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03. Febr. 2023

Totgesagte leben länger

Eine Erweckung des Mercosur-Abkommens ist denkbar – denn die Konkurrenz schläft nicht
Bild: Track loaders arranging salt hills in the Salar of Atacama Oliver Llaneza Hesse
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Seit Russlands Angriff blickt Europa verstärkt nach Südamerika. Das EU-Mercosur-Abkommen ist das fehlende Glied einer Kette von EU-Freihandels- und Kooperationsabkommen, die mittlerweile fast alle Staaten Lateinamerikas und der Karibik einbeziehen.  

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Noch zu Beginn des vergangenen Jahres galt für viele Beobachter das EU-Mercosur-Abkommen als obsolet, als Überbleibsel einer vergangenen Periode von überkommenen Freihandelsabkommen sowie als potenzieller Klimakiller und Regenwaldzerstörer. Nur wenige Optimisten schienen noch an seine Verabschiedung zu glauben. Europäische Regierungen (wie die französische) und mehrere Parlamente (einschließlich des Europaparlaments) hatten sich gegen das Abkommen in seiner vorliegenden Form positioniert. Auch die Bundesregierung nahm unter der damaligen Kanzlerin Merkel eine zunehmend distanziertere Haltung ein. Der Koalitionsvertrag der Ampelregierung befürwortet nun zwar die Ratifizierung des Abkommens, konditioniert aber die Zustimmung an zusätzliche verbindliche Verpflichtungen zum Umwelt-, Sozial- und Menschenrechtsschutz sowie zum Erhalt des Regenwaldes.

Doch plötzlich ist das Abkommen zwischen der EU und dem Mercosur wieder zurück auf der Tagesordnung der deutschen und europäischen Politik. Bundeskanzler Scholz reiste Ende Januar nach Chile, wo die Verhandlungen über die Modernisierung des bereits seit 2002 bestehenden Assoziierungs- und Freihandelsabkommens zwischen Chile und der EU im Dezember abgeschlossen wurden. Danach ging es nach Argentinien und Brasilien, den beiden Schwergewichten im Mercosur. Das EU-Mercosur-Abkommen ist das fehlende Glied einer Kette von EU-Freihandels- und Kooperationsabkommen, die mittlerweile fast alle Staaten Lateinamerikas und der Karibik einbeziehen.  

Es scheint, dass auch in den Beziehungen zwischen der EU und Lateinamerika eine „Zeitenwende“ eingetreten ist. Die EU erinnert sich daran, dass sie schon auf dem ersten europäisch-lateinamerikanischen Gipfel 1999 eine „strategische Partnerschaft“ mit Lateinamerika angestrebt hatte. Im Oktober 2022 trafen sich zuletzt die Außenminister (beziehungsweise ihre Vertreter) der EU und Lateinamerikas in Buenos Aires, um ein Gipfeltreffen der Regierungschefs der EU und der Gemeinschaft der Staaten Lateinamerikas und der Karibik (CELAC) vorzubereiten, das nun vom 17. bis 18. Juli in Brüssel stattfinden soll. Das letzte Gipfeltreffen liegt immerhin bereits acht Jahre zurück. Der Außenbeauftragte der EU, Josep Borrell, forderte nach dem Außenministertreffen im Herbst, 2023 solle das Jahr Lateinamerikas in Europa und das Jahr Europas in Lateinamerika werden. Insofern kommt dem EU-Mercosur-Abkommen auch eine symbolische Bedeutung zu. Damit zeigt die EU, dass sie in Lateinamerika präsent ist, und unterstreicht ihr strategisches Interesse an der Region.    

Zweifellos hat der strategische Wert Lateinamerikas und der Karibik für die EU seit der russischen Invasion in der Ukraine zugenommen. Politisch ist das Votum der lateinamerikanischen Regierungen bei Abstimmungen in den Vereinten Nationen wichtig. Wirtschaftlich verfügt Lateinamerika über Rohstoffe, insbesondere Erdgas und Öl, die früher von Russland in die EU geliefert wurden. Andere strategisch wichtige Rohstoffe wie etwa Lithium (die EU bezieht 78 Prozent davon aus Chile) werden bereits aus Lateinamerika importiert. Neben Chile verfügen auch Bolivien und Argentinien über große Lithiumvorkommen. Darüber hinaus gehört Lateinamerika zu den Regionen, die das größte Potenzial für die Produktion und den Export von grünem Wasserstoff zu wettbewerbsfähigen Produktionskosten haben. Dies macht die Region besonders interessant für Europa, einem der größten Zukunftsmärkte für grünen Wasserstoff. Aber Europa muss jetzt handeln.

Europa kann von Lateinamerika keine Vorzugsbehandlung erwarten.

Die EU steht in Lateinamerika in einem Wettbewerb mit anderen Akteuren. Die USA wollen verlorenes Terrain zurückgewinnen, China seine Position als wichtigster Handelspartner vieler Länder konsolidieren, und andere Staaten zeigen ebenfalls ein gesteigertes Interesse an Lateinamerika als Rohstofflieferant und Absatzmarkt. So hat zum Beispiel der japanische Außenminister Mitte Januar Argentinien, Brasilien, Ecuador und Mexiko besucht. China wiederum strebt ein Freihandelsabkommen mit Uruguay als Vorstufe für ein Abkommen mit dem Mercosur an. Brasiliens Präsident Lula da Silva hat jedoch mit einem strategisch geschickten Schachzug zukünftige Verhandlungen mit China über ein Freihandelsabkommen mit dem Mercosur an die vorherige Unterzeichnung und Ratifizierung des Abkommens mit der EU gekoppelt. 

Dies zeigt: Die EU ist nach wie vor ein wichtiger Akteur in Lateinamerika (insbesondere in den Ländern des Mercosur), sowohl als Handelspartner, obgleich von China überholt, als auch als Investor (über europäische Unternehmen). Sie verfügt zudem als Erfolgsmodell über Soft Power. Europa kann jedoch von Lateinamerika keine Vorzugsbehandlung erwarten. Die meisten Regierungen in der Region wollen ihre Außenbeziehungen so weit wie möglich ausdifferenzieren und ausbalancieren.

Die EU muss lernen, ihre geopolitischen Ziele in einer Welt zu vertreten, in der sich die geoökonomischen Parameter zu ihren Ungunsten verschieben. Das EU-Mercosur-Abkommen und andere Abkommen mit Lateinamerika müssen der politischen Öffentlichkeit in Europa weniger als Freihandelsabkommen, denn als Abkommen zur Sicherung der strategischen Autonomie Europas präsentiert werden, um zum Teil berechtigte, teils vorgeschobene Bedenken auszuräumen. Denn auch ohne Unterzeichnung des Abkommens mit der EU haben die brasilianischen Fleischexporte 2022 ein Rekordniveau erreicht, vor allem aufgrund der chinesischen Nachfrage. Und die Brände und Abholzung im Amazonasgebiet haben trotz der Nichtunterzeichnung des EU-Mercosur-Abkommens seit 2019 deutlich zugenommen. Für die Gegner des EU-Mercosur-Abkommens war der brasilianische Präsident Bolsonaro ein Glücksfall. Seine umweltfeindliche Politik und die Brände im Amazonas-Regenwald mobilisierten die öffentliche Meinung in Europa und ermöglichten es den Agrarlobbyisten, ihre protektionistischen Ziele hinter dem Umweltschutz zu verstecken.

Statt Geopolitik zu betreiben, haben wichtige Akteure innerhalb der EU zu lange einen moralisch verbrämten Protektionismus vertreten.

Mit dem Wahlsieg Lulas und seinen glaubwürdigen Absichtserklärungen, die Umwelt und den Amazonas-Regenwald zu schützen, sowie mit der Ernennung von Marina Silva zur Umweltministerin gerät die Argumentation der Gegner des EU-Mercosur-Abkommens unter Druck. In der Praxis müssen sich die Absichtserklärungen der brasilianischen Regierung jedoch gegen den Widerstand eines eher konservativen Kongresses mit einer starken Agrarlobby durchsetzen.

In der EU wird es in erster Linie darum gehen, die französische Regierung (und eine Mehrheit in der Nationalversammlung) zu einem Kurswechsel zu bewegen. Aber auch andere europäische Regierungen müssen ihre Position überdenken. Statt Geopolitik zu betreiben, um die strategische Autonomie Europas zu stärken und strategische Partnerschaften aufzubauen, haben wichtige Akteure innerhalb der EU zu lange einen moralisch verbrämten Protektionismus vertreten.   

Aus europäischer Perspektive scheinen zwei Optionen realistisch, um das EU-Mercosur-Abkommen über die Ziellinie zu bringen: eine gemeinsame Erklärung beider Seiten, in der einige Verpflichtungen des Kapitels zu Handel und nachhaltiger Entwicklung klargestellt werden. Oder ein verbindliches Zusatzprotokoll, das im Gegensatz zur ersten Option neue Verpflichtungen zu den bereits im Entwurf des EU-Mercosur-Abkommens aufgeführten hinzufügen könnte. Es ist möglich, dass die Mercosur-Länder beidem zustimmen, aber sie werden eine Gegenleistung in Bezug auf das öffentliche Beschaffungswesen und den Schutz für bestimmte Industriebranchen verlangen. In Anbetracht der Erfahrungen mit anderen Abkommen mit Lateinamerika (etwa mit Zentralamerika oder Mitgliedern der Andengemeinschaft), die auf europäischer Seite immer noch nicht vollständig ratifiziert sind, sollte das Mercosur-Abkommen in den Teilen, die allein in die Zuständigkeit der EU fallen, vorläufig in Kraft gesetzt werden, sobald das Europaparlament das Abkommen ratifiziert hat.

Die große Herausforderung besteht jetzt darin, einen Ausgleich zwischen den Interessen beider Seiten zu finden, ohne den Text des Abkommens neu zu verhandeln. Eine Neuverhandlung würde ein neues Verhandlungsmandat für die EU-Kommission erfordern und die Unterzeichnung des EU-Mercosur-Abkommens, über das bereits mehr als 20 Jahre verhandelt wurde, weit in die Zukunft verschieben. Josep Borrell ist zuzustimmen: In Tangotexten mag es zwar heißen, dass 20 Jahre nichts sind, aber im Falle des EU-Mercosur-Abkommens sind 20 Jahre definitiv zu viel. 2023 könnte die letzte Chance für die Unterzeichnung des Abkommens sein. Sonst wird man bald nicht mehr darüber diskutieren, warum es immer noch nicht unterzeichnet ist, sondern warum es obsolet geworden ist.

Bibliografische Angaben

Nolte, Detlef. “Totgesagte leben länger.” German Council on Foreign Relations. February 2023.

Dieser Artikel ist zunächst beim IPG-Journal am 3. Februar 2023 erschienen.

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