Kommentar

16. Mai 2014

Wie Putin die Schutzverantwortung auf den Kopf stellte

Im völkerrechtswidrigen Einmarsch in die Ukraine verzerrte der russische Präsident den Begriff der „R2P“

Wladimir Putin hat sich auf ukrainischem Staatsgebiet eine „humanitäre Mission“ zum Schutz russischer Minderheiten vorbehalten. Er erzeugte damit Parallelen zur internationalen Schutzverantwortung (Responsibility to Protect), seit 2005 Handlungsprinzip unter den UN-Mitgliedstaaten. Wenngleich Putins Völkerrechtsbruch in juristische Legitimationslücken dringt, die im Kosovokrieg oder der Libyen-Intervention deutlich wurden, geschah die Annexion der Krim nicht zu vergleichbaren Bedingungen.

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Russland handele zum Schutz bedrohter russischer Minderheiten und in Verantwortung für seine Landsleute; so begründete Wladimir Putin sein Vorgehen auf der Krim und aktuell an den Grenzen der Ost- und Südukraine. Bereits beim russischen Truppeneinmarsch in Georgien 2008 räumte die russische Führung dem Schutz der Rechte sowie den legitimen Interessen der im Ausland ansässigen Landsleute außenpolitische Priorität ein. Hierbei bleibt jedoch unklar, wodurch sich diese definieren: Gelten Merkmale wie „russischsprachig“ oder der Besitz eines russischen Passes? Begründen sich Ansprüche historisch oder vor allem durch die sowjetische Vergangenheit? Oder bedingen sich die Bande durch kulturell‑soziologische oder ideologische Werte? Diese Argumentationslinie muss in ihrer außenpolitischen Wirkung als unberechenbar eingestuft werden, kann sie doch auf einen souveränen Nachbarstaat insbesondere dann bedrohlich wirken, wenn er Heimat einer russischen Minderheit ist, und folglich die Einmischung Moskaus in seine innerstaatlichen Angelegenheiten befürchten muss: in Georgien, Belarus, Lettland oder der Republik Moldau machen sogenannte ethnische Russen einen erheblichen Teil der Bevölkerung aus.

Auf der Krim sind mehr als die Hälfte der Bewohner ethnische Russen. Kulturell‑soziologisch mögen sie sich „zum Volk der Russen gehörend“ fühlen, politisch vielleicht eher dem Kreml denn Kiew nahe. Doch die Minderheiten auf der Krim – etwa die Krim-Tataren und die Ukrainer – lehnen die territoriale Eingliederung in russisches Staatsgebiet nach wie vor weitestgehend ab. Wie ein Referendum über die Zukunft der Krim unter neutralen Bedingungen ausgesehen hätte, bleibt letztlich ungewiss. Angesichts der Abspaltungsbewegungen und eines Hilfegesuchs des umstrittenen neuen Ministerpräsidenten der Krim verwies Putin bei seinem Eingreifen in die Ukraine auf die „humanitären Notlage“ russischer Krimbewohner. Im Vergleich der Krim-Annexion zur humanitären Intervention der NATO in Kosovo 1999 bediente er sich Argumentationslinien, die speziell für den Westen starke politische Zugkraft besitzen: Dem Vorwurf, dass die Weltgemeinschaft schwersten Menschenrechtsverbrechen in einem innerstaatlichen Konflikt nicht zusehen darf, entsprang das Prinzip der Responsibility to Protect (R2P). Mit diesem Konzept versuchten die UN‑Mitgliedstaaten einer humanitär begründeten Einmischung in innerstaatliche Angelegenheiten einen völkerrechtlichen Rahmen zu geben. Durch die Parallelität seiner Argumente spielte Putin auf R2P‑Präzedenzfälle wie Libyen an, in denen das Prinzip der Schutzverantwortung bereits auf der Basis einer UN‑Sicherheitsratsresolution Anwendung fand.

Das Prinzip internationaler Schutzverantwortung und die humanitäre Intervention

Der Genozid in Ruanda vor exakt 20 Jahren, dem die Weltgemeinschaft mit Untätigkeit begegnete, das Massaker von Srebrenica 1995 und die vier Jahre später folgende robuste Intervention der NATO in Kosovo lenkten den Blick auf den Schutz des Individuums auch innerhalb der Staatsgrenzen. Die völkerrechtlich umstrittene „humanitär motivierte Intervention“ in ein Land ohne Zustimmung der jeweiligen Regierung, oder sogar gegen ihren Widerstand, rückte das Individuum und damit das Gebot des internationalen Menschenrechtsschutzes stärker als den Nationalstaat ins Zentrum der völkerrechtlichen Ordnung. Trotz des Missbrauchsrisikos der humanitären Intervention bewertete die Staatengemeinschaft das Souveränitätsgebot neu, und fand mit der Entwicklung des Konzepts der R2P einen völkerrechtlichen Weg, wie das Kollektiv bei schwersten Menschenrechtsverletzungen Verantwortung für den Schutz von Menschen in fremden Staatsgebieten übernehmen kann. Im Jahr 2005 etablierte die UN‑Generalversammlung deshalb einstimmig, Menschen global vor massiven und systematischen Menschenrechtsverbrechen schützen zu wollen. Die UN‑Mitgliedstaaten einigten sich auf vier Fälle, in denen die Responsibility to Protect Anwendung findet: (1) Völkermord; (2) Kriegsverbrechen; (3) ethnischen Säuberungen; und (4) Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Primär liegt die Verantwortung bei jedem Staat selbst, seine Bevölkerung vor solchen Verbrechen zu schützen. Die Staatengemeinschaft steht jedoch in der subsidiären Pflicht, alle Staaten bei der Wahrnehmung dieser Verantwortung zu unterstützen oder intervenierend tätig zu werden, sollte eine Regierung ihrer Schutzpflicht gegenüber der eigenen Bevölkerung nicht nachkommen können oder wollen. Dabei gilt es, geeignete friedliche, diplomatische oder humanitäre Mittel gemäß Kapitel VI und VIII der UN Charta anzuwenden. Darüber hinaus besteht für die Staatengemeinschaft die Möglichkeit, kollektive und durch den UN‑Sicherheitsrat beschlossene Zwangsmaßnahmen gemäß Kapitel VII der UN-Charta anzuwenden, sollten sich friedliche Mittel als unzureichend erweisen. Ziel dieser Entwicklung war es, das völkerrechtliche Gebot der staatlichen Souveränität mit der Verantwortung der internationalen Gemeinschaft für den Menschenrechtsschutz der Zivilbevölkerung zu verknüpfen und somit schwerste Gewaltverbrechen zu verhindern.

Die Krim ist kein Spiegelbild Kosovos

Putin versuchte, völkerrechtliche Legitimationslücken westlichen Handelns in der Vergangenheit – wie den NATO‑Truppeneinsatz in Kosovo – zu benutzen, um das eigene Handeln auf der Krim als völkerrechtskonform auszuweisen. Der grundlegende Unterschied zwischen Kosovo und Krim besteht darin, dass dem Einsatz der NATO auf dem Balkan ein fast zehn Jahre andauernder blutiger Zerfall Jugoslawiens voranging, in dem unabhängige Seiten zahlreiche schwerste Menschenrechtsverbrechen dokumentierten. Der Einsatz schloss zudem an einen langen, festgefahrenen diplomatischen Prozess und eine gescheiterte UN‑Blauhelmmission an. UN‑Resolutionen für ein robustes Eingreifen der internationalen Gemeinschaft wurden seinerzeit durch ein russisches Veto im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen blockiert. Der Entschluss der NATO auch ohne UN-Mandat militärisch in den Konflikt einzugreifen war zwar formaljuristisch völkerrechtswidrig, diente als äußerste Maßnahme aber dazu, weitere massiv bedrohte Zivilisten vor dem Tod zu bewahren; gleichwohl es eine Kontroverse über die Legitimität des Eingreifens unter den UN-Nationen gibt und geben sollte, diente der Kosovo-Einsatz nicht einer Gebietseinverleibung.

In der Ukraine hingegen hatten vornehmlich friedliche Proteste zwar in einen blutigen Regierungswechsel gemündet, waren aber keinesfalls von massenhaften Verbrechen gegen die Menschlichkeit begleitet. Trotz des Hilfegesuchs der durch Militäreinsatz eingesetzten Krimregierung an den Kreml verstieß Russland faktisch gegen das Interventionsverbot.

Missbrauch des Arguments der Schutzverantwortung

Die internationale Schutzverantwortung schafft eine Handlungsgrundlage, auf der bereits im Vorfeld mutmaßlicher Massenverbrechen präventiv vorgegangen werden soll; militärische Gewaltanwendungen als Eingriff in die territoriale Integrität eines Staates finden, wenn überhaupt, nur als äußerstes Mittel auf Grundlage eines robusten UN‑Mandats statt. Es gab auf der Krim keine Anhaltspunkte für Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Völkermord oder Kriegsverbrechen, die ein militärisches Eingreifen russischer Streitkräfte ohne UN‑Mandat gerechtfertigt hätten. Beweist Russland vor den Vereinten Nationen nicht glaubwürdig, dass solche Verbrechen in der Ukraine geschehen sind, fehlt nach wie vor die Legitimation, die territoriale Integrität der Ukraine im Namen der Schutzverantwortung verletzt zu haben.

Zudem verlangt das Prinzip der Schutzverantwortung von der Staatengemeinschaft kollektives Handeln. Unternehmungen im Zeichen der R2P erfolgen immer im Rahmen der Vereinten Nationen: In multi- oder bilateralen Abstimmungen können präventive und humanitäre Maßnahmen sodann erfolgen, militärische Maßnahmen hingegen ausschließlich im Kollektiv auf Grundlage eines robusten UN‑Mandats des Sicherheitsrats. Putins Intervention in die Ukraine erfüllte keine dieser Voraussetzungen. Vielmehr vernachlässigte Russland seine eigene subsidiäre Schutzpflicht, als es der Ukraine in einer politisch unbeständigen Situation nicht beiseite stand. Als Mitglied der UN oder der OSZE, standen Russland genügend Mechanismen zur Verfügung auf eine „humanitär prekäre Lage“ im Nachbarland aufmerksam zu machen. Legitim wäre es gewesen, neutrale Verhandlungsräume zu schaffen, Mediation anzubieten oder ähnliche friedliche Schritte im Einklang mit diesen internationalen Organisationen gegenüber den ukrainischen Konfliktparteien einzuleiten.

Putin versuchte zu manipulieren, und entlarvte sich damit selbst

Indem Putin die Kiewer Regierung aufforderte, die russischsprachige Bevölkerung auf der Krim sowie im Osten und Süden des Landes endlich vor Übergriffen zu schützen, konstruierte er eine Kulisse, vor der die ukrainische Regierung als nicht fähig oder willens erscheinen sollte ihrer Schutzverpflichtung nachzukommen. Faktisch jedoch jonglierte Putin nur mit den Geistern, die er selbst gerufen hatte.

Der Preis, der für den internationalen Schutz von Zivilisten gezahlt wird, mag hoch erscheinen: Ein humanitär begründeter Eingriff in die staatliche Souveränität birgt das Risiko, als Legitimation für andere Eingriffe missbraucht zu werden. Doch Putins Vorgabe, sein Vorgehen in der Ukraine sei „zum Schutz russischer Minderheiten“ geschehen, beweist letztendlich auch, dass sich die internationale Schutzverantwortung als völkerrechtliches Handlungsprinzip weltweit etabliert hat: Denn der Großteil der Staatengemeinschaft erkannte das Argument als fadenscheinigen Vorwand für einen völkerrechtswidrigen Einmarsch in ukrainisches Staatsgebiet.

Aus der Logik der Schutzverantwortung heraus sollte die internationale Gemeinschaft im Rahmen der UN durch Instrumente des Konfliktmanagements einer weiteren Eskalation der Situation vorbeugen. Intensive Diplomatie, Verhandlungsgeschick oder Mediation können auch weiterhin die Situation zwischen den beteiligten ukrainischen Parteien und Russland entschleunigen. Dadurch könnte eine politische Lösung des Konfliktes dank internationaler Maßnahmen befördert, die Ukraine stabilisiert und gleichzeitig einem weiteren Vorgehen Putins unter dem Deckmantel einer vermeintlichen Schutzpflicht vorgebeugt werden.

Bibliografische Angaben

van Diepen, Yvonne. “Wie Putin die Schutzverantwortung auf den Kopf stellte.” May 2014.

DGAPstandpunkt 4, 19. Mai 2014, 2 S.

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