Dieser Artikel erschien ursprünglich am 13.07.2025 als Gastbeitrag bei Welt Online.
Am 14. Juli ist es wieder so weit. Soldaten der französischen Streitkräfte marschieren über die Pariser Champs-Élysées; die heimische Industrie präsentiert ihre Produkte; Millionen Franzosen sitzen vor dem Fernseher und finden sich zu einem der wenigen Momente zusammen, die das Land noch eint: Der Nationalfeiertag, der an den Sturm auf die Bastille am 14. Juli 1789 erinnert, ein Schlüsselmoment der französischen Revolution.
Der Tag ist auch für all jene Franzosen ein wichtiger Tag, die nicht flaggenschwenkend an der Prachtstraße stehen oder Ansagen der Fernsehmoderatoren lauschen, die Regiment für Regiment und Fahrzeug für Fahrzeug historische Anekdoten und technische Details herunterbeten. Denn schon am Vortag richtet die Feuerwehr im ganzen Land Feiern aus, der 14. Juli markiert für viele Menschen den Beginn der Sommerferien. Viele brechen auf in Richtung Sonne und Meer, die Straßen in der Hauptstadt verwaisen.
Die nationale Einheit bröckelt
Jedes Jahr wird ein neues Emblem der Feiern entworfen. 2025 steht zu ihrem hundertsten Jubiläum die Kornblume im Mittelpunkt, die seit 1925 an vorherige Generationen erinnert, Veteranen, Witwen, Waisen und andere Opfer von Kriegen. Wie in Großbritannien die Mohnblume, steht sie für die Farbtupfer auf den ansonsten verödeten Kraterlandschaften französischer Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs. Über der Kornblume, vor den Farben der Tricolore, zeigt das Emblem drei stilisierte Soldaten der Teilstreitkräfte – Heer, Marine und Luftwaffe. Sie verkörpern laut der Regierungsbroschüre die „notwendige Weitergabe von Werten zwischen Vergangenheit und Gegenwart“.
Wie die Weitergabe zentraler Werte in Zukunft gelingt, darum wird in Frankreich, mehr als hundert Jahre nach dem Weltkrieg, erbittert gestritten. Denn während Symbole wie die Kornblume und die Paraden des 14. Juli die nationale Einheit und eine gemeinsame Erinnerungs- und Geschichtskultur repräsentieren, steht die Geschlossenheit der französischen Gesellschaft in der Gegenwart zunehmend in Frage. Vor dem Hintergrund des Kriegs in der Ukraine ist das zunehmend nicht mehr nur ein abstraktes, gesellschaftspolitisches Problem, sondern eines, das militärische Planer beschäftigt.
Denn Zusammenhalt ist der Schwerpunkt der Verteidigungsfähigkeit jeder Gesellschaft, besonders in Demokratien, in denen das Volk souverän ist. Schwindet er, sind Demokratie und Gesellschaft bedroht. Und dass der Zusammenhalt in Frankreich schwindet, darüber sind sich die allermeisten Beobachter einig, nicht nur beim Militär: Ein Bericht nach dem anderen stellt zunehmende Vereinsamung fest, bestätigt die Zerfaserung der Parteienlandschaft, warnt vor Ausschreitungen in den Vorstädten, wie zuletzt 2023, oder diagnostiziert gleich eine allgemein um sich greifende „Brutalisierung der Gesellschaft“ (Emmanuel Macron).
Wehrpflicht als Lösung
Eine Antwort auf diese düsteren Diagnosen ist die Wiedereinführung einer Dienst- oder Wehrpflicht. Die französische Politik versucht seit mehreren Jahren, die Streitkräfte in die Lösung gesellschaftlicher Probleme einzubinden. Unter Konservativen und Katholiken wird sie für Jugendliche als Allheilmittel gepriesen. Ein Grund dürfte das hohe Ansehen der Armee sein. Während in Umfragen zuletzt nur noch rund 13 Prozent der Franzosen angaben, den politischen Parteien zu vertrauen, waren es für die Armee stolze 76 Prozent. Auch Befragte unter 35 Jahren zeigen bemerkenswert hohes Vertrauen in diese Institution (80 Prozent). Ein Referendum zur Wiedereinführung der Dienst- oder Wehrpflicht würde wohl positiv ausfallen: Mehrmals hat sich eine Mehrheit dafür ausgesprochen.
Vordergründig wird die Debatte um die Wiedereinführung der Wehrpflicht, ähnlich wie in Deutschland, mit dem Krieg in der Ukraine und der russischen Bedrohung begründet. Doch neben diesen äußeren Bedrohungen ist häufig ein anderes Motiv ausschlaggebend: Die Sorge um die Verfasstheit und den Zusammenhalt der eigenen Gesellschaft. Trotz des seit mehr als drei Jahren anhaltenden Kriegs, in der Ukraine, scheinen für viele Franzosen die Gefahren im Inneren – abnehmende gesellschaftliche Kohäsion und die Verrohung der Sitten und des Umgangs miteinander – die wichtigsten Gründe für die Befürwortung einer Dienst- oder Wehrpflicht zu sein.
Ukraine und Israel als Vorbilder
Ganz deutlich wird das, wenn in Leitartikeln oder TV-Debatten auf die beeindruckende Widerstandsfähigkeit der Ukraine verwiesen wird: Angesichts scheinbar überwältigender Bedrohungen habe Präsident Zelensky das Land geeint und dabei die ukrainische Nation (neu) erfunden. Ähnliche Bewunderung gilt – vor allem rechts der Mitte – der israelischen Resilienz und Reaktion nach dem Terror der Hamas am 7. Oktober 2023. In beiden Fällen schwingt große Bewunderung mit und auch ein gewisser Neid auf so viel (oberflächliche) Geschlossenheit und Opferbereitschaft.
In der deutschen Debatte hat Herfried Münkler vor Jahren den Begriff der postheroischen Gesellschaften geprägt. Diese Kategorisierung hat man in Frankreich, zumal im direkten Vergleich mit den deutschen Nachbarn, immer von sich gewiesen: Schließlich erinnert Frankreich voller ungebrochenem und aus deutscher Sicht häufig unreflektiertem Stolz an seine kriegerische Vergangenheit, etwa am 14. Juli. Schließlich haben französische Präsidenten auch in den vergangenen Jahren ihre Soldaten „ins Feuer“ geschickt, wie es in Frankreich verklärend heißt. Im Kampf gegen den Terror und die Destabilisierung kamen im Sahel in dem Jahrzehnt zwischen 2013 und 2023 58 Soldaten um. In dieser Zeit wurden statt der Paradeuniformen des 14. Juli immer wieder Särge durch Paris gefahren.
Die Erzählung der (west)europäische Dekadenz
Doch im Vergleich mit dem Abwehrkampf der Ukraine und Israel mischen sich auch in die sonst so unerschütterliche französische Selbstsicherheit immer mehr Zweifel: Wäre die eigene Gesellschaft für solche Aufgaben gerüstet? Würde der Zusammenhalt reichen? Wofür sind junge Menschen heute eigentlich noch zu kämpfen bereit? Und als seien diese Fragen nicht bedrückend genug, klingen immer häufiger auch in öffentlichen Debatten wesentlich dunklere Töne an. Wohlgemerkt: Es sind dies keine klaren Argumentationen, keine faktischen Analysen, sondern Anspielungen, Geraune: (West)Europa sei alt, müde, zunehmend dekadent. Dass Krieg eine Lösung für die Dekadenz sein könnte, steht dann unausgesprochen im Raum.
2018 erinnerte Emmanuel Macron, damals als junger Mann und Präsident, anlässlich des hundertjährigen Jubiläums des Endes des ersten Weltkriegs an die Gefahr, in einen Krieg zu „schlafwandeln“. Macron entlehnte diese Warnung dem Historiker Christopher Clark und münzte sie auf die bereits vor sieben Jahren zunehmenden Nationalismen in Europa. Seitdem haben sich Probleme und Forderungen an die europäische Politik vervielfacht, Antworten stehen weiter aus. Die zunehmenden Anspielungen auf den Krieg sollten uns deshalb aufmerksam machen, gerade inmitten der massiven Aufrüstung in ganz Europa.