Deutschland verliert Glaubwürdigkeit in der NATO
Wie andere US-Präsidenten vor ihm hat es sich Donald Trump zum Ziel gemacht, alle NATO-Staaten auf mindestens zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) für die Verteidigungsausgaben des Bündnisses zu verpflichten. Er kann sich auf eine Verabredung der Verbündeten von 2014 beziehen, innerhalb von zehn Jahren erkennbar auf ein solches Ausgabenniveau hinzuwirken. Trump ist es egal, dass diese Formulierung recht weich und an die Fähigkeitsziele der NATO gebunden ist. Er sieht die magische Zahl und macht an ihr plakativ seine Forderung fest.
Auch wenn jetzt – auf halbem Weg – klar wird, dass viele NATO-Staaten dieses Ziel verfehlen werden, steht vor allem Deutschland in der Kritik: Die deutsche Finanzplanung bleibt weit hinter dieser Größenordnung zurück. Das wirtschaftlich stärkste Land Europas hat seine Verteidigungsausgaben zwar seit fünf Jahren gesteigert, aktuell liegen sie aber nur bei 1,35 Prozent des BIP. Die Bundesregierung plante bislang, bis 2025 ein Niveau von 1,5 Prozent zu erreichen.
Finanzminister Olaf Scholz stellte jedoch Ende März dieses Ziel mit der Finanzplanung bis 2023 wieder in Frage. In den nächsten drei Jahren ist zunächst eine Steigerung der Ausgaben auf 45,1 Milliarden Euro, dann aber ein Absinken auf 44,3 Milliarden Euro vorgesehen. Am Ende der Dreijahresplanung liegt Deutschland nach Berechnungen des Finanzministeriums damit bei 1,25 Prozent des BIP, für 2020 wird eine NATO-Quote von 1,37 Prozent erreicht.
Die Bundesregierung blendet den Widerspruch zwischen dieser Planung und den gemachten Zusagen aus. In der Debatte erinnerte Finanzminister Scholz an die substanziellen Steigerungen des Verteidigungsbudgets in den vergangenen Jahren. Außenminister Heiko Maas verwies auf die Komplexität der deutschen Haushaltsplanung. Doch ist klar, dass Deutschland den Konflikt mit den USA auf diese Weise nicht auflösen wird. Die Bündnispartner sehen vor allem zwei mögliche Konsequenzen: Die US-Regierung könnte sich genötigt fühlen, auf die Nichteinhaltung des Zwei-Prozent-Zieles mit einem Zurückfahren des eigenen Engagements zu reagieren. Deutschlands ausbleibender Beitrag könnte die NATO weiter militärisch und politisch unterminieren.
Die Bundesregierung hat eine Reihe von Fähigkeitszusagen an die NATO abgegeben, vor allem für die Stärkung der Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeit, und zwar nicht nur in Richtung Osten. Darauf beruft sie sich jetzt, um die schlechten Nachrichten hinsichtlich der geringeren Ausgaben abzufedern. Deutschland will mit seinen Beiträgen punkten, die es trotz moderater Budgets angeschoben hat. Auch die Tatsache, dass die Deutschen der größte europäische Truppensteller in diversen Einsätzen und bei gemeinsamen Übungen der NATO sind, ist Teil dieses Argumentes. Dennoch klingt dies vor allem in den Ohren der USA wie hohle Rhetorik und lässt Deutschland als unzuverlässig dastehen.
Risikofaktor Trump
Die asymmetrische Lastenteilung haben alle US-Regierungen seit den neunziger Jahren beklagt. Trump jedoch ist radikal genug, Verhandlungen platzen zu lassen, wenn ihm das Ergebnis nicht gefällt. Somit steht die Drohung, das US-Engagement in der NATO herunterzufahren, ständig im Raum. Das muss nicht zwangsläufig einen Ausstieg aus dem Washingtoner Vertrag bedeuten, mit dem die NATO 1949 gegründet wurde. Dagegen gibt es Widerstand im US-Kongress: Im demokratisch kontrollierten Repräsentantenhaus wurde mit großer Mehrheit ein Gesetz auf den Weg gebracht, das dem Präsidenten den Ausstieg aus der NATO verwehrt. Der Senat hat nicht darüber abgestimmt, doch haben acht Senatoren aus beiden Parteien dort ein ähnliches Gesetzesvorhaben eingereicht.
Trump muss aber nicht einmal den Austritt aus der NATO betreiben, um Schaden anzurichten: Er könnte den US-Beistand für Europa in Frage stellen, zum Beispiel mit einem Abzug von Truppen aus Osteuropa oder mit der Streichung des Budgets für die European Deterrence Initiative (EDI), mit der die USA seit der russischen Annexion der Krim die Ostflanke der NATO verstärken. Weitere wütende Rhetorik, dass die Europäer keinen US-Einsatz erwarten können, solange sie nicht mehr für ihre Verteidigung ausgeben, würde ebenfalls dazu beitragen.
Die Handlungsfähigkeit der NATO ist in Gefahr
Die deutsche Sparpolitik macht es anderen NATO-Staaten leichter, ihre Kosten niedrig zu halten bzw. spielt ihnen dabei in die Hände. Immerhin liegen auch größere und mittlere Staaten wie Spanien, Italien oder die Niederlande auf ähnlich niedrigem Niveau wie Deutschland. Alliierte wie die baltischen Staaten oder Polen, für deren Sicherheit die Allianz mit den USA elementar ist und die selbst das Ausgabenziel erreichen, sehen diese Bindung durch Deutschlands Sparkurs in Gefahr.
Deutschland hat der NATO substanzielle Fähigkeiten zugesagt: So ist geplant, drei operative Divisionen bis 2032 aufzustellen, die NATO-Speerspitze Very High Readiness Joint Task Force (VJTF) im Jahr 2023 mit voller Ausstattung zu besetzen und ein Mobilitätshauptquartier in Ulm aufzubauen. Diese Fähigkeiten sind auch gegenüber den USA gut zu vertreten, denen es um die „responsiveness“, die Reaktionsfähigkeit der NATO, geht. Und es stehen noch mehr Aufgaben für die Bundeswehr an: So hat die NATO auf ihrem Gipfel im Juli 2018 die amerikanische 4x30-Initiative beschlossen, die die Verlegbarkeit von je 30 Kampfschiffen, Fliegerschwadronen und Heeresbataillonen innerhalb von 30 Tagen vorsieht. Die zusätzlichen Anforderungen dafür sind in der deutschen Haushaltsplanung noch nicht aufgenommen.
Alle diese Zusagen stellen den Bezugsrahmen für die Planung der Bundeswehr her. Insofern geht es auch bei der Bereitstellung der NATO-Fähigkeiten darum, die deutschen Streitkräfte nach der langjährigen Unterfinanzierung wieder besser aufzustellen, den eklatanten Personalmangel zu beheben, die geringe Einsatzfähigkeit der bestehenden Waffensysteme zu verbessern und neue Beschaffungen auf den Weg zu bringen. Die neuen deutschen Haushaltsansätze bringen aber die Planungen für diese Fähigkeiten durcheinander.
Deutschland hat etwa bei den Rotationen der VJTF 2019 und 2023 die Führung als Rahmennation. Diese Führungsaufgaben sind ein personeller und materieller Kraftakt für die deutschen Streitkräfte. Der Mangel an Material ist besonders deutlich zu spüren: Erst 2023 ist eine Vollausstattung vorgesehen.
Die Deutschen müssen also hoffen, dass es nicht zu einer Krisensituation kommt, die mehr Einheiten erfordert als verfügbar sind und in der eine unzureichende Ausstattung der Bundeswehr die Handlungsfähigkeit der Allianz einschränken würde. Die Ausstattung etwa der NATO-Speerspitze mag ausreichend sein, doch hinterlässt sie bislang Lücken an anderer Stelle. Die VJTF ist auch nicht nur für das Baltikum angelegt: Eine Verlegung über größere Distanzen ist und bleibt eine Herausforderung. Komplexe oder eskalierende Situationen könnten die Verwendung von deutschen Hubschraubern oder Jagdflugzeugen nötig machen, deren Einsatzbereitschaft gering ist.
Auswirkungen auf Sicherheitswahrnehmung und -Kooperationen
Schon die Perzeption in Friedenszeiten, dass wichtige militärische Fähigkeitsprofile aufgrund der unzureichenden Ausstattung nicht ausgefüllt werden können, senkt das Sicherheitsgefühl der Verbündeten und schwächt die konventionelle Abschreckungsfähigkeit gegenüber potentiellen Gegnern.
Der interne Streit über die notwendigen Mehrausgaben gefährdet schließlich auch Rüstungskooperationen im Bündnis wie im Übrigen auch in der EU. Die Partnerschaften im Fähigkeitsausbau, die gemeinsamen Beschaffungsprojekte, die multinationalen Einheiten, in denen Deutschland als Rahmennation zur Verfügung stehen wird – all diese beruhen jedoch im Kern auf dem gemeinsamen Vertrauen in den starken Partner. Sollte Deutschland die Finanzierung von Rüstungsprojekten in Frage stellen, kann das zu einem Glaubwürdigkeitsverlust führen. Dies kann mittelfristig auch die Anbahnung neuer Projekte erschweren.
Verteidigungsausgaben anheben, Verhandlungsposition stärken
Im Idealfall kann Deutschland im Verlauf der nächsten fünf Jahre seine Verteidigungsausgaben moderat steigern. Dabei sollte die Bundesregierung die Ankündigung umsetzen, in fünf Jahren ein Niveau von 1,5 Prozent zu erreichen und einen Steigerungsvektor anzuzeigen, der das Budget auch danach näher an zwei Prozent bringt. Dies würde den Druck aus der Diskussion nehmen und Deutschland erlauben, militärische Fähigkeitslücken zu schließen, mehr Personal anzuziehen, mehr Material für Training und Übung bereitzustellen und insgesamt die deutschen Beiträge für die NATO solider aufzustellen.
Es gibt auch Vorschläge, die Ausgaben für den Ausbau von Straßen und Brücken in Deutschland als Unterstützung der militärischen Mobilität gegenüber der NATO und als Ergänzung der Verteidigungsausgaben anzuführen. Diesen Ansatz sollte Deutschland aktiv verfolgen.
Damit würde sich auch die deutsche Verhandlungsposition stärken. Denn es gibt weitere wichtige Streitpunkte in der NATO, die parallel zur Lastenteilungsdebatte zwischen Deutschland und China entstanden sind oder entstehen können.
Andere Streitpunkte: Nordstream 2
Zu diesen Konfliktthemen gehört aktuell der Streit zwischen den USA und Deutschland über die Gaspipeline Nordstream 2, die von Washington massiv kritisiert wird. Hier ist Deutschland herausgefordert zu zeigen, dass es nicht – wie von den USA unterstellt – energiepolitisch von Russland abhängig und damit auch politisch ohnmächtig gegenüber Moskau wird. Deutschland verweist bei diesem Vorwurf darauf, dass die wirtschaftliche Verflechtung durch das Gasabkommen sicherheitspolitisch nützlich und Russland vom Gashandel abhängig sei.
Die Bundesregierung könnte auch durch den Import von Flüssiggas aus den USA ein politisches Zeichen an Washington senden. Daneben würde aber auch ein stabiler deutscher Beitrag zur NATO aufzeigen, dass Deutschland trotz der Importe von Flüssiggas aus Russland bei der Verteidigung und Abschreckung in Richtung Osten nicht einknicken wird.
Die Auseinandersetzung über den INF-Vertrag
Aktuell verhandelt die NATO, wie das Bündnis auf das Ende des INF-Vertrages reagieren kann, das eine neue russische Bedrohung mit Mittelstreckenraketen mit sich bringen könnte. Dies birgt Konfliktpotenzial. Deutschland ist besorgt über eine nukleare Aufrüstung in Europa, denn die Erinnerung an die Stationierungsdebatte der frühen 1980er Jahre ist hier noch präsent.
Auch wenn Vertreter der NATO und der USA das Gegenteil beteuern, erwarten Beobachter, dass neue nukleare Mittelstreckenraketen auf NATO-Territorium stationiert werden. Sollte Deutschland sich für eine eher konventionelle Aufstellung der Abschreckung in Richtung Osten aussprechen, würde das vielen Bündnispartnern unglaubwürdig erscheinen, wenn Berlin gleichzeitig die dazu benötigten militärischen Fähigkeiten durch seine Sparpolitik in Frage stellt.
Der Umgang mit China
Ein wichtiges Thema in der NATO wird der Umgang mit Chinas wirtschaftlichem Ausgreifen in Asien und Europa sein. Auch in Europa wächst die Sorge vor dem politischen Einfluss, den sich China mit seinen Investitionen erkauft. Innerhalb der NATO sollten die Partner über eine gemeinsame Lagebeurteilung sprechen und politische Maßnahmen abstimmen. Diese Konsultationen sind Aufgabe des Bündnisses, zumal die USA eine stärkere Rolle der Allianz in der Auseinandersetzung mit China fordern.
Aktuell streiten die transatlantischen Partner vor allem über die Rolle des chinesischen Kommunikationsanbieters Huawei beim Ausbau des 5G-Netzes in Europa. Die USA drohen mit der Reduzierung der Geheimdienst-Kooperation, sollte Deutschland den chinesischen Anbieter zum Zuge kommen lassen.
Trump nutzt auch diesen Konflikt, um Deutschlands Loyalität zum westlichen Interessenverbund in Frage zu stellen. Könnte Deutschland den Druck aus dem lästigen Streit über die Lastenteilung in der NATO nehmen, gäbe es mehr Freiräume, die Rolle der Allianz in diesem Konflikt politisch und nicht militärisch zu definieren.
Die künstliche Metrik des Zwei-Prozent-Ziels
Nicht zuletzt ist es sinnvoll, dass die NATO sich von der künstlichen Metrik des Zwei-Prozent-Zieles verabschiedet. Längst sind andere Messverfahren in der Anwendung, die mehr auf den Output und damit die konkreten Beiträge abzielen. Deutschland verweist in der Lastendebatte gern auf den Gesamtumfang seiner NATO-Beiträge, die bei den Finanzen (cash) schlechter, bei den Fähigkeiten (capabilities) hingegen besser und umfangreich beim Streitkräfteeinsatz (commitment) aussehen. Insgesamt hängen auch diese Leistungskriterien von einem gesunden Zustand der Bundeswehr ab. Mit dem Auslaufen des Afghanistan-Einsatzes werden weniger Bundeswehrsoldaten in Missionen tätig sein, weswegen die Höhe des Budgets und solide finanzierte Fähigkeiten noch wichtiger werden. Um die künstliche Metrik des Zwei-Prozent-Zieles abzulösen, bei der die Leistungen Deutschlands bisher nicht adäquat berücksichtigt werden, wäre ein selbstbewussterer Auftritt Deutschlands in der Debatte hilfreich. Dieser gelänge wiederum, wenn Deutschland die Trendwende hin zu einem höheren Verteidigungsetat und zu einer besseren Ausstattung der Streitkräfte energischer vorantreiben würde.
Ein höheres deutsches Verteidigungsbudget, ermittelt aus sicherheitspolitischen Anforderungen und den Zusagen an die Verbündeten, könnte mehrere Ziele auf einmal erreichen: Es würde die Bundeswehr aus ihrer Mangelsituation holen, die NATO in ihrer Verteidigungsfunktion stärken, den Streit mit den USA deeskalieren und Deutschland selbst mehr Gestaltungsmacht einbringen.