Meine erste Begegnung mit Karl Kaiser geht auf das Jahr 1973 zurück. In diesem Jahr übernahm er die Leitung des Forschungsinstituts der DGAP. Gleichzeitig wurde im französischen Außenministerium das Centre d’Analyse et de Prévision (CAP) gegründet – das Pendant zur Planungsabteilung des Auswärtigen Amtes und zum Policy Planning Staff des US-Außenministeriums –, dessen erster Direktor ich war. In diesem Rahmen lernten wir uns kennen. Es war der Beginn eines halben Jahrhunderts deutsch-französischer Zusammenarbeit und Freundschaft im Dienst der internationalen Beziehungen.
Im Jahr 1973 waren gerade einmal 28 Jahre seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs vergangen. Eine Situation, die ein halbes Jahrhundert später schwer zu denken ist. Georges Pompidou war Präsident der Republik und Willy Brandt Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Die französisch-amerikanischen Beziehungen waren angespannt, aber der Nachfolger von General de Gaulle hatte die erste Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft um Dänemark, Irland und das Vereinigte Königreich ermöglicht. Der Beitritt des Vereinigten Königreiches veränderte das Gleichgewicht des politischen Systems der Gemeinschaft radikal. Doch die europäische Wirtschaft florierte und auf der Ebene der Ost-West-Beziehungen war die Zeit der Entspannung gekommen. Experten der internationalen Beziehungen teilten die Welt in drei Blöcke: den Westen, die sozialistischen Länder und die Dritte Welt. Wären da nicht die beiden Ölschocks im Herbst 1973 und 1978 gewesen, erschien dieses Jahrzehnt der 1970er Jahre rückblickend als glücklich.
Die großen Debatten dieser Zeit, über das von Henry Kissinger ausgerufene „Jahr Europas“, die Gründung der Internationalen Energieagentur oder die Feinheiten der Strategie des Atomzeitalters, oder über die „Lastenteilung“ zwischen den USA und dem europäischen Pfeiler der Atlantischen Allianz, die „neue internationale Wirtschaftsordnung“ und die internationalen Handelsbeziehungen in Zeiten des expandierenden Japans - nichts davon hat die Harmonie der deutsch-französischen Beziehungen jemals grundlegend gestört. Ihre Grundlage war eindeutig das europäische Aufbauwerk um die beiden Leitgedanken der Versöhnung und der wirtschaftlichen Integration. Die Amtszeiten von Valéry Giscard d'Estaing und Helmut Schmidt, die beide im Mai 1974 im Abstand von wenigen Tagen ihr Amt antraten, nachdem sie beide Finanzminister gewesen waren, fielen in etwa zusammen und trugen wesentlich zur Vertiefung der Gemeinschaft bei, sowohl in wirtschaftlicher Hinsicht (ich denke dabei natürlich zuerst an das Europäische Währungssystem) als auch in politischer Hinsicht (allgemeine Wahlen zum Europäischen Parlament ab 1979).
Als ich Anfang 1979 das Institut français des relations internationales (Ifri) auf den Weg bringen konnte, waren Karl und ich entschlossen, unsere Zusammenarbeit über das schon länger bestehende Comité d’études des relations franco-allemandes (Cerfa) hinaus zu intensivieren. Wir verstanden uns sehr gut und unsere Freundschaft war bereits gefestigt. Wir begannen mit der Einrichtung eines jährlichen Treffens von Delegationen aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Journalismus, das abwechselnd in Paris und Bonn stattfand. Zu Beginn ahnten wir nicht, dass das internationale System an der Schwelle zu einem tiefgreifenden Wandel stand. Diese manifestierte sich zunächst das ganze Jahr über in einem neuen Aktivismus der UdSSR in der Dritten Welt, in der iranischen Revolution und Ende 1979 in der sowjetischen Invasion in Afghanistan. Ebenfalls 1979 brach die Euroraketenkrise aus, deren Ursprung meiner Meinung nach die Rolle der Think Tanks bei der Strukturierung bestimmter Debatten verdeutlicht. Das Jahr 1980 war auch durch die Wende der Solidarność gekennzeichnet. Die westlichen Länder befürchteten eine sowjetische Intervention in Polen, aber auch in Jugoslawien (Marschall Tito starb im Mai 1980). Hinzu kam die Verstärkung der Wirtschaftskrise, die durch die beiden Ölschocks ausgelöst wurde. In der Situation der Abhängigkeit, in der sich der Westen gegenüber dem Nahen Osten befand, nahm das Schreckgespenst großer Konflikte schnell ein großes Ausmaß an.
Bericht der vier Direktoren
Dies war also der internationale Kontext zu Beginn einer sich rasch intensivierenden Zusammenarbeit zwischen dem gerade erst gegründeten Ifri, das bereits über ein starkes Forscherteam verfügte, und seiner älteren Schwester: der DGAP. Mit der Aussicht auf derart grundlegende Veränderungen hatten Karl und ich die Idee zu dem Projekt, das später zum sogenannten Bericht der vier Direktoren über Sicherheit und den Westen werden sollte. Karl geht in seinen „Erinnerungen“ ausführlich darauf ein. Es handelte sich um die Direktoren der DGAP, des Council on Foreign Relations (CFR) in New York, des Ifri und des Royal Institute of International Affairs (Chatham House).
Die Herausforderung war real, denn es ging darum, zu einer gemeinsamen Diagnose und gemeinsamen Empfehlungen für den strategischen Rahmen der transatlantischen Beziehungen zu gelangen, und zwar im Hinblick auf ein neues Jahrzehnt, das von einer technologischen Revolution geprägt und politisch von Ronald Reagan in den USA und Margaret Thatcher in Großbritannien dominiert werden sollte. Der Präsident des CFR stimmte uns begeistert zu. Karl war in transatlantischen Kreisen in den USA eine bekannte und angesehene Persönlichkeit. Ich meinerseits hatte mir als Direktor des CAP an der Ostküste einen Namen gemacht. Insbesondere hatte ich gute Beziehungen zu Winston Lord aufgebaut, meinem Amtskollegen im Außenministerium unter Kissinger. Unter diesen Umständen war es für uns kein Problem, David Watt, den damaligen Direktor des Chatham House, anzuwerben. Die Qualität unseres Berichts verdankte sich der Kompetenz unserer Berater, insbesondere für das Ifri Pierre Lellouche, der später Minister wurde und damals ein junger Wissenschaftler war, der bereits für seine Expertise in strategischen Fragen bekannt war.
Der originellste Aspekt unseres Berichts war die Hervorhebung der Notwendigkeit eines umfassenden Verständnisses des Sicherheitsbegriffs für den Westen und der Bedeutung einer Zusammenarbeit in Bezug auf die Dritte Welt innerhalb der NATO. In diesem Zusammenhang hatte unser Konzept der Zusammenarbeit zwischen den „Hauptstaaten“ unter verschiedenen Bezeichnungen (auf Englisch: coalitions of the willing) großen Erfolg.
In seinen „Erinnerungen“ hebt Karl die enorme Wirkung hervor, die der Bericht erzielte, ebenso wie die Kritik, die er in Deutschland hervorrief. Auch in Frankreich, wo sich zu jener Zeit noch historische Gaullisten als Tempelwächter aufspielten, stieß der Bericht auf Widerstand. Für sie war die Idee, die transatlantische Zusammenarbeit in Sicherheitsfragen auf die Dritte Welt auszuweiten, ein Sakrileg. Das Misstrauen der sozialistisch-kommunistischen Linken, wie es damals hieß, war nicht geringer. Tatsächlich erschien der Bericht nur wenige Wochen vor der Wahl François Mitterrands zum Präsidenten der Republik, und seiner ersten Regierung gehörten Kommunisten an.
Dieser erste Erfolg ermutigte uns zwei Jahre später, ein ähnliches Projekt über die Zukunft der Europäischen Gemeinschaft durchzuführen. Diesmal mit der DGAP, dem Ifri und Chatham House natürlich (nun unter der Leitung von William Wallace), sowie dem Istituto Affari Internazionali (unter der Leitung von Cesare Merlini) und, im Namen der Niederlande, dem sehr renommierten Edmond Wellenstein. Wir alle spürten, dass die Gemeinschaft in einer immer komplexer werdenden Welt auf Hindernisse stieß, die ihre Existenz gefährden konnten. Der Bericht, der unter dem Titel „Die Europäische Gemeinschaft: Niedergang oder Erneuerung“ veröffentlicht wurde, war ebenfalls ein Erfolg, und seine erneute Lektüre nach etwas mehr als 40 Jahren vermittelt den Eindruck einer erstaunlichen Aktualität.
Die Rolle der großen europäischen Think Tanks
Die Zusammenarbeit zwischen Ifri und DGAP setzte sich während der gesamten Amtszeit von Karl fort, und er nennt in seinen „Erinnerungen“ mehrere weitere Beispiele dafür. In diesem bescheidenen Beitrag zu diesem Werk zu Ehren seines 90. Geburtstags wollte ich mich jedoch aus zwei bestimmten Gründen auf diese Berichte konzentrieren. Der erste Grund ist, dass nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Zusammenbruch der Sowjetunion, auf die weder wir noch andere vorbereitet waren, die natürliche Tendenz in den führenden Think Tanks darin bestand, Beziehungen zu den aufstrebenden Ländern zu knüpfen, insbesondere zu den wichtigsten unter ihnen wie China oder Indien, aber natürlich auch zu Russland.
Als Karl 2003 aus der DGAP ausschied, waren die Beziehungen zwischen dem Westen und dem Regime von Wladimir Putin zweifellos von gegenseitigem Misstrauen geprägt, doch konnte man die Zukunft noch mit vorsichtigem Optimismus betrachten, ohne dabei völlig naiv zu sein. Erst nach der „Orangenen Revolution“ 2004 in der Ukraine begann die Kluft ernsthaft und immer stärker zu wachsen. Vielleicht haben die großen europäischen Think Tanks die Gefahren der Ideologie vom „Ende der Geschichte“ unterschätzt – eine Ideologie, die in den westlichen Ländern die Vorstellung vom Regime Change förderte, die den Neokonservativen und vielen US-Demokraten am Herzen lag. Aber auch, implizit, vielen Europäern.
Angesichts einer Vielzahl von Faktoren – darunter die konkreten Auswirkungen des Klimawandels, die Covid-19-Pandemie, der Aufstieg eines als zunehmend aggressiv wahrgenommenen China, islamistischer Terrorismus, der Krieg in der Ukraine, die Aussicht auf Handelskriege, eine unkontrollierte Erweiterung der Europäischen Union und die Rückkehr Donald Trumps ins Weiße Haus – ist das Risiko eines Zusammenbruchs der Gemeinschaft, die inzwischen zur Europäischen Union geworden ist, in den kommenden Jahren oder Jahrzehnten erheblich höher als 2003.
Wie müssen die transatlantischen Beziehungen neu gedacht werden? Wie sollte die zukünftige Sicherheitsarchitektur Europas gestaltet werden? Denn der Krieg in der Ukraine wird ein Ende finden, und die Beziehungen zwischen Europa und Russland werden sich in irgendeiner Form neu entwickeln: Werden die Europäer dabei geeint oder gespalten sein?
In seinem Leben wie auch in seinem Werk hat uns Karl Kaiser daran gewöhnt, die Welt so zu sehen, wie sie ist, ohne jemals die Hoffnung auf eine relativ friedliche Koexistenz aufzugeben – selbst zwischen Ländern mit so unterschiedlichen wirtschaftlichen und sozialen Systemen wie zu sowjetischen Zeiten. In diesem Sinne ist die Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich notwendiger denn je.
Im konstruktiven Geist, der Karl und mich über so viele Jahre hinweg geleitet hat, wünsche ich mir, dass DGAP und Ifri gemeinsam einen bedeutenden Beitrag zu dem bevorstehenden Wiederaufbau leisten können.
Dieser Text ist ein Kapitel aus dem Buch „Wege in die Zukunft: Perspektiven für die Außenpolitik: Zum 90. Geburtstag von Karl Kaiser“ und enthält keine Fußnoten. Die vollständige Version inklusive Fußnoten können Sie oben im PDF bzw. über das E-Book aufrufen.