder sogar sämtliche EU-Staaten der Verteidigungsunion beiträten, und der Kern damit in der EU aufgegangen wäre.

Ohne die aktive Beteiligung Deutschlands und Frankreichs ergäbe dieses Kerneuropa wenig Sinn. Im Gegenteil, beide Staaten müssten selbst die Initiative zur Bildung des Kerns ergreifen, auf der Basis eines erst noch zu schaffenden strategischen Konsenses zwischen Berlin und Paris. Wie in der Umsetzung eines strategischen Europas erweist sich auch hier die strategische Gedankenschwäche beidseits des Rheins als die größte Hürde für die Verwirklichung eines Kerneuropa.

Zwischen einem von Deutschland und Frankreich definierten inneren Zirkel oder der Mehrebenen-Koordination von Außenpolitik, Sicherheit und Verteidigung von NATO und EU wählen zu müssen, fiele etlichen europäischen Staaten schwer. In früheren Phasen des Integrationsprozesses wäre die Teilnahme die Niederlande, Belgiens und Luxemburgs wahrscheinlich gewesen. Auch Italien und wahrscheinlich Spanien hätten dabei sein wollen. Heute ließe sich dasselbe wohl nur für Luxemburg behaupten. Zahlreiche Staaten im Norden und Osten Europas mögen zwar die Analyse der Lage teilen, vertrauen aber weder Deutschland noch Frankreich genug, um ihre Verteidigung mit ihnen zusammenzuführen. Andererseits wäre gerade die Teilnahme dieser Staaten wichtig, um die Ostflanke von EU und NATO zu sichern.

Ohne eine breitere Beteiligung müssten Paris und Berlin allein vorangehen und ihre Entschlossenheit unter Beweis stellen, um andere zu überzeugen. Dabei könnte eine deutsch-französische Union Bedenken in Europa hervorrufen. Sie könnte Ressentiments oder Angst vor einem Sonderweg auf Kosten der kleineren Nationen schüren – und zudem zu Gegenmachtbildung führen und damit die ohnehin wachsende zentrifugale Tendenz in der EU verstärken. Andererseits könnten diese Befürchtungen andere europäische Akteure dazu veranlassen, ihre Zurückhaltung zu überwinden und sich für eine tiefere Integration zu engagieren. In beiden Fällen hängt das Kerneuropa-Konzept vom frühzeitigen Engagement weiterer Staaten in der Mitte, im Norden sowie im Osten Europas ab.

Ein Europa verschiedener ­Geschwindigkeiten

Sollte der Aufbau eines inneren Kreises der tiefen Integration innerhalb der EU scheitern, wäre die traditionelle Präferenz der deutschen Außenpolitik blockiert. Dann müssten unterschiedliche institutionelle Rahmen genutzt werden, um unterschiedliche Aspekte deutscher Interessen verfolgen. Die EU-Integration würde stagnieren oder zurückgehen, da die nächsten „geopolitischen“ Erweiterungen die Heterogenität der EU eher vergrößern als den Konsens zwischen den Mitgliedstaaten vertiefen würden. Bei Sicherheit und Verteidigung würden keine Fortschritte gemacht werden, da wichtige Mitglieder ihre Macht anderswo ausüben würden. Aus den gleichen Gründen würden die Hilfs- und Unterstützungsprogramme der EU bestenfalls moderat wachsen, weil die Mitglieder so viel finanzielle Autonomie wie möglich bewahren wollen.

Aus deutscher Sicht wäre eine Integration von militärischer Sicherheit auch in dem Fall noch sinnvoll. Es wäre ein Weg, wichtige Synergien bei der notwendigen Stärkung der territorialen Verteidigung gegenüber Russland nutzen zu können. Sie wäre zudem eine sichtbare Bekräftigung der Beistandsklauseln von NATO und EU und könnte zugleich mögliche antideutsche Stimmungen in Anbetracht von Deutschlands zukünftigem Gewicht als größte konventionelle Militärmacht in Mitteleuropa im Zaum halten. Darüber hinaus würde sich die politische Elite Deutschlands nicht wohl dabei fühlen, Sicherheitsgarantien national abzugeben, sondern vielmehr Garantien durch institutionelle Verpflichtungen eingehen wollen.

Unter den großen Mitgliedstaaten der Europäischen Union misst keiner der Sicherung der Ostflanke so großes Interesse zu wie Deutschland – und Polen. Wenn also ein handlungsfähiges Europa nur über den Weg verschiedener Geschwindigkeiten zu erreichen wäre, dürfte niemand bessere Voraussetzungen mitbringen als diese beiden Staaten, um die Verteidigungsintegration entlang der Ostgrenze von EU und NATO voranzutreiben und die Staaten der Region zur Mitwirkung einzuladen. Zusammengenommen erreichen die Verteidigungsausgaben Deutschlands und Polens etwa 90 Prozent der russischen Aufwendungen, wenn auch längst nicht mit vergleichbarem Ergebnis. Deutschland und Polen könnten gemeinsame konventionelle Streitkräfte unter einheitlichem Kommando und gemeinsamer Beschaffung initiieren, dauerhaft gemeinsame Streitkräfte entlang der langen Ostgrenze stationieren, eine starke Koalition innerhalb der NATO bilden und auch die Konsensfindung innerhalb der sicherheits- und verteidigungspolitischen Prozesse der EU vorantreiben. Selbstverständlich müsste eine solche Initiative auch anderen Europäern außerhalb der Ostflanke offenstehen.

Offensichtlich läge der Dreh- und Angelpunkt einer solchen Initiative in der Qualität der deutsch-polnischen Beziehung. So wie zu Beginn der deutsch-französischen Verständigung bräuchte es auch hier eine historische Geste der Versöhnung und die gegenseitige Versicherung eines gemeinsamen Schicksals – wahrscheinlich die schwierigste Aufgabe der deutschen wie der polnischen Außenpolitik in diesen Tagen. Für die polnische politische Führung hieße dies, eine neue Sicht auf Deutschland und Europa zu erklären. Für die deutsche Seite, das Risiko der Zurückweisung durch Polen einzugehen. In einer Zeit, in der Deutschland für die Bundeswehr das Doppelte des stark gewachsenen polnischen Verteidigungsbudgets aufwendet, sollten beide Seiten ein ernsthaftes Interesse daran haben, ihre militärische Kaufkraft durch gemeinsame Verteidigungsstrukturen zu stärken. Die Teilnahme weiterer Staaten, vor allem aus dem Kreis der baltischen und skandinavischen Länder, wäre zudem besonders förderlich.

Gegenwärtig sprechen die Anzeichen allerdings gegen eine Verteidigungsintegration auf der Basis einer deutsch-polnischen Initiative. Polen scheint noch immer gespalten in Bezug auf Deutschland, während Deutschland auf kleine Schritte bedacht scheint – beides zu hohe Hürden. Diese Sachlage könnte sich wandeln, wenn sich die Umstände ändern, wenn etwa die Asymmetrien in den beiderseitigen Verteidigungsaufwendungen zu Machtverschiebungen führen, oder wenn andere Akteure wie die baltischen Staaten auf Veränderung drängen, oder wenn die Glaubwürdigkeit des US-amerikanischen Engagements schwindet.

Berlin ist am Zug

Wie eingangs erwähnt, finden sich beim Blick auf die europapolitischen Optionen Deutschlands keine Patentrezepte. Die Bewältigung der aktuellen Herausforderungen durch eine Stärkung der europäischen Integration bietet keine einfachen Erfolge oder risikolosen Alternativen. Alle drei skizzierten Wege – ein Grand Design, ein Kerneuropa und ein Europa verschiedener Geschwindigkeiten – verlangen eine aktive deutsche Politik, die sich klar artikuliert und die Erwartungen ihrer Partner managt. Die nachfolgend genannten Schritte könnten dazu beitragen, ein wichtiges Momentum für ein strategisches Europa zu schaffen:

  • Deutschland sollte eine Debatte über die Vollendung der europäischen Integration anstoßen, indem die Politik klar darlegt, wie diese aussehen soll. Die Europäer brauchen Klarheit über die Reichweite ihrer Gemeinsamkeiten.
  • Deutschland und Frankreich sollten ihre strategische Allianz erneuern, nicht mit einem weiteren symbolischen Akt wie dem Aachener Vertrag, sondern durch eine sichtbare Anstrengung bei der Definition ihrer gemeinsamen Zielsetzung für Europa. Sie sollten deutlich machen, welche Reformen und Politiken sie vertiefen wollen, und was sie zu tun entschlossen sind, wenn sich die EU als nicht reformfähig erweist.
  • Die politischen Spitzen in Deutschland und in Polen sollten ein Konzept von der Größenordnung des Schuman-Plans vorlegen, mit dem die historische Aussöhnung zwischen beiden Ländern vollendet werden kann, die im Dezember 1970 mit dem Kniefall Willy Brandts in Warschau begann. Auf dieser Basis könnten beide Staaten ihre gemeinsame Verteidigungsinitiative begründen.

Dieses europäische Coming-out würde die deutsche Politik unweigerlich Kritik und Ressentiments aussetzen. Das gehört zur Führung dazu. Wenn diese richtig gemacht wird, wird Deutschland nie allein an der Spitze stehen. Derzeit jedenfalls ist der Aufbau von Partnerschaften selbst eine Herausforderung, die die Berliner Politik nicht meistert. Angesichts der Tatsache, dass die äußere Fassade von Olaf Scholz‘ Führung wie die Fortsetzung von Angela Merkels prinzipientreuem Inkrementalismus nur mit anderen Mitteln anmutet, ist es unklar, ob und wo in deutschen Politikkreisen strategische Entscheidungen durchdacht werden. Kurzfristige Antworten und schnelle Lösungen ergeben keine kohärente Strategie und keinen wirksamen politischen Rahmen. Sie verschaffen lediglich Zeit. Nur kann sich das Europa von heute kein Deutschland leisten, das weiter Zeit verliert.

Bibliografische Angaben

Janning, Josef. “Zeit zu handeln! Es braucht eine ­deutsche Strategie für Europa .” German Council on Foreign Relations. May 2024. https://doi.org/10.60823/DGAP-24-40690-en.
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