Mit schlafwandlerischer Sicherheit hat die „Ampel“-Koalition den schlechtestmöglichen Termin für den Bruch ihres Regierungsbündnisses gefunden. Zeitpunkt, Form und Stil werden in der Öffentlichkeit ganz überwiegend negativ bewertet, es gibt keine Befreiungsschlag-Euphorie. Die reine Tatsache der Beendigung dieser unglücklichen, erstmals auf Bundesebene erprobten Dreier-Konstellation stößt dagegen auf breite Zustimmung.
Bereits zuvor hatte eine Mehrheit sich in Umfragen für vorgezogene Neuwahlen ausgesprochen. Gegenwärtig spricht wenig dafür, dass auch nur eine der „Ampel“-Parteien ihr Ergebnis von 2021 – SPD (25,7 Prozent), Grüne (14,7 Prozent) oder FDP (11,4 Prozent) – bei diesen nun bevorstehenden Wahlen übertreffen könnte.
Die verpasste „Zeitenwende“-Chance
Den Moment ihrer größten Popularität erlebte die Koalition nach der starken „Zeitenwende“-Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz am 27. Februar 2022, drei Tage nach dem Beginn des russischen Eroberungskrieges in der Ukraine. Die historische Wende-Situation hätte dann allerdings erfordert, unverzüglich die Prioritäten der Bundespolitik neu zu ordnen. Das unterblieb. Stattdessen arbeiteten Regierung und Mehrheitsfraktionen weiter den kleinteiligen, klima-, sozial- und identitätspolitisch ambitionierten Koalitionsvertrag von vor dem Krieg ab. Die epochale „Zeitenwende“ wurde mit dem rasch beschlossenen 100-Milliarden-Euro-„Sondervermögen“ zu einer Art Spezialproblem der Bundeswehr miniaturisiert; die offensichtlich untaugliche Verteidigungsministerin erst ein Jahr später ausgetauscht.
Zu keinem Zeitpunkt war der Versuch erkennbar, zu einer „Zeitenwende“-Regierung auf der Höhe der neuen Zeit zu werden. Erst nach dem Koalitionsbruch erklärte Bundeskanzler Scholz genau die Themen zur Priorität (für Gespräche mit der CDU/CSU-Opposition), die eigentlich seine bisherige Amtszeit hätten prägen müssen: Verteidigung, Wirtschaft und Migration. Es scheint so, als ob die deutsche Regierung vorher durch irgendetwas – Ideologie, Ignoranz, Antriebsschwäche? – daran gehindert war, das Offensichtliche zu tun.
Eine Regierung der neuen Stärke
Dem Offensichtlichen Priorität einzuräumen, wird nun die Aufgabe der Nachfolgeregierung sein, die (wenn sich nicht das seitens der SPD immer wieder beschworene „Wunder“ von 2021 doch noch wiederholt) von der Union angeführt werden dürfte, voraussichtlich mit der SPD als kleinerem Koalitionspartner und Friedrich Merz als Bundeskanzler. Je nach Wahltermin könnte diese erneute „Große Koalition“ ihre Arbeit im März, April oder Mai 2025, vielleicht auch erst im Juni aufnehmen. Das heißt: Bis zum Sommer wird Deutschland wohl mit einer vorläufigen Haushaltsführung leben müssen. Das schwächt. Koalitionsverhandlungen und die sich anschließenden Haushaltsberatungen sollten deshalb nicht unnötig in die Länge gezogen werden. Es pressiert.
Was hierzulande nicht gern gedacht und gesagt wird, was aber alle unsere Partner und Gegner von außen sehen, ist die internationale Größe und Bedeutung dieses Landes. Deutschland ist das größte Land Europas, die zweitgrößte NATO-Nation und im Augenblick sogar die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt. Daraus erwächst Verantwortung, etwa im Sinne des kategorischen Imperativs des Philosophen Hans Jonas: „Du musst, weil du kannst!“ Die Erwartungen an die Rolle Deutschlands in der globalen Politik sind groß. Ihnen, soweit es geht, gerecht zu werden, erfordert Selbstbewusstsein, Stärke, Handlungsfähigkeit, europäische Gemeinsamkeit und strategische Ambition. Und ja, auch Führungswillen.
Deutschland als Garant für Freiheit und Demokratie
In den tektonischen Erschütterungen und Verschiebungen unserer Zeit muss Deutschland eine verlässliche Bank für Freiheit und Demokratie, für die universelle Geltung der Menschenrechte und für eine regelbasierte Weltordnung sein.
Deutschlands größter und wichtigster Partner, Amerika, die größte Volkswirtschaft der Welt, die führende NATO-Nation, wird möglicherweise in den kommenden Monaten ihren geopolitischen Kurs und ihren Modus Operandi ändern. Vom erneut gewählten US-Präsidenten Donald Trump weiß man, dass die Änderung der Spielregeln jederzeit zum Repertoire seines Politikansatzes gehört. Das kann man beklagen, aber damit ist zu rechnen. Mit der Herausforderung Trump wird Deutschland umso besser umgehen können, je konsequenter der kommenden Bundesregierung die Priorisierung des Offensichtlichen gelingt: Verteidigung, Wirtschaft, Migration.
Ein neuer Kurs der Stärke für innen und außen
Nach Innen kann ein solcher Kurs neuer Stärke helfen, Verlorenheitsgefühle in Teilen der Wählerschaft zu überwinden – von Bevormundung und Besserwisserei hin zu einer Politik, die erwachsene Staatsbürger für die Verbesserung des großen Ganzen gewinnt, auch wenn das mit Zumutungen verbunden sein sollte. Der opportunistische Dauerappell an die egoistischen Motive imaginierter Homo-oeconomicus-Wähler sollte erst einmal ausgedient haben (zumal er in den „Ampel“-Zeiten das Gegenteil von erfolgreich war).
Nach Außen macht neue wirtschaftliche und militärische Stärke Deutschland attraktiv für alle unsere Partner und schreckt Bedrohungen ab.
Was für die Wiederbewaffnung der Bundeswehr und die Herausbildung einer neuen Wehrhaftigkeit politisch und administrativ zu tun ist, muss nicht erst erforscht werden. Es ist erhoben, analysiert, bekannt. Konzepte liegen vor. Alle notwendigen Maßnahmen sind im Übrigen populär, sie müssen nicht etwa gegen eine wehr-skeptische Bevölkerung erst mühsam durchgesetzt werden. Im Gegenteil, skeptisch bis obstruktiv waren in den vergangenen „Zeitenwende“-Jahren vor allem Teile der Regierungskoalition selbst.
Mut zur Umsetzung des Offensichtlichen
Eine Vermehrung der Soldatenzahl über die gegenwärtig 180.000 hinaus fänden 56 Prozent der Deutschen richtig (Bevölkerungsbefragung 2023 des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr/ZMS). Mehr Geld fürs Militär befürworten je nach Umfrage 52 Prozent (ZDF-Politbarometer im Juli) oder 57 Prozent (ZMS). Die Wehrpflicht ist in allen Erhebungen mehrheitsfähig; 43 Prozent meinen sogar, sie sollte auch für Frauen gelten (Ipsos 2023). 57 Prozent der unter-50-jährigen Männer beantworten die Frage, ob sie selbst ihr Land „mit der Waffe in der Hand“ verteidigen würden, mit Ja. 86 Prozent sehen die Bundeswehr positiv. Und eine Zwei-Drittel-Mehrheit will die Ukraine weiter militärisch unterstützen „wie bisher“ oder „stärker“ (Politbarometer vom Oktober). Da wundert es nicht, dass der sozialdemokratische Verteidigungsminister, der von seinen eigenen Fraktionskollegen für Vokabeln wie „Kriegstüchtigkeit“ (als Ziel der Bundeswehr-Ertüchtigung) gescholten wird, der beliebteste Politiker des Landes ist.
In dieser Zeit, da die Einschläge näherkommen und der „sense of urgency“ in unserer Gesellschaft wächst, braucht es eine Regierung, die sich traut, das Offensichtliche und Populäre endlich auch zu tun.