Kommentar

06. Apr. 2021

Der Digitale Kompass – gute Ansätze, diffuse Ziele

In diesem Frühjahr legte die EU-Kommission den „Digitalen Kompass 2030“ für den digitalen Wandel in Europa vor. Damit soll Europa seine Defizite überwinden und die ‚Digitale Souveränität‘ stärken. Der als Meilenstein in eine digitale Dekade angekündigte Aktionsplan lässt allerdings viele Fragen offen. Zwar wurden messbare Ziele gesetzt, die aber in ihrer Umsetzung zu vage formuliert sind. Jetzt kommt es darauf an, die Ziele weiter zu konkretisieren und auf ihre Effizienz zu prüfen.

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Das 27-seitige von Kommissions-Vizepräsidentin Margrethe Vestager und Binnenmarktkommissar Thierry Breton vorgestellte Dokument bezieht sich auf ein breites Portfolio mit vier Kernbereichen: Kompetenzen, digitaler Wandel in Unternehmen, sichere und nachhaltige digitale Infrastruktur sowie Digitalisierung öffentlicher Dienste. Auch wenn die Ziele im „2030 Digital Compass: the European way for the Digital Decade“ zunächst als eine Art Arbeitsgrundlage zu verstehen sind, ist es bemerkenswert und positiv, dass alle Kernbereiche messbare Ziele bis 2030 beinhalten (siehe Grafik). Die Europäische Kommission möchte zur Rechenschaft gezogen werden können und ihren Erfolg messbar machen – so scheint es zumindest. Doch ist dies wirklich so? Bei genauerer Betrachtung sind die Ziele im Digitalen Kompass 2030 zwar sinnvoll, deren Stoßrichtung und Praktikabilität lassen jedoch offene Fragen und bleiben bisweilen diffus. Im Bereich Kompetenzen möchte die EU beispielsweise eine digital qualifizierte Bevölkerung und hochqualifizierte digitale Fachkräfte fördern.

Richtig ist, dass sie die Notwendigkeit von IT-Spezialisten für die zukünftige Wettbewerbsfähigkeit betont. Bis 2030 sollen 20 Millionen Fachkräfte ausgebildet sein. Vage bleibt jedoch, was erweiterte digitale Kompetenzen sind. Die EU-Kommission schreibt in einem Kommentar nur, dass dies mehr als Programmierkenntnisse bedeuten. Auch bei der Zielvorgabe, angelehnt an den European Pillar of Social Rights Action Plan, dass mindestens 80 Prozent aller Erwachsenen über ‚basic digital skills‘ verfügen sollen, bleibt sie unkonkret und verrät nicht, was genau diese Fähigkeiten ausmachen. Stattdessen betont die EU die Notwendigkeit zum „lebenslangen digitalen Lernen“, ohne zu zeigen, wie 80 Prozent der europäischen Bevölkerung dazu motiviert werden können.

Mehr Fertigungsanlagen für Halbleiterindustrie

Die im Bereich Infrastruktur gesetzten Ziele sind teils trivial, teils ist die Stoßrichtung ausbaufähig. Ziele zur „Konnektivität“ sind wenig ambitioniert und die genannten Technologien möglicherweise 2030 bereits überholt. Sowohl die explizit genannten 5Gals auch Gigabit-Netzwerke sind aktuell verfügbare Technologien. Allein stellen sie die Zukunftsfähigkeit der EU aber nicht sicher. Aspekte wie die Wichtigkeit des Aufbaus von Unterseekabeln und der zukünftige Einfluss von satellitengestützter Internetkommunikation werden fast gar nicht thematisiert. Auch wird nicht darauf hingewiesen, wer die bis 2030 anvisierten 10.000 ‚Edge Notes‘ betreiben soll und zu welchem Zweck.

Die Halbleiterindustrie ist für die Herstellung von Mikrochips, dem Herzen jedes heutigen Computers und Smartphones, verantwortlich. Das Ziel, diese zu stärken, vermischt den Anteil Europas an der aktuellen Produktion mit dem Anteil an modernsten Produktionstechnologien, für welche in Europa aktuell sehr wenige Fertigungsanlagen für Equipment im Halbleitermarkt existieren. Nach den Plänen der EU soll die Kapazität der Halbleiterindustrie von aktuell zehn Prozent auf 20 Prozent verdoppelt werden und das bei sogenannten cutting-edge Produkten. Das Problem bei dieser Rechnung ist aber, dass Europa zwar zehn Prozent der gesamten Halbleiterproduktion zurzeit hat, aber minimale Anteile bei der weltweiten cutting-edge Produktion in diesem Bereich – weit unter zehn Prozent.

Produktionsprozesse werden oft in Nanometern (nm) dargestellt – eine Größe, die vormals die reale Strukturgröße auf einem Mikrochip bezeichnete, mittlerweile allerdings etwas an Aussagekraft verloren hat, da die Vergleichbarkeit zwischen Herstellungsprozessen verschiedener Hersteller allein auf dieser Basis nicht gegeben ist. Entsprechend ungenau ist die explizite Nennung der 5nm- und 2nmProduktion für 2030.

Weniger regulatorische Hürden für Start-ups

Erste (von amerikanischen Firmen eingekaufte) Quantencomputer sollen bereits jetzt in Europa aufgebaut werden, sodass das Ziel, bis 2025 den ersten europäischen Quantencomputer zu fertigen, wenig ambitioniert formuliert ist. Vielmehr sollte im Bereich Quantumcomputing der Fokus noch stärker darauf liegen, die in Europa vorhandenen Stärken im Bereich der Forschung zu nutzen, um diese innovative Technologie innereuropäisch zu stärken und nicht, wie bei der Halbleiterindustrie geschehen, den Anschluss an die Weltspitze zu verlieren. Die in diesem Bereich bereits existierenden Initiativen werden überraschenderweise vom Kompass nicht aufgegriffen.

Zur Abdeckung wirtschaftlicher Aspekte werden eher moderate Ideen vorgeschlagen. Der ‚Digital Single Market‘ sowie Investitionsstrategien zur Förderung innovativer Start-ups sind sicherlich notwendig. Die EU hat allerdings bisher die Chance nicht optimal genutzt, die weiteren regulatorischen Hürden, die sie Start-ups in den Weg stellt, zu benennen und abzubauen.

In Bezug auf Technologieadaption sollen 75 Prozent der europäischen Unternehmen bis 2030 Cloud Computing-Dienste, Big Data und künstliche Intelligenz in Anspruch nehmen. Dies soll mit der Unterstützung von über 200 Digital Innovation Hubs und Industrieclustern erreicht werden. In einer freien Marktwirtschaft ist Technologieadoption jedoch kein Selbstzweck, sie bedarf handfester Vorteile und innovationsfreundlicher Rahmenbedingungen. Insofern kann die EU bestenfalls indirekt auf dieses Ziel hinarbeiten und sollte dies herausstellen. Das Ziel, die Zahl der sogenannten „Unicorns“- Start-Ups, die in ihrer letzten Finanzierungsrunde von Investoren mit einer Milliarde Dollar oder mehr bewertet wurden – ist ebenso bestenfalls indirekt beeinflussbar.

Konkrete Ziele im Handlungsspielraum der EU, z.B. den Abbau von Hürden, die derartige Firmengründungen in Europa erschweren, werden nicht genannt. Im Bereich der öffentlichen Verwaltung trifft der Digitale Kompass einen enorm wichtigen Punkt: Um Vertrauen in Technologien zu fördern und Innovation zu stärken, muss der Staat selbst diese Technologien einsetzen und somit eine aktive Nachfrage schaffen. Online-Bürgerservice („100 percent online provision of key public services“), e-health („100 percent of EU citizens have access to medical records“) und eine digitale Identität („80 percent of citizens will use a digital ID“) sind lobenswerte Ansätze. Dabei ist es jedoch essenziell, dass sich die EU nicht in einzelnen nationalen oder geschlossenen Systemen verliert, sondern durchweg auf offene Standards setzt, sodass die Bürgerinnen und Bürger wirklich befähigt und nicht eingeschränkt werden. Dies kann einen wichtigen Beitrag zum Bereich Kompetenzen liefern. Darüber hinaus sollte die EU auch KI-basierte Ansätze aktiv nachfragen und produktiv einsetzen, was einen wichtigen Beitrag zur wirtschaftlichen Stärkung der EU liefern kann.

Programm für Digitalpolitik geplant

Um die Ziele aus dem Digitalen Kompass zu erreichen, plant die Kommission unter anderem die Einleitung von Mehrländerprojekten, bei denen Investitionen aus dem EU-Haushalt, von den Mitgliedstaaten und aus dem Privatsektor kombiniert werden sollen. Ferner soll ein robuster Governance Mechanismus und praktische Werkzeuge zur Umsetzung aufgebaut und ein Überwachungssystem eingeführt werden, um die Fortschritte bei der Erreichung der Ziele zu messen. Nach Konsultationen mit anderen EU-Institutionen plant die Kommission im dritten Quartal 2021 ein Programm zur Digitalpolitik, mit dem der Digitale Kompass implementiert werden soll. Parallel hierzu soll eine institutionelle Erklärung der EU-Institutionen zu Digitalgrundsätzen (z.B. zum Schutz personenbezogener Daten oder ethischer Grundsätze für Algorithmen) im Laufe des Jahres ausgearbeitet und in einer breiten gesellschaftlichen Debatte diskutiert werden.

Der Ansatz, sich messbare Ziele zu setzen und den Erfolg der digitalen Strategie der EU somit messbar zu machen ist durchweg positiv zu sehen. In Rahmen der weiteren Ausarbeitung und Umsetzung des Digitalen Kompasses kommt es jedoch jetzt darauf an, die Ziele weiter zu konkretisieren und auf ihre Effizienz zu prüfen. Hierbei wäre es jedoch wichtig, wenn einige Ziele ambitionierter (z.B. im Bereich Konnektivität) und einige realistischer bzw. präziser (z.B. im Bereich Halbleiterindustrie) gestaltet werden. Es wäre zudem wichtig zu wissen, ob weitere Ziele und Technologie-Bereiche später im Programm zur Digitalpolitik hinzukommen, da die Zielvorgaben des Digital Kompasses allein nicht die Zukunftsfähigkeit Europas sicherstellen würden. In einer kommenden DGAP-Studie zur europäischen Handlungsfähigkeit im technologischen Bereich werden viele Aspekte, die der Digitale Kompass beinhaltet, analysiert und diesbezüglich Empfehlungen gemacht, wie die EU und ihre Mitgliedstaaten ihre Handlungsfähigkeit effektiv ausbauen können.

 

Bibliografische Angaben

Sahin, Kaan. “Der Digitale Kompass – gute Ansätze, diffuse Ziele.” April 2021.

DGAP Kommentar Nr. 10, 6. April 2021, 4 S.

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