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03. Mai 2013

„Für die Zwei-Staaten-Lösung wird die Zeit langsam knapp“

Andreas Reinicke, EU-Sonderbeauftragter für den Friedensprozess im Nahen Osten, über die geplante Initiative der USA

In die Bemühungen um eine Lösung des Nahost-Konflikts kommt wieder Bewegung. US-Präsident Obama besuchte im März Israel und die Palästinensischen Gebiete. Sein Außenminister John Kerry will zwischen den Kontrahenten vermitteln. Sowohl die USA als auch die EU halten am Ziel einer Zwei-Staaten-Lösung fest. „Wir wissen aber nicht, wie lange das Zeitfenster dafür noch offen steht. Es wird einen Punkt geben, an dem diese Option nicht mehr realistisch ist,“ sagt Andreas Reinicke im DGAP-Interview.

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DGAP: Herr Botschafter, ist der Friedensprozess im Nahen Osten gescheitert?

Reinicke: Der Friedensprozess wird gerade wieder belebt, durch die Initiative des amerikanischen Außenministers John Kerry.

DGAP: Wie kam es zu dem neuen Vorstoß?

Reinicke: Daran haben auch die Europäer ihren Anteil. Sie haben Washington dazu ermutigt, denn es bestand ja die Chance, dass die US-Regierung das Thema nach den Wahlen wieder aufgreift. Wir stehen nun in engem Kontakt mit John Kerry und seinem Team und gehen davon aus, dass wir demnächst einen neuen Versuch im Nahen Osten starten können.

DGAP: Seit September 2010 ist der Prozess festgefahren.

Reinicke: Die Europäer haben im letzten Jahr sehr deutlich gemacht, wie dringend jetzt Impulse gebraucht werden. Ohne eine neue Friedensinitiative und eine baldige Konfliktlösung wird die für Israel und Palästina angestrebte Zwei-Staaten-Lösung immer unrealistischer. Manche behaupten, dies sei die letzte Chance, das Vorhaben zu retten.

DGAP: Das müssen Sie erklären.

Reinicke: Der Aufbau des palästinensischen Staatswesens droht ernsthaft in Gefahr zu geraten. Weltbank, IWF und Vereinte Nationen haben zwar gewürdigt, wie gut die Palästinenser dabei bisher vorangekommen sind. Aber unter den Einschränkungen der Besatzung kommt die Wirtschaft nicht in gleichem Maß auf die Beine und schafft daher nicht die finanzielle Basis für die staatlichen Strukturen. Und der fortschreitende israelische Siedlungsbau wird es immer schwieriger machen, einen territorialen Kompromiss zu finden. Sollten bestimmte Siedlungsprojekte wie das sogenannte E1-Gebiet bei Jerusalem umgesetzt werden, könnte es unmöglich werden, noch einen zusammenhängenden, lebensfähigen palästinensischen Staat zu schaffen.

DGAP: Wissen Sie bereits, was die Amerikaner vorhaben?

Reinicke: Darüber zu reden, ist zu diesem Zeitpunkt noch zu früh.

DGAP: Welche Erwartungen haben Sie an die amerikanische Initiative?

Reinicke: Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die Sache anzupacken und zu einer Lösung zu kommen. John Kerry beginnt seine Initiative verständlicherweise in einem sehr kleinen Kreis von Beteiligten. Ich erwarte, dass sie anschließend zu einem gemeinsamen Vorhaben wird. Daran werden wir Europäer aktiv mitwirken. Wir haben die USA um diesen Schritt gebeten, also unterstützen wir sie dabei.

DGAP: Welche Rolle werden die Europäer spielen?

Reinicke: Man darf nicht vergessen, dass sich die EU bereits mit einer großen Bandbreite an Beiträgen in der Region engagiert. Das reicht von so grundsätzlichen Fragen wie der Verbesserung der Sicherheit Israels bis hin zu einer Fülle unterschiedlichster Projekte in den Palästinensergebieten. Wir helfen den Palästinensern beim Staatsaufbau und unterstützen sie mit einer Polizeimission. Wir leisten aber auch Beiträge an das UNO-Flüchtlingswerk für die palästinensischen Flüchtlinge.

Und die EU hat klar ihre Auffassung abgesteckt, auf welcher Grundlage die Verhandlungen über die Grenze zwischen Israel und Palästina geführt werden sollen, nämlich auf der Basis der Grenzen von 1967, wobei ein einvernehmlicher Landtausch denkbar ist. Unsere völkerrechtliche Auffassung zu den Grenzen Israels wird auch konsistent umgesetzt, etwa bei der Erhebung von Zöllen und bei der Beschriftung von Produkten aus den Siedlungen.

Zudem sind ständig europäische Außenpolitiker vor Ort, um Gespräche mit beiden Seiten zu führen. Jetzt kommt es darauf an, die Instrumente, über die wir verfügen, gezielt, und das heißt abgestimmt auf die neue Nahost-Initiative, einzusetzen.

DGAP: Wird die EU ihre Nahostpolitik neu ausrichten?

Reinicke: Wir müssen vor allem das Gespräch mit den Israelis intensivieren, ihnen unsere Vorstellungen und unsere Vorgehensweise noch besser erklären. Bei meinen Besuchen in Israel tue ich das immer wieder in vielen kleinen Runden. Auch die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton ist häufig zu Gesprächen vor Ort. Und natürlich die vielen europäischen Außenminister. Letztere bringen übrigens von den Treffen mit ihren arabischen Kollegen wertvolle Erfahrungen mit, die unbedingt in die Gespräche mit Israelis und Palästinensern einfließen sollten. Vor allem aber gegenüber der israelischen Regierung müssen wir noch stärker unsere Sorge über den fortdauernden Konflikt zum Ausdruck bringen. Und mit ihnen die verschiedenen Möglichkeiten diskutieren, einen Ausweg aus der verfahrenen Situation zu finden.

DGAP: Die EU leistet im Nahen Osten vor allem Entwicklungshilfe. Nimmt Brüssel die Sicherheitsfrage nicht ernst genug?

Reinicke: Im Gegenteil. Die EU hat ein starkes sicherheitspolitisches Profil. Nehmen Sie nur unsere Polizeimission in Palästina. Sie hat einen wesentlichen Anteil daran, dass aus der palästinensischen Polizei eine der am besten funktionierenden Einheiten in der Region wurde. Die EU berät zudem die dortige Justiz. Der Aufbau des Sicherheitssektors ist enorm wichtig für beide Seiten: Mehr Sicherheit in Palästina bedeutet auch mehr Sicherheit in Israel. Die EU und ihre Mitgliedstaaten beteiligen sich aber auch an den UN-Friedensmissionen, sowohl im Gaza-Streifen als auch im Libanon und auf dem Golan; beide haben eine starke europäische Komponente.

DGAP: Ist die Zwei-Staaten-Lösung noch eine realistische Option?

Reinicke: Ja. Wir Europäer sehen sie als die beste Option an. Damit würde es zwei voneinander unabhängige Staatswesen geben. Die Konflikte zwischen beiden Ländern, die so stark auf die gesamte Region ausstrahlen, werden dann abnehmen. Und das ist es doch, was wir wollen. Wir glauben, dass die Zwei-Staaten-Lösung erreichbar ist – wissen aber nicht, wie lange das Zeitfenster dafür noch offen steht. Es wird einen Zeitpunkt geben, von dem an diese Option nicht mehr realistisch ist. Die finanziellen Schwierigkeiten der Palästinenser und die Siedlungspolitik der Israelis lassen die Chancen dazu immer weiter schwinden. Bevor dieser Punkt erreicht ist, muss die Staatengemeinschaft handeln, besonders wir als Europäer und Nachbarn.

DGAP: Was wäre die Alternative zu einer Zwei-Staaten-Lösung?

Reinicke: Die einzig realistische Alternative wäre eine „Ein-Staaten-Lösung“ – die aber eine Reihe von Akteuren aus guten Gründen nicht akzeptieren wird. Andere Überlegungen gehen dahin, das Westjordanland Jordanien und den Gazastreifen Ägypten zuzuschlagen – das wird aber von beiden betroffenen Ländern vehement abgelehnt. Und schließlich wurde eine Art „Kantonisierung“ ins Gespräch gebracht, also die Bildung einzelner palästinensischer Territorien rund um die größeren palästinensischen Städte herum – was ich mir auch nicht vorstellen kann.

DGAP: Werden diese Szenarien in Vermittlerkreisen ernsthaft diskutiert?

Reinicke: Nein. Wir konzentrieren uns ganz auf die Zwei-Staaten-Lösung.

DGAP: Die Vier-Parteien-Koalition in Israel muss auf die Siedlerbewegung Rücksicht nehmen, die Palästinenserführung ist angeschlagen durch den Rücktritt des Premiers und die Veröffentlichung geheimer Verhandlungsprotokolle – wie gehen Sie mit derart geschwächten Verhandlungspartnern um?

Reinicke: Ich glaube nicht, dass die Verhandlungspartner geschwächt sind. Die genannten Ereignisse machen es natürlich nicht einfacher. Aber ich glaube, dass es nach wie vor auf beiden Seiten einen breiten Kern von Politikern gibt, die an der Zwei-Staaten-Lösung interessiert sind. In der israelischen Regierung gibt es eine neue politische Kraft, die Partei Yesh Atid. Sie konzentriert sich zwar auf innenpolitische Ziele, ihre Mitglieder sind sich aber sehr wohl bewusst, dass der Konflikt mit den Palästinensern gelöst werden muss. Auf palästinensischer Seite sind Präsident Abbas und die Fatah-Partei die Kraft, die stets für ein friedliches Nebeneinander von Israelis und Palästinensern und für eine Zwei-Staaten-Lösung eingetreten ist.

Beide Seiten haben zudem angekündigt, dass sie die Bevölkerung über ein mögliches Abkommen abstimmen lassen wollen. Dann liegt es, unabhängig von politischen Konstellationen und der Mehrheit im Parlament, an der Bevölkerung, einen solchen Vertrag anzunehmen oder zu verwerfen. Ich glaube, dass er auf beiden Seiten eine große Mehrheit finden wird.

DGAP: In Israel spielt der Konflikt mit den Palästinensern momentan allerdings nur eine untergeordnete Rolle.

Reinicke: Ja, die israelische Bevölkerung ist zurzeit mit anderen Fragen befasst. Aber man merkt immer wieder, dass den Israelis bewusst ist, dass das Problem um Palästina gelöst werden muss. Und die Regierung ist in der Verantwortung, einen entsprechenden Vertrag vorzulegen.

DGAP: Wie viel Zeit bleibt für einen neuen Vermittlungsversuch in Nahost?

Reinicke: Wir haben nicht unendlich Zeit. In den nächsten Monaten muss es zu einer Entscheidung über eine neue Friedensinitiative kommen. Die Amerikaner führen jetzt erste Sondierungsgespräche. Wir stehen in engem Kontakt mit ihnen. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass wir den Start der neuen Initiative noch bis ins nächste Jahr hinausschieben können.

DGAP: Herr Botschafter, vielen Dank für das Gespräch!

Die Fragen stellte Lucas Lypp, Online-Redakteur

Dr. Andreas Reinicke ist Sonderbeauftragter der EU für den Friedensprozess im Nahen Osten. Am 26. April folgte er einer Einladung der DGAP zum Expertengespräch. Die Veranstaltung "Europa und die neue US-Initiative in Nahost" wurde moderiert von Paul Freiherr von Maltzahn, geschäftsführender stellvertretender Präsident der DGAP.

Bibliografische Angaben

Reinicke, Andreas. “„Für die Zwei-Staaten-Lösung wird die Zeit langsam knapp“.” May 2013.

DGAP-Interview, 26. April 2013

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