Gute Startbedingungen
Die Verurteilung Marine Le Pens in erster Instanz, Ende März, erleichtert den Neustart der deutsch-französischen Zusammenarbeit. Die Fraktionsvorsitzende der Rechtsaußen des Rassemblement National (RN) wird mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht Kandidatin für die nächsten Präsidentschaftswahl sein, die in rund zwei Jahren ansteht. Und obwohl das RN mit seinem jungen Parteivorsitzenden Jordan Bardella über einen starken Plan B verfügt, hat das Damoklesschwert eines rechtspopulistischen Siegs in Deutschlands wichtigstem EU-Partnerland an Schrecken verloren.
Berliner Stimmen, die mit Verweis auf dieses Szenario von Annäherungen an Frankreich abrieten, sind zuletzt verstummt. Auch nach der Wiederwahl Donald Trumps hatten sie gewarnt, dass, wer sich angesichts der drohenden Reduzierung von US-Garantien unter Trump nun Frankreich zuwende, drohe, vom Regen in die Traufe zu geraten. Mindestens bis zum Urteil des Berufungsgerichts im Fall Le Pen, vermutlich im Sommer 2026, fallen diese Stimmen weniger ins Gewicht.
Historischer Kompromiss in Sicht
Das vergrößert vorerst die Spielräume für Merz im Umgang mit Emmanuel Macron. Schon im vergangenen Jahr hatte der Kanzlerkandidat der CDU enge Kontakte zum amtierenden Präsidenten Frankreichs geknüpft, die seit dem Wahlsieg wesentlich intensiviert wurden. Macron hofft zugleich, trotz der misslichen innenpolitischen Lage, die ihm verbleibenden zwei Jahre seiner Präsidentschaft gemeinsam mit Merz zu nutzen, um der Vision einer souveränen EU näher zu kommen.
Die Konturen eines solchen deutsch-französischen Kompromisses zur Vertiefung der EU zeichnen sich bereits ab. Ein „strategischen Dialog“, den Macron bereits Angela Merkel und Olaf Scholz angeboten hatte – jedoch ohne Erfolg – könnte einen neuen „Deal“ des EU-Führungsduos einfädeln, der in seiner Dimension den Kompromissen rund um den Maastricht-Vertrag und die Schaffung des Euro ähnelte: Frankreich könnte seine national-souveräne nukleare Abschreckung auf EU-Partnerstaaten ausweiten, die Alternativen zu existierenden US-Garantien suchen. Im Gegenzug würde Deutschland seine fiskalische Feuerkraft in den Dienst der europäischen Souveränität stellen.
Nationale Interessen, europäische Souveränität
Der Koalitionsvertrag schließt diese Entwicklung jedenfalls nicht aus: Zwar scheuen die Koalitionäre den offenen Bruch mit den US-Partnern, wie Merz ihn in der Elefantenrunde am Wahlabend vor einem Millionenpublikum in den Raum stellte. Viele Passagen deuten aber an, wie stark das souveränistische Denken und Vokabular der französischen Politik mittlerweile auch die europapolitischen Überlegungen in Berlin prägt: „Angesichts des geopolitischen Epochenbruchs muss Europa umfassende strategische Souveränität entwickeln“ heißt es – ein Satz, der in Berlin noch vor kurzem undenkbar gewesen wäre.
Die deutsch-französische Freundschaft ist dafür die Grundlage, bleibt „von überragender Bedeutung für ganz Europa“. Die Koalitionäre bekennen sich zu zwei Milliarden schweren Rüstungsprojekten mit Frankreich, dem Future Combat Air System (FCAS) und dem Main Ground Combat System (MGCS). Dass viel Geld in die Entwicklung solcher Systeme der nächsten Generation und der dazugehörigen Technologien und Industrien fließen, zudem „strategisch ausgerichtete Rüstungsexportpolitik“ zukünftig „stärker an […] Interessen in der Außen-, Wirtschafts- und Sicherheitspolitik“ ausgerichtet werden soll, sorgt in Paris für Aufbruchstimmung. Alles scheint bereit für eine deutsch-französische Renaissance.
Große Aufgaben auf beiden Rheinseiten
Es darf aber nicht in Vergessenheit geraten, dass die Regierungen beider Länder nicht nur offenen Finanzierungsfragen klären, sondern die historischen Identitäten neu verhandeln müssen. Merz wird in den kommenden vier Jahren in Brüssel viel Zeit darauf verwenden, seinen EU-Partnern das neue nationale Selbstbewusstsein Deutschlands und die damit einhergehenden europäischen Führungsansprüche zu erklären. Zwar hoffen aktuell alle Nachbarstaaten Deutschlands auf die Führung Berlins; sie begrüßen den Ausbau hiesiger Rüstungsindustrien und die Aufrüstung der Bundeswehr. Setzt sich die Rezession aber fort und verstetigen sich aktuelle Umfragetrends der AfD, könnte der Wind schnell drehen.
Während Merz also das deutsche Erstarken nach Außen moderieren muss, fällt Macron in Frankreich eine fast gegenteilige Aufgabe zu. Er muss französischen Wählern erklären, warum sich ihre Souveränität auf europäischer Ebene besser verteidigen lässt als auf der nationalen. Sollte in Frankreich in den kommenden Monaten der Eindruck entstehen, Deutschland dominiere die EU – es wäre Wasser auf die Mühlen rechtspopulistischer und nationalistischer Parteien und Bewegungen. Dass Macron mit seiner pro-europäischen Haltung ins Risiko geht, haben vergiftete Debatten um eine angebliche „Europäisierung“ der französischen Nuklearwaffen in den vergangenen Wochen gezeigt.
Keine Geschichtsvergessenheit
Die neue Bundesregierung hat in vielen EU-Partnerstaaten Enthusiasmus geweckt, dafür ist Frankreich das beste Beispiel. Das ist zu begrüßen, sollte nicht zerredet, sondern zur Stärkung der Sicherheit und Vertiefung der Integration des Kontinents genutzt werden.
Angesichts massiver Steigerungen der Wehretats in fast allen EU-Staaten, Deutschland zuvorderst, sollte trotzdem nie vergessen werden, dass die kommenden Jahre ein Ritt auf Messers Schneide werden könnten. Mit Blick auf Russland, sicher. Vor allem aber auch mit Blick auf die europäischen Nachbarn, die sich jahrhundertelang bekriegt haben und in deren Mitte revisionistische und nationalistische Kräfte zuletzt unaufhaltsam stärker geworden sind.