Der französische Präsident Emmanuel Macron hat - zumindest nach außen - positiv auf Angela Merkels Interview zur weiteren Integration Europas reagiert. Reaktionen in französischen Medien fielen dagegen sehr viel kritischer aus. DGAP-Expertin Claire Demesmay bewertet die Lage nach Merkels Interview in fünf Fragen und fünf Antworten.
Wie bewerten Sie die französische Reaktion auf Merkels Interview?
„Endlich“: So kann man die Reaktionen auf Merkels Interview in Frankreich zusammenfassen. Es ist schon acht Monate her, dass Macron in seiner Sorbonne-Rede seine Forderungen für eine Neugründung der EU hielt. In Paris sorgte das lange Schweigen der Bundesregierung für Unverständnis und Ratlosigkeit. Nun ist die Antwort da und der französische Präsident zeigt sich darüber erfreut, doch die Kommentatoren sind sich einig: Es geht dabei um einen sehr vorsichtigen Schritt, der von Macrons Vision weit entfernt ist.
Wo sehen Sie die Übereinstimmungen und wo die Differenzen zwischen Deutschland und Frankreich nach Merkels Interview?
Das Politikfeld mit den größten Übereinstimmungen ist die Asylpolitik. Da beide Länder hier gemeinsame Interessen haben, und zwar eine Begrenzung der neuen Asylanträge, ist das kein Wunder. Merkel unterstützt Macrons Vorschlag, eine EU-Grenzpolizei und eine gemeinsame Asylbehörde zu gründen. Allerdings würde dies ein verpflichtendes Quotensystem zur Umverteilung der Asylbewerber voraussetzen. Da ist aber der Widerstand der Visegrád-Staaten eine schwer zu überwindende Hürde.
In der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik bestehen noch große Unterschiede zwischen Deutschland und Frankreich. Zwar schließt die Bundeskanzlerin die – von Macron geforderte – Schaffung einer EU-Interventionstruppe nicht mehr aus, knüpft daran aber mehrere Bedingungen. So soll diese Truppe innerhalb der EU-Strukturen operieren und ihre Einsätze sollen von den nationalen Parlamenten bewilligt werden. In Paris befürchtet man, dass dies die Reaktionsfähigkeit einer solchen Interventionstruppe begrenzt. In Macrons Augen soll sie schnell einsetzbar sein, deswegen wünscht er sich auch, dass Großbritannien trotz Brexit daran teilnimmt.
Was ist mit dem traditionellen Streitthema Eurozone? Ist da eine Annäherung in Sicht?
Bei der Reform der Eurozone, Macrons Kernthema, liegen Deutschland und Frankreich noch weit auseinander. Auf dem ersten Blick sehen ihre Vorschläge relativ ähnlich aus, vor allem seit Merkel für einen „Investivhaushalt“ zur Finanzierung von Zukunftsinvestitionen steht. Hinter den deutschen und französischen Ideen steckt aber eine andere Logik: Für Paris stehen Schutz und Solidarität im Vordergrund, während es für Berlin in erster Linie um Selbstverantwortung und Kontrolle geht. So soll z.B. der Währungsfonds, den Angela Merkel ins Spiel brachte, den schwächeren Ländern zwar Kredite gewähren, aber auch ihre Wirtschafts- und Haushaltspolitik überwachen. Die Summen fallen dabei zudem viel kleiner aus, als man es sich in Paris vorstellt.
Dazu kommt, dass sich auch in diesem Bereich die Diskussion nicht auf Deutschland und Frankreich begrenzen lässt. In Bezug auf die Eurozone ist die EU tief gespalten. Mehrere Länder, vor allem aus Nordeuropa, lehnen eine größere Umverteilung ab. Dagegen fordert Italien seit der Wahl eine Lockerung der Eurozone-Regeln. Für Paris und Berlin bedeuten diese zwei Fronten, dass ihr Handlungsspielraum für Kompromisse beschränkt wird.
Wie bewerten Sie Merkels Rede im Blick auf die neue Regierung in Italien?
Es ist interessant, dass das Interview mit Fragen zu Italien beginnt. Das ist natürlich aktualitätsbedingt. Man könnte aber auch denken, dass Merkel damit den Eindruck vermeiden möchte, direkt nur an Macron zu antworten, und sich stattdessen mit höherer Flughöhe in der EU positionieren will. Ich hätte mir gewünscht, dass das Interview vor der Italien-Wahl erscheint. Dort herrscht großer Frust in Bezug auf den europapolitischen Kurs, und viele Bürgerinnen und Bürger haben das Gefühl, von den anderen Europäern in der Flüchtlings- und Migrationsbewegung im Stich gelassen zu werden. Das hat sicherlich auch zum Wahlergebnis beigetragen.
Das Interview macht auch deutlich, dass Deutschland und Frankreich sehr unterschiedliche politische Kulturen pflegen – Pragmatismus auf der einen Seite, eher Vision und Emotionalität auf der anderen. Was müssen/können Deutschland und Frankreich beide Seiten tun, um angesichts der vielen Probleme in Europa wirklich gemeinsam handlungsfähig zu sein?
Das stimmt, und diese Rollenaufteilung gehört seit Jahrzehnten zu den Grundmustern der deutsch-französischen Zusammenarbeit in der Europapolitik. Die Begegnung zwischen französischen Träumen und deutschem Pragmatismus führt regelmäßig zu Missverständnissen, doch sie kann auch zu guten Ergebnissen beitragen, wenn der politische Wille zur Zusammenarbeit da ist – und zwar auf beiden Seiten. Dafür reicht das Beschwören der deutsch-französischen Freundschaft aber nicht. Notwendig ist auch die Bereitschaft, sich in die Logik des Partners hineinzuversetzen und echte Kompromisse schließen.