Kommentar

16. März 2011

Nuklearkatastrophe in Japan

Deutschland braucht eine ehrliche Debatte über Kernenergie

Die japanische Reaktorkatastrophe hat die Debatte um Kernenergie in Deutschland wieder entfacht. Politik und Gesellschaft arbeiten sich nun an neuen sicherheitstechnischen Überlegungen ab. Doch nicht nur im augenblicklichen emotionalen Reflex, sondern bereits seit Jahren werden die falschen Fragen gestellt.

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Egal, wie sehr wir Kernkraftwerke überprüfen und nachrüsten: Eine Sicherheitsgarantie kann es nicht geben. Wir müssen uns deshalb fragen, ob wir wirklich bereit wären, die Folgen eines nuklearen Super-GAUs zu  tragen. Statt Aktionismus brauchen wir eine echte Diskussion, ob die Vorteile der Kernenergie ihre Nachteile überwiegen.

Super-GAU in Japan, Aktionismus in Deutschland

Nach dem Super-GAU im japanischen Kernkraftwerk Fukushima fragt die Bevölkerung in Deutschland lautstark, ob ein derartiges nukleares Unglück auch hierzulande passieren könnte. Eine Reaktorkatastrophe wie in Tschernobyl vor 25 Jahren haben viele mit Verweis auf niedrige sowjetische Sicherheitsstandards als bei uns nicht wiederholbar abgetan. Wenn aber im Hightechland Japan eine Nuklearkatastrophe möglich ist, so die besorgte Frage, können dann deutsche Reaktoren sicher sein?

Die Energiepolitik der Bundesregierung, die erst vor wenigen Monaten den bestehenden Atomkonsens aufgekündigt hatte, ist vom Super-GAU in Japan kalt erwischt worden. Zudem stehen Landtagswahlen unmittelbar bevor. Hektisch versucht die Koalition nun, das Ruder in der Atompolitik herumzureißen, verkündet die Kanzlerin ein Moratorium der Laufzeitverlängerung. Die älteren Meiler sollen dauerhaft vom Netz, die neueren nach strenger Überprüfung – darauf, ob es hinter dem ersten Notfallsystem noch ein zweites und drittes gibt – nachgerüstet werden. Das ist besser als nichts. Doch es verfehlt die eigentliche Fragestellung bei der Kernenergie.

Die richtigen Fragen stellen

Die Frage, ob Kernenergie beherrschbar ist oder es zumindest mit weiterem technologischem Fortschritt sein könnte, war schon immer falsch. Denn eine Garantie kann es nicht geben; die Eintrittswahrscheinlichkeit eines erneuten Super-GAUs ist sehr gering, aber immer größer als Null.

Wir müssen uns daher fragen, ob wir tatsächlich bereit sind, das niemals ausschließbare Restrisiko einzugehen. Risiken einzugehen ist nicht ungewöhnlich;  wir alle tun es täglich, beispielsweise im Straßenverkehr. Trotz Anschnall- und Helmpflicht besteht ein Restrisiko. Ein Risiko einzugehen ist per se auch nicht leichtfertig – wenn wir die Folgen zu tragen bereit sind. Trotz des Unfallrisikos bauen wir Verkehrswege weiter aus, weil uns die Vorteile der erhöhten Mobilität wichtiger erscheinen als die dabei offenbar unausweichlichen Opfer.

Fahrlässig ist es hingegen, wenn wir ein Risiko eingehen, weil wir nicht annehmen, dass der Ernstfall überhaupt eintreten kann; wenn wir uns also etwas vormachen und uns über die Risiken täuschen, das Denkbare nicht denken. Wollen wir weiterhin glauben, dass es einen Super-GAU bei uns nicht geben kann? Oder wären wir als Gesellschaft, wären Anlagenbetreiber und Bundesregierung auch beim nachgerüsteten Weiterbetrieb der Kernkraftwerke bereit, die Folgen zu tragen – die sehr realen Folgen eines sehr unwahrscheinlichen, aber möglichen Super-GAUs? Wer dazu bereit ist – Anlagenbetreiber? Bundesregierung? Verbände? Parteien? – sollte dies deutlich kommunizieren und für seine Position werben.

Vor- und Nachteile abwägen

Wenn die Bundesregierung jetzt die Kernkraftwerke in Deutschland überprüfen will, dann versucht sie jedoch nur wieder, die Frage der Beherrschbarkeit zu beantworten. Nach Tschernobyl sollte durch erhöhte Sicherheitsanforderungen ein zweites Tschernobyl ausgeschlossen werden. Nach Fukushima kann man natürlich versuchen, ein zweites Fukushima auszuschließen. Aber auch dann ist ein vielleicht ganz anders verlaufender Super-GAU denkbar.

Die eigentliche Frage, die die Bundesregierung und die gesamte Gesellschaft in dieser Situation beantworten müssen, ist: ob wir wirklich bereit wären, die Folgen eines nuklearen Super-GAUs zu tragen, wie ihn die Japaner jetzt leidvoll erfahren. Oder anders ausgedrückt: Überwiegen die Vorteile der Kernenergie ihre Nachteile? Es ist ja nicht so, dass Kernkraft keine Vorteile hätte. Im Vergleich zu Erdgas etwa, das auch als „Brücke“ in die erneuerbare Energieversorgung gilt, steht Kernenergie in einzelnen Punkten besser da: Brennstoffkosten und Importrisiko sind niedriger, die Klimaeffizienz ist höher. Gegen Kernenergie wiederum sprechen unter anderem die höheren Investitions- und Entsorgungskosten, die Abfallproblematik, die Weiterverbreitungsgefahr kernwaffenfähigen Materials – und eben das nicht ausschließbare Restrisiko eines Super-GAUs.

Fundierte Entscheidungen fällen

Die Vor- und Nachteile müssen der Bevölkerung sachlich kommuniziert werden, beispielsweise im Rahmen von Informationskampagnen. Mit den Bürgern muss dann darüber offen und sachlich diskutiert werden, wie wir die Vor- und Nachteile gewichten und gegeneinander abwägen wollen, z.B. auf Parteitagen und in Bürgerversammlungen in den Kommunen. Ebenso wichtig ist die Diskussion im Bundestag und den Landesparlamenten.

Wenn uns als Gesellschaft die Nachteile der Kernenergie, insbesondere die Folgen eines Super-GAUs, zu schwerwiegend erscheinen, als dass wir sie zu tragen bereit wären, dann reicht es nicht, wenn die Bundesregierung die Sicherheitsanforderungen an die Kernkraftwerke verschärft. Dann müssen wir uns als Wähler und dann müssen sich unsere gewählten Vertreter in Parlamenten und Regierungen auf Bundes- und Länderebene zügig von der Kernenergie verabschieden, bevor das unwahrscheinlich Mögliche unsere Glaubensannahmen über den Haufen wirft. Machbar ist der Ausstieg allemal.

Bibliografische Angaben

Viëtor, Marcel. “Nuklearkatastrophe in Japan.” March 2011.

DGAPstandpunkt 4, 17. März 2011, 2 S.

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