Policy Brief

06. Febr. 2020

Lateinamerika im Krisenmodus

Soziale und politische Unruhen lähmen Regierungshandeln

Lateinamerika droht, erneut zu einer Krisenregion zu werden. Die Volkswirtschaften der einstigen Hoffnungsregion stagnieren und soziale Konflikte entladen sich in Massenprotesten. Aufgrund der innenpolitischen Krise in vielen Ländern sind diese auch außenpolitisch gelähmt. Die EU sollte dennoch die enge Kooperation mit der Region ausbauen, um die regionale Integration zu fördern sowie zum Schutz von Demokratie und Menschenrechten beizutragen.

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Kernpunkte

  • Deutschland und die EU sollten das Abkommen mit dem Mercosur vorantreiben. Es dient nicht nur den geo-ökonomischen Interessen Europas, sondern sichert auch die wirtschaftliche Integration in Südamerika.
  • Die EU sollte über Handelsverträge ihre Wirtschaftsbeziehungen mit der Region verstärken, um so mehr politischen Einfluss nehmen zu können. Mit einer deutlichen Position sollte Europa für den Schutz der Demokratie eintreten.
  • Europa sollte seine Kontakte mit der Lima-Gruppe ausbauen, die aufgrund ihrer Zusammensetzung am ehesten repräsentativ für Lateinamerika sprechen kann.
  • Europa muss sich der Konkurenz Chinas um wirtschaftlichen Einfluss in Lateinamerika stärker stellen. Dabei sollte Europa die Möglichkeiten der Finanzierung von Infrastrukturprojekten beispielsweise durch die Europäische Investitionsbank besser nutzen, um im Wettbewerb bestehen zu können.

2019 war in Lateinamerika ein Jahr politischer Umbrüche und Proteste, die die Regierungen von Haiti bis zum bisherigen lateinamerikanischen Musterland Chile erschütterten. Straßenschlachten und Proteste gegen die jeweilige Regierung in Ecuador, Chile, Kolumbien und Bolivien haben das Bild Lateinamerikas im zweiten Halbjahr geprägt. Die Auslöser der Proteste waren unterschiedlich (Arbeits- und Rentenreformen, Fahrpreis- und Benzinpreiserhöhungen, Wahlmanipulationen etc.), aber es gibt auch übergreifende Krisensymptome.

In vielen Ländern stagniert die Wirtschaft oder wächst nicht ausreichend, um die steigenden Erwartungen breiter Gesellschaftsschichten zu befriedigen und die Armut weiter abzubauen. Die soziale Ungleichheit wurde politisiert. Es sind häufig nicht die Ärmsten der Bevölkerung, sondern Sektoren der Mittelschichten, die die Proteste tragen. Sie sehen sich entweder vom sozialen Abstieg bedroht oder in ihren Aufstiegserwartungen enttäuscht. Vielerorts haben die Bürger das Vertrauen in die Politik und die Demokratie bereits verloren. Dazu haben unter anderem Korruptionsskandale und eine zunehmende Entfremdung zwischen der politischen Klasse und der Gesellschaft beigetragen.

 

Viele Regierungen sind durch die innenpolitischen Probleme außenpolitisch gelähmt. Symptomatisch dafür ist Chile. Dort musste die Regierung nach den politischen Unruhen sowohl den APEC-Gipfel (Asiatisch-Pazifische Wirtschaftsgemeinschaft) im November 2019 als auch den Weltklimagipfel (COP25) im Dezember absagen. Der Imageschaden wirkt sich negativ auf Chiles internationale Wahrnehmung aus.

 

UNBEWÄLTIGTE SOZIALE PROBLEME

Die Mitte Dezember veröffentlichten vorläufigen Prognosen der Economic Commission for Latin America and Caribbean (ECLAC) zeichnen ein negatives Bild der wirtschaftlichen Entwicklung der Region: Demnach lag das Wachstum für ganz Lateinamerika 2019 bei mageren 0,1 Prozent (nur Südamerika -0,1 Prozent) mit großen Schwankungen zwischen den wichtigen Volkswirtschaften. Für 2020 wird eine leichte wirtschaftliche Erholung erwartet, die jedoch keine großen Verteilungsspielräume eröffnet.

Die Daten der ECLAC zum sozialen Panorama Lateinamerikas zeigen, dass der Anteil und die absolute Zahl der Armen in Lateinamerika, die noch zu Beginn der Dekade zurückgegangen waren, seit 2014 wieder zunehmen. 2020 ist aufgrund der Wirtschaftsdaten keine Trendwende zu erwarten. Das gilt auch für Sektoren der Mittelschicht, die einen sozialen Abstieg befürchten. Ein großer Teil dieses Bevölkerungssegments ist hoch verschuldet und verfügt nur über eine unzureichende Altersabsicherung. Die Verschlechterung sozioökonomischer Rahmenbedingungen bedingt in vielen Ländern der Region innenpolitische Veränderungen, die auch außenpolitische Konsequenzen haben.

REGIERUNGSWECHSEL IN ARGENTINIEN, URUGUAY UND BOLIVIEN

Mit der Wahl des linken Peronisten Alberto Fernández steht ein Kurswechsel in der argentinischen Außenpolitik an. Während sein Vorgänger, der Konservative Mauricio Macri, auf eine wirtschaftliche Öffnung des Landes setzte, das EU-Mercosur-Abkommen vorantrieb, gute Beziehungen zu den USA und Brasilien pflegte und eine kritische Haltung gegenüber der venezolanischen Regierung einnahm, wird die neue Regierung die Außenpolitik im Rahmen ihrer Möglichkeiten neu orientieren. Bereits bei der Amtseinführung wurden Verstimmungen mit den USA offensichtlich. Die USA waren durch den für Lateinamerika zuständigen Berater des Präsidenten im Nationalen Sicherheitsrat, Mauricio Claver- Carone, vertreten, der die argentinische Regierung wegen der Einladung an Repräsentanten der Regierung von Nicolás Maduro in Venezuela kritisierte und vorzeitig abreiste. Ein weiteres Thema, das die Beziehungen zu den USA belastet, ist die unterschiedliche Bewertung der Ereignisse in Bolivien. Vertreter der neuen argentinischen Regierung hatten den Sturz von Evo Morales als Staatsstreich kritisiert und die amtierende bolivianische Übergangspräsidentin Jeanine Añez nicht zur Amtseinführung eingeladen.

Gleichwohl verweisen die Personalpolitik etwa bei der Auswahl des Außenministers und der Besetzung zentraler Botschafterposten (zum Beispiel in Washington oder Brasília) sowie erste Erklärungen gegenüber dem Internationalen Währungsfonds (IWF) auf eine eher pragmatische Ausrichtung der Außenpolitik. Dies ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass internationale Umfeld dem neuen Präsidenten Fernández deutliche Schranken auferlegt. Durch die hohen Schulden beim IWF ist er auf das Wohlwollen westlicher Regierungen (vor allem der USA) angewiesen. Dabei könnten die Unruhen in anderen lateinamerikanischen Ländern seine Verhandlungsposition verbessern. Internationale Geldgeber haben kein Interesse daran, ein weiteres Land im Chaos versinken zu sehen.

Durch geschickte und pragmatische Politik könnte die argentinische Regierung auch zu einem interessanten und wichtigen Ansprechpartner Europas in einer Region mit schwierigen oder innenpolitisch gelähmten Regierungen werden, deren Legitimität in Frage gestellt wird. Viel wird davon abhängen, wie sich Argentinien gegenüber dem EU-Mercosur-Abkommen positioniert und wie sich das seit den Wahlen angespannte Verhältnis zu Brasilien entwickelt.

Als Kooperationspartner in Südamerika bietet sich für Argentinien insbesondere Uruguay an, trotz der neuen konservativen Regierung unter Staatschef Luis Alberto Lacalle Pou. In seiner ersten Erklärung kündigte der zukünftige (ab März) Präsident hinsichtlich seiner Außenpolitik an, sich nicht weiter am sogenannten Mechanismus von Montevideo beteiligen und auch die Mitarbeit an der internationalen Kontaktgruppe zu Venezuela (an der auch die EU mitwirkt) überdenken zu wollen. Für die Lima-Gruppe äußerte er Sympathie, ohne eine klare Aussage im Hinblick auf ein aktives Mitwirken zu machen. Im Mercosur möchte Uruguay eine Mittlerrolle zwischen Argentinien und Brasilien einnehmen und innerhalb der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) unterstützt Uruguay die Wiederwahl des bisherigen Generalsekretärs Luis Almagro.

Bolivien könnte sich als Krisenherd verfestigen. Präsident Morales musste im November vergangenen Jahres nach Protesten wegen Wahlmanipulationen und auf Druck des Militärs vorzeitig zurücktreten. Die aktuelle Übergangsregierung scheint sich durch einen nationalistischen Diskurs profilieren zu wollen, wie die Ausweisung der mexikanischen Botschafterin und zweier spanischer Diplomaten dokumentiert. Es gibt Bestrebungen, im Vorfeld der anstehenden Wahlen am 3. Mai 2020 Anhänger der bisherigen Regierung zu verfolgen. Die Übergangsregierung Boliviens hat auch einen radikalen außenpolitischen Kurswechsel vorgenommen: Mit den USA und Israel sollen wieder Botschafter ausgetauscht werden. Zugleich wurden die Beziehungen mit der aktuellen venezolanischen Regierung abgebrochen und Oppositionsführer Juan Guaidó als Interimspräsident anerkannt. Auch mit Kuba wurden die diplomatischen Beziehungen abgebrochen. Überdies erklärte die Regierung ihren Austritt aus den Regionalbündnissen UNASUR (Union Südamerikanischer Nationen) und ALBA (Bolivarische Allianz für die Völker).

ZWISCHEN CHAOS UND INTERNATIONALER ZURÜCKHALTUNG

Vorbei sind die Zeiten, als Europa auf Brasilien als regionale Führungsmacht blickte: Mit einer strategischen Partnerschaft sollte der Bedeutung Brasiliens in Südamerika Rechnung getragen und wichtige Initiativen in der Region abgesichert werden. Als regionale Führungsmacht ist Brasilien schon während der Präsidentschaft von Dilma Rousseff (2011 bis 2016) abgetreten. Neu ist, dass sich Brasilien zu einer regionalen Chaosmacht entwickelt hat. Die Außenpolitik ist hochgradig ideologisiert. Zur innenpolitischen Machterhaltungsstrategie des brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro gehört es, außenpolitische Feindbilder zu generieren.

Das gestörte Verhältnis zur neuen argentinischen Regierung belastet den Mercosur. Ideologisch fühlt sich die Bolsonaro-Regierung der Trump-Administration nahe, hat aber daraus trotz wirtschaftlicher und politischer Zugeständnisse bisher noch keinen materiellen Nutzen ziehen können; allenfalls im Hinblick auf die Rücknahme der Drohung, Sonderzölle auf brasilianischen Stahl und Aluminium zu erheben. Wirtschaftlich hat sich die Abhängigkeit von China vergrößert und die Regierung trotz anfänglich anderslautender Erklärungen zu einer pragmatischen China-Politik bewogen. Ähnliches gilt auch für die Beziehungen zu Europa. Die nationalistische Reaktion auf die europäische Kritik an der unzureichenden Umweltschutzpolitik, insbesondere nach den verheerenden Bränden im Amazonas-Regenwald, geht einher mit dem Interesse, die Wirtschaftsbeziehungen auszubauen und das EU-Mercosur-Abkommen zu unterzeichnen.

In der Außenpolitik Mexikos unter dem linksliberalen Präsidenten Andrés Manuel López Obrador dominieren die Beziehungen zu den USA wie die Ratifizierung des neu verhandelten nordamerikanischen Freihandelsabkommens und die Neuregelung der Migrationspolitik. In beiden Bereichen hat Mexiko große Zugeständnisse gemacht, unter anderem durch schärfere Kontrollen an seiner Südgrenze und eine härtere Politik gegenüber zentralamerikanischen Migranten, die Mexiko in Richtung US-Grenze zu durchqueren versuchen.

Im Gegensatz zum eingeschränkten Handlungsspielraum gegenüber den USA setzt Mexiko in der Lateinamerikapolitik eigenständige Akzente. War die Vorgängerregierung noch eine der treibenden Kräfte hinter der Lima-Gruppe mit einer kritischen Haltung gegenüber der venezolanischen Regierung unter Maduro, knüpft die neue Regierung wieder an alte Traditionen der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten an und enthält sich eines Urteils über die Legitimität ausländischer Regierungen (die sogenannte Estrada-Doktrin). Deshalb erkennt die mexikanische Regierung auch nicht den venezolanischen Interimspräsidenten Guaidó an. Ein gewisser Widerspruch zur Politik der Nicht-Einmischung zeigte sich in der Bolivien-Krise. Den Sturz von Morales verurteilte die mexikanische Regierung als Staatstreich, flog ihn in einer Militärmaschine aus und gewährte ihm zum Missfallen der US-Regierung politisches Asyl. Zudem halten sich in der mexikanischen Botschaft in La Paz ehemalige Funktionsträger der Regierung Morales auf; was zu diplomatischen Spannungen mit der bolivianischen Übergangsregierung geführt hat.

Mexiko hat sich bereit erklärt, 2020 die Präsidentschaft pro tempore von CELAC zu übernehmen, um die lateinamerikanische Integration voranzutreiben.20 20 Außerdem kandidiert Mexiko mit Unterstützung der lateinamerikanischen und karibischen Staatengruppe für einen Sitz als nichtständiges Mitglied im VN-Sicherheitsrat für die Periode 2021-2022.

Trotz der Bemühungen einiger Staaten, internationale Verantwortung zu übernehmen, ist insgesamt eine Krise des Multilateralismus zu beobachten. Die Reaktionen auf den Konflikt in Venezuela und den Machtwechsel in Bolivien haben gezeigt, dass Lateinamerika nicht in der Lage ist, seine Krisen eigenständig zu bewältigen. Die Region ist politisch weiterhin tief gespalten. Als Folge befinden sich die meisten lateinamerikanischen Regionalorganisationen in einer Krise und die gesamte regionale Architektur ist im Umbruch. Dies erschwert die multilaterale Kooperation mit Europa und Regionen übergreifende Initiativen.

Die südamerikanische Regionalorganisation UNASUR zerbrach durch den Venezuela-Konflikt und den mangelnden Konsens bei der Wahl eines neuen Generalsekretärs. Seit Anfang 2017 war die Organisation handlungsunfähig. Inwieweit der neue Staatenbund PROSUR eine Zukunft hat, ist unklar. Die beiden treibenden Regierungen hinter der Gründung, die kolumbianische und die chilenische, sind innenpolitisch angeschlagen. Brasilien scheint das Projekt eher halbherzig zu betreiben. Und im Gegensatz zur Regierung Macri dürfte die neue argentinische Regierung keine größeren Initiativen im Hinblick auf PROSUR entwickeln.

Auch die Gemeinschaft der lateinamerikanischen und karibischen Staaten (CELAC) ist in einer Krise. Der letzte Präsidenten-Gipfel von CELAC fand vor drei Jahren im Januar 2017 in der Dominikanischen Republik statt. Nachdem es 2018 nicht einmal eine Präsidentschaft pro tempore gegeben hatte, übernahm Bolivien 2019 diese Funktion, ohne das regionale Forum wieder beleben zu können. 

2020 wird Mexiko nach der Entscheidung auf einem Außenministertreffen am Rande der VN-Vollversammlung CELAC vorstehen. Auch im Fall von CELAC war der Streit über Venezuela Auslöser der Krise. Mit Hinweis auf die Beteiligung

Kubas, Nikaraguas und Venezuelas setzte die brasilianische Regierung Mitte Januar ihre Mitgliedschaft in CELAC aus.23 23 Ein Kollateralschaden der Krise von CELAC sind die gemeinsamen Gipfeltreffen mit der EU. Der letzte hätte im Oktober 2017 in San Salvador stattfinden sollen.

Auf ihrem letzten Gipfeltreffen im Juli 2019 in Lima hatte die Pazifikallianz, der Chile, Kolumbien, Peru, Mexiko und bald auch Ecuador angehören, die Zahl der Staaten mit Beobachterstatus noch einmal auf mittlerweile 59 gesteigert. Die Abschlusserklärung des Gipfeltreffens (Declaración de Lima) enthält ein klares Bekenntnis zum Freihandel, zu einem multilateralen Handelssystem und zum Pariser Klimaschutzabkommen. Insofern bietet sich die Pazifikallianz als Kooperationspartner Europas an; zumal die EU mit allen Mitgliedern Freihandelsabkommen abgeschlossen hat. Seit Juli hat sich allerdings die innenpolitische Situation in den Mitgliedsländern kompliziert.

Obgleich die Beziehungen der EU mit den Ländern der Pazifikallianz weitgehend reibungslos verlaufen, sind größere außenpolitische Initiativen nicht zu erwarten. Das gleiche lässt sich im Hinblick auf die Andengemeinschaft (Bolivien, Ecuador, Kolumbien, Peru) sagen, mit der die EU ein Freihandelsabkommen abgeschlossen hat. Der Mercosur, die unvollständige Zollunion zwischen Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay, ist in Gefahr. Schon vor dem Regierungsantritt von Bolsonaro gab es Erklärungen aus seinem Umfeld, dass dem Mercosur keine hohe Priorität zukomme und Brasilien gegebenenfalls seinen eigenen Weg gehen werde.

Während der Präsidentschaft von Macri konnten die Interessengegensätze noch einigermaßen eingehegt werden, aber schon im Wahlkampf gab es verbale Auseinandersetzungen zwischen dem neuen argentinischen Präsidenten Fernández und Bolsonaro. Die unterschiedlche wirtschaftspolitische Ausrichtung beider Regierungen dürfte eine Annäherung erschweren: Brasilien möchte den gemeinsamen Außenzoll des Mercosur absenken, Argentinien ist dagegen. In dieser komplizierten Situation birgt das anstehende Abkommen zwischen dem Mercosur und der EU zusätzlich Sprengkraft.

Brasilien, Paraguay und Uruguay wollen das Abkommen, die argentinische Regierung hat sich vor den Wahlen und danach eher zurückhaltend („falls das Abkommen der argentinischen Industrie nicht schadet“) bis ablehnend geäußert. Im Fall einer Zustimmung der europäischen Staaten, die noch nicht gesichert ist, wären die anderen Mitgliedsländer gegebenenfalls auch bereit, ohne Argentinien voranzuschreiten. Dies wäre das Ende des Mercosur in seiner jetzigen Form.

Die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) mit seinen 34 Mitgliedstaaten wurde in der Vergangenheit vielfach als verlängerter Arm der USA kritisiert. Nach der Gründung neuer lateinamerikanische Regionalorganisationen wie etwa UNASUR und CELAC sahen viele schon einen Bedeutungsverlust der Organisation. Der venezolanische Präsident Maduro hatte die OAS auf die „Müllhalde der Geschichte“ verortet, während UNASUR die Zukunft gehören sollte. Das Gegenteil ist eingetreten. Die OAS ist eine der wenigen Regionalorganisationen, die nicht paralysiert und weiter handlungsfähig ist. Letztlich war es die Kritik der OAS am Ablauf der Wahlen in Bolivien, die das Schicksal von Morales besiegelte. Dies kann auf längere Sicht die Rolle der OAS bei der Sicherung der Demokratie in Lateinamerika stärken, setzt aber voraus, dass sie faire und transparente Neuwahlen in Bolivien garantiert und zukünftig auch klarer Position bei Wahlmanipulationen, Verfassungsverstößen und Menschenrechtsverletzungen rechter Regierungen (etwa in Zentralamerika) bezieht. Interessant wird der Ausgang der für den 20. März geplanten Wahl des Generalsekretärs der OAS sein. Der nicht unumstrittene bisherige Generalsekretär Almagro bemüht sich um eine zweite Amtszeit und kann nach eigenen Angaben auf die Unterstützung der USA zählen.

CHINAS EINFLUSS IN LATEINAMERIKA

Nachdem aus seiner Sicht erfolgreichen Handelskonflikt mit China dürfte US-Präsident Trump nunmehr wieder bereit sein, auch gegenüber Lateinamerika und Europa den wirtschaftlichen Druck zu erhöhen, um Vorteile für die USA zu erlangen. Auch deshalb sind die Handelsabkommen der EU mit Lateinamerika wichtig.

Während China bestrebt ist, seine Wirtschaftsbeziehungen mit Lateinamerika weiter auszubauen und möglichst viele lateinamerikanische Länder an die „Neue Seidenstraße“ anzubinden, warnen die USA vor einem zu großen wirtschaftlichen Einfluss von China. In Lateinamerika (etwa in Argentinien und Brasilien) übt die US-Regierung verstärkt Druck im Hinblick auf den Ausschluss chinesischer Unternehmen beim Ausbau des schnellen Internet (5G-Standard) aus.

SCHLUSSFOLGERUNGEN UND EMPFEHLUNGEN

Die EU sollte Organe und Organisationen, die dem Schutz der Menschenrechte in Lateinamerika dienen, aktiv unterstützen. Falls die Forderung umgesetzt wird, dass der Schutz liberaler Grundwerte wie Demokratie und Menschenrechte die europäische und deutsche Außenpolitik in Lateinamerika viel stärker leiten sollte als geostrategische und wirtschaftliche Interessen, würde dies jedoch die Handlungsmöglichkeiten der EU in Lateinamerika übermäßig einschränken und die Region China und den USA als Spielfeld in ihrem globalen Konflikt überlassen.

Im Konflikt zwischen China und den USA sollte die EU in Lateinamerika eine eigenständige Position einnehmen. Europa könnte in diesem Konflikt eine dritte Option anbieten, muss aber auch gegenüber den USA und China seine Interessen verteidigen. Diesem Ziel dienen unter anderem Handelsverträge. Europäische Unternehmen sind wichtige Investoren in Lateinamerika, vor allem in den Ländern des Mercosur; und die EU ist ein wichtiger Partner in der Entwicklungszusammenarbeit. Zudem sollten mit China und den USA getrennt die Möglichkeiten eines trilateralen Dialogs mit Lateinamerika (EU-LA-USA bzw. EU-China-LA) ausgelotet werden. Europa könnte stärker mit China im Bereich der Finanzierung von Infrastrukturprojekten in Lateinamerika etwa über die Europäische Investitionsbank konkurrieren, die gerade ein Büro in Bogotá geöffnet hat.

Neben dem Schutz von Demokratie und Menschenrechten gilt es, auch andere Werte und internationale Normen zu verteidigen. Die Aussagen in einem Reflexionspapier der Europäischen Kommission vom Mai 2017 haben weiterhin Gültigkeit. Dort heißt es: „Als der größte Binnenmarkt der Welt, als führende Handelsmacht und größter Investor und als weltweit größter Geber von Entwicklungshilfe kann die EU das globale Regelwerk maßgeblich gestalten.“

Europa ist ein wichtiger Handelspartner Lateinamerikas und vor allem im Mercosur stark präsent. Diese wirtschaftlichen Bindungen schaffen Raum für politischen Einfluss, den es zu nutzen gilt. So würde eine Ablehnung des EU-Mercosur-Abkommens wegen der Abholzung des Regenwaldes dem Schutz des Regenwaldes nur wenig nutzen. Die EU sind nicht der einzige und bei weitem nicht der wichtigste Käufer von brasilianischem Rindfleisch und Soja. Mit einem Abkommen kann die EU vielmehr Druck auf Brasilien ausüben und dadurch können brasilianische Unternehmensgruppen mit Wirtschafsinteressen in Europa mobilisiert werden. Allerdings muss der brasilianischen Regierung auch klar gemacht werden, dass ein Ausstieg aus dem Pariser Klimaschutzabkommen und weitere Umweltvergehen im Amazonasgebiet (und anderswo) in letzter Konsequenz zu einem Scheitern des EU-Mercosur-Abkommens führen werden und darüber hinaus weitere negative Auswirkungen auf die Wirtschaftsbeziehungen haben würden.

Deutschland und die EU sollten das Abkommen mit dem Mercosur vorantreiben. Es dient nicht nur den geoökonomischen Interessen der EU, sondern auch der wirtschaftlichen Integration in Südamerika. Ein Scheitern des Abkommens könnte sich negativ auf den Fortbestand des Mercosur auswirken. Ein Auseinanderdriften des Mercosur würde für die Beziehungen zwischen Argentinien und Brasilien mittelfristig auch sicherheitspolitische Auswirkungen haben.

Die EU könnte auch helfen, den Konflikt zwischen Argentinien und Brasilien in Bolivien zu entschärfen: Brasilien unterstützt die Übergangsregierung. Argentinien gewährt Morales den Status eines politischen Flüchtlings und lässt ihn von argentinischem Boden aus agitieren. Die EU sollte versuchen zu vermitteln und gegebenenfalls eine Wahlbeobachtungsmission nach Bolivien schicken.

Der Kooperation mit Brasilien muss weiterhin eine hohe Priorität zukommen. Allerdings sollte die zeitweilig übermäßige Fixierung auf Brasilien durch eine engere Kooperation mit anderen südamerikanischen Ländern ausbalanciert werden. Die strategische Partnerschaft mit Brasilien sollte erst wiederbelebt werden, wenn es mehr Übereinstimmung in strategischen Fragen gibt. Europa sollte seine Interessen in Brasilien vertreten und in einen Dialog mit der Regierung eintreten. Auch in Parlament und Wirtschaft gibt es gegenüber den Anliegen Europas aufgeschlossene Partner.

Desweitern gilt es auszuloten, inwieweit die neue argentinische Regierung zu einer erweiterten Partnerschaft mit der EU bereit ist. Die EU-Staaten sollten soweit möglich, Argentinien bei der Umschuldung unterstützen, damit nicht ein weiteres südamerikanisches Land im Chaos versinkt. Argentinien könnte ein wichtiger Partner für die Beziehungen mit Lateinamerika in einem komplizierten internationalen Umfeld werden.

Neben Argentinien könnte auch Mexiko eine wichtigere Rolle in den Beziehungen zwischen Europa und Lateinamerika zukommen. Trotz der Rückkehr zur traditionellen mexikanischen Position der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten zeigt die mexikanische Regierung auch die Bereitschaft zu einem größeren internationalen Engagement.

Beide, Mexiko und die neue argentinische Regierung, wollen eine Mittlerrolle gegenüber Venezuela einnehmen. Damit ist ein weiteres Problemfeld angesprochen, das die Beziehungen zwischen Lateinamerika und Europa in diesem Jahr beeinflussen wird. Weder zeichnet sich im Augenblick eine schnelle Lösung der politischen Krise in Venezuela, noch eine schnelle Erholung der venezolanischen Wirtschaft und ein Rückgang der Migrationsströme ab. Europa hat sich 2019 über eine internationale Kontaktgruppe in die Vermittlungsbemühungen in Venezuela eingebracht. Es hat sich gezeigt, dass die Multiplizierung der Akteure zu keinen Fortschritten geführt hat. Die EU sollte ihre Kooperation auf die Lima-Gruppe konzentrieren, der trotz Vorbehalten weiterhin auch Argentinien und Mexiko angehören.

Aufgrund der Schwäche des lateinamerikanischen Multilateralismus muss die EU alle bestehenden Foren nutzen, die eine Chance zum Dialog bieten. Auch deshalb ist das Abkommen mit den Mercosur wichtig. Darüber hinaus sollten bestehende Dialogforen, etwa mit der Andengemeinschaft oder den zentralamerikanischen und karibischen Staaten (SICA und CARIFORUM), aufgewertet werden. Gegebenenfalls sollten im Fall eines PROSUR-Gipfels 2020 Beobachter der EU teilnehmen. Auch die Kontakte mit der Lima-Gruppe sollten weiter gepflegt werden. Mit der Unterstützung der neuen bolivianischen Regierung und dem möglichen Beitritt Uruguays wird sich die Repräsentativität der Gruppe weiter erhöhen. Punktuell bietet sich auch eine Kooperation mit der OAS an, die als einzige Regionalorganisation gestärkt aus der Krise des Multilateralismus in Lateinamerika hervorgegangen ist. Offen ist die Frage, inwieweit die temporäre Präsidentschaft Mexicos der CELAC neue Impulse geben kann, die sich positiv auf die Beziehungen mit der EU auswirken.

Insgesamt sollte sich die EU darauf einstellen, dass Lateinamerika zu einer schwierigen Partnerregion geworden ist. Die Region stagniert wirtschaftlich, soziale Verteilungskonflikte werden immer heftiger und das Fundament der Demokratie ist vielerorts brüchig geworden. Europa wird auch 2020 in seinen Beziehungen mit Lateinamerika mit Problemen politischer Instabilität, autoritären Tendenzen und Menschenrechtsverletzungen durch staatliche Organe konfrontiert sein. Das Militär wird in solchen Krisenkonstellationen zum Stabilitätsanker. Politische Akteure versuchen, sich in Lateinamerika des Rückhalts der Streitkräfte zu versichern, was das Militär in eine Schiedsrichterrolle drängt und langfristig wieder zu einer stärkeren Politisierung des Militärs oder zu einer Militarisierung der Demokratie in Lateinamerika führen kann.

Wie die Krisen in Lateinamerika ausgehen, ist deshalb noch offen. Einerseits sind Fortschritte in Richtung einer Vertiefung der Demokratie (etwa durch Verfassungsreformen), mehr politischer Transparenz und mehr sozialer Gerechtigkeit möglich. Es ist aber auch möglich, dass sich nach den Protesten wieder der Ruf nach Ordnung durchsetzt und rechte Politiker mit diesem Versprechen an die Macht gelangen. Europa muss sich darauf einstellen, dass die politische Lage in Lateinamerika volatil bleibt, autoritäre Tendenzen und eine weitere Stärkung der Rolle des Militärs in einzelnen Ländern sind nicht auszuschließen. Auch das hohe Ausmaß an politischer und anders motivierter Gewalt sowie von staatlich geförderten oder nicht ausreichend sanktionierten Menschenrechtsverletzungen wird fortbestehen.

Bibliografische Angaben

Nolte, Detlef. “Lateinamerika im Krisenmodus.” February 2020.

DGAP Policy Brief Nr. 3, 6. Februar 2020, 10 S.

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