Mit einem Putschversuch in der Türkei hat derzeit kaum jemand gerechnet. Wer sind die Putschisten?
Nach jetzigem Kenntnisstand scheint es, als stammten die Putschisten vor allem aus der mittleren Führungsebene des türkischen Militärs. Viele der obersten Generäle haben sich dagegen sehr schnell hinter die Regierung gestellt. Nach Angaben des kommissarischen Armeestabschefs, Umit Dundar, seien überwiegend Angehörige der Luftwaffe, der Militärpolizei und der Panzertruppe beteiligt gewesen. Zum Hintergrund der Putschisten gibt es verschiedene Darstellungen. Die türkische Regierung sieht die Gülen-Bewegung hinter dem Putschversuch. Fethullah Gülen selbst weist alle Anschuldigungen von sich. Möglich wäre auch eine Beteiligung kemalistischer Fraktionen des Militärs. Diese verstehen sich grundsätzlich als Hüter der republikanischen Prinzipien. Teile der Opposition wiederum vermuten eine Inszenierung durch Präsident Erdoğan, um seine Machtbasis weiter auszubauen. Tatsächlich gibt es bislang für keine der Darstellungen belastbare Beweise. Unabhängig davon, wer letztendlich hinter dem Putschversuch steht, ist eines bereits klar: Erdoğan profitiert am meisten davon.
Die türkische Regierung verkündete bereits am Samstag, die Lage wieder unter Kontrolle zu haben. Warum ist der Putsch so schnell gescheitert?
Vergleicht man den aktuellen Putschversuch mit früheren Militärputschen in der Türkei, fallen zwei Aspekte auf. Zum einen war nur ein sehr kleiner Teil des Militärs an dem Putschversuch beteiligt. Offensichtlich fehlte die Unterstützung eines großen Teils der Militärführung. Zum anderen wirkten Planung und Umsetzung höchst dilettantisch. Es gab keinen ernsthaften Versuch, die Regierung festzusetzen. CNN Türk wurde zwar zeitweise vom Militär besetzt, dennoch konnte Erdoğan ungehindert im Fernsehen zu Gegenprotesten aufrufen und Statements abgeben. Innerhalb kürzester Zeit waren Tausende auf der Straße, um sich gegen die Putschisten zu stellen.
Erdoğan spricht von einem „Geschenk Gottes“. Die Opposition befürchtet einen noch autoritäreren Regierungsstil. Wie sehen Sie das?
Erdoğans Machtbasis ist durch den gescheiterten Putschversuch gestärkt worden. Betrachtet man die anhaltende Verhaftungswelle, wird sehr schnell deutlich, dass hier nicht nur gegen jene vorgegangen wird, die unmittelbar an dem Putschversuch beteiligt waren. Insgesamt wurden bislang mehr als 6000 Menschen verhaftet. Binnen weniger Stunden nach dem Putschversuch wurden fast 3000 Richter und Staatsanwälte entweder entlassen oder verhaftet. Dieses extrem schnelle und gezielte Vorgehen deutet sehr stark darauf hin, dass es bereits vorbereitete Listen mit für Erdoğan unliebsamen Personen gab. Der Putschversuch bietet nun die ideale Gelegenheit, sich dieser Leute zu entledigen. Der Präsident selbst spricht von einer „Säuberung“ – ein Begriff mit einer totalitären Konnotation.
Was bedeutet das mit Blick auf die Polarisierung der türkischen Gesellschaft?
Die Lage ist extrem angespannt. Alle Oppositionsparteien haben sich klar gegen den Putschversuch ausgesprochen. Viele befürchten nun aber eine Art Racheakt der AKP-Regierung, der letztendlich alle Kritiker Erdoğans treffen könnte. Es gibt Berichte, wonach Leute angegriffen wurden, weil ihnen Sympathien für die Putschisten unterstellt wurden. Gleichzeitig fordert ein Teil der Bevölkerung die Wiedereinführung der Todesstrafe. Auf der anderen Seite nimmt die Wut auf den Präsidenten immer stärker zu. Anstatt dieser Polarisierung entgegenzuwirken, vertieft Erdoğans Rhetorik die Gräben noch zusätzlich.
Was bedeuten diese Entwicklungen für die Beziehungen zur EU?
Die momentanen Entwicklungen in der Türkei sind auch für die Beziehungen zur EU sehr belastend. Demokratische Prinzipien und Rechtsstaatlichkeit sind in Gefahr, statt dass sich die Türkei diesen Prinzipien weiter annähert. Dennoch ist es wichtig, dass der Kontakt zur Türkei jetzt nicht abbricht. Die EU hat für die Türkei eine große wirtschaftliche Bedeutung. Solange es eine Grundlage für die Weiterführung der Beitrittsverhandlungen gibt, sind gewisse Anknüpfungspunkte gegeben. Wichtig ist, dass die EU geschlossen und mit einer klaren Haltung der Türkei gegenüber auftritt. Die ersten Reaktionen sowohl aus den Mitgliedstaaten als auch auf EU-Ebene fielen dementsprechend klar und kritisch aus.