Hollande erreichte das beste Ergebnis eines sozialistischen Kandidaten in der ersten Runde einer französischen Präsidentschaftswahl, sieht man von 1988 ab, als sich François Mitterrand als amtierender Präsident um eine zweite Amtszeit bewarb. Mit insgesamt 43,7 Prozent der Stimmen im ersten Wahlgang liegt das gesamte Stimmpotenzial der Kandidaten, die dem linken Lager zugerechnet werden können, annähernd in dem Bereich der beiden sozialistischen Wahlsiegen Mitterands 1981 und 1988. Das Wahlergebnis von 2012 ist jedoch insofern noch höher zu bewerten, als der Front National, der einen bedeutenden Anteil der traditionell kommunistischen Wählerschaft aus der Arbeiterschaft an sich binden konnte, damals den Stimmanteil des linken Lagers nicht negativ beeinflusste.
Da die „Nichtwähler“ angesichts der hohen Wahlbeteiligung von 80,1 Prozent kein erhebliches Reservoir an Wählerstimmen darstellen, das mobilisiert werden kann, liegt für Hollande der Schlüssel zum Sieg in einer doppelten Strategie: Er muss zum einen auf eine geschlossene Linke und zum anderen auf Stimmen aus dem Zentrum setzen, die er seinem Konkurrenten Sarkozy abringt. Unter Umständen wird sogar ein kleiner Teil der Wähler des rechtsextremen Front National für Hollande stimmen, die von Nicolas Sarkozy enttäuscht sind. Politisch ist Hollandes Doppelstrategie aber ein riskantes Unterfangen und verlangt dem sozialistischen Kandidaten einen Spagat zwischen den divergierenden Positionen des Zentrums und der teilweise radikalen Linken ab. Entscheidend wird sein, ob Hollande wie vor dem ersten Wahlgang politische Akzente setzen kann, die der unter Mélenchon im Wahlkampf wiedererstarkten Linken gefallen, ohne dabei das bürgerliche Zentrum abzuschrecken.
Eine geschlossene Linke als Ziel
Bereits vor Beginn des Präsidentschaftswahlkampfs hat der PS durch die Durchführung von Vorwahlen versucht, möglichst viele Parteien der traditionell besonders im linken Spektrum zersplitterten französischen Parteienlandschaft einzubinden. Mit dem Parti Radical de Gauche (PRG), der dem linken Zentrum zuzuordnen ist, konnte der PS lediglich eine andere Partei dazu bewegen, an dem Nominierungsprozess teilzunehmen, und damit frühzeitig an den erfolgreichen Kandidaten des PS zu binden. Zwar hat der PS im November 2011 durch weitreichende inhaltliche Zugeständnisse (Reduzierung des Atomstromanteils bis 2050 von 75 auf 50 Prozent) und die Überlassung von 60 Wahlkreisen an Kandidaten der Partei Europe Écologie- Les Verts (EELV) die grüne Partei nicht zum Verzicht auf eine eigene Kandidatin bewegen können, kann aber auf deren Unterstützung im zweiten Wahlgang zählen und besitzt in der EELV einen strategischen Partner für eine mögliche Regierungsbildung. Durch den Verzicht von Jean-Pierre Chevènement auf eine Präsidentschaftskandidatur als Bewerber des Mouvement Radical et Citoyen (MRC), der bei den Präsidentschaftswahlen 2002 immerhin 5,5 Prozent der Stimmen erhalten hatte, konnte der PS im Laufe des Wahlkampfs eine weitere Partei an ihren Kandidaten binden.
Nach dem ersten Wahlgang setzt der PS diesen Prozess der Einbindung der anderen linken Strömungen fort. Dabei wird sein Hauptaugenmerk auf der Einbindung des Front de Gauche liegen, denn nur bei einer massiven Mobilisierung von dessen Wählerschaft wird es Hollande möglich sein, die vorhergesagten Umfragewerte bei der Wahl auch zu erreichen. Nach lediglich acht Prozent in den Umfragen noch Ende Februar hat der Wahlkampf des Front de Gauche in den letzten Wochen deutlich an Dynamik gewonnen. Zwar hat der Spitzenkandidat des Front de Gauche, Jean-Luc Mélenchon, mit 11,1 Prozent nicht den vorhergesagten großen Erfolg und möglichen dritten Platz erreicht, doch ist seine Bedeutung für Hollandes Chancen auf einen Wahlsieg groß. Noch am Abend des ersten Wahltags hat Mélenchon seine Anhänger aufgerufen, in der zweiten Runde alles daran zusetzten „Sarkozy zu schlagen“. Vor der ersten Wahlrunde erklärten vier von fünf Wählern Mélenchons, im zweiten Wahlgang für Hollande stimmen zu wollen. Dennoch muss der Sozialist bis zum 6. Mai darauf bedacht bleiben, die Wähler des Front de Gauche an sich zu binden.
Im Wahlkampf vor dem ersten Urnengang hat François Hollande, der innerhalb des PS dem gemäßigten Flügel zuzurechnen ist, versucht, durch prononciert linke Positionen wie die symbolträchtige und stark mediatisierten Forderung nach der Besteuerung des Anteils von Einkommen, der über einer Million Euro pro Jahr liegt, mit einem Steuersatz von 75 Prozent den Höhenflug des Front de Gauche zu stoppen. Seine teils harsche Kritik am Finanzkapitalismus, die Forderungen nach staatlichen Hilfen für krisengeschüttelte Industrieunternehmen und einer Neuverhandlung des europäischen Fiskalpakts zu Gunsten einer Wachstumskomponente stellen politische Positionierungen des Kandidaten Hollandes dar, um die Wählerschaft Mélenchons im zweiten Wahlgang zu erreichen. Ein entscheidender Vorteil Hollandes ist, dass er durch die Betonung des Themas „Jugend“ und der Thematisierung des Problems der Jugendarbeitslosigkeit den überproportional großen Anteil junger Wähler, die sich im ersten Wahlgang für Mélenchon entschieden haben, im zweiten Wahlgang an sich binden kann. Dies könnte entscheidend sein, da die Gruppe der 18- 34-jährigen in Frankreich die Altersgruppe darstellt, die tendenziell den höchsten Anteil an Stimmenthaltungen im zweiten Wahlgang aufweist.
Inhaltlich dürfte es für Hollande schwierig werden, sich weiter nach Links zu orientieren ohne bisherige Wähler zu verlieren. Mit den oben genannten Forderungen und mit seinen Vorschlägen zur Wiedereinführung der Rente mit 60 vertritt er bereits viele Positionen der Linken. Auf symbolische Änderungen seines Programms, wie beispielsweise die Erhöhung des monatlichen Mindestlohnes auf 1700 Euro, wie dies von Mélenchon gefordert wird, wird er sich nicht einlassen. Vielmehr wird Hollande zwischen den beiden Wahlterminen vor allem auf eine linke Rhetorik und Symbolik und auf den Appell an die Geschlossenheit der politischen Linken setzen.
Orientierung ins Zentrum
Die Stärke der linken Parteien und die daraus für Hollande entstehenden Versuchung, sich inhaltlich nach links zu orientieren, birgt aber auch ein Risiko. Durch eine zu große Annäherung an den Front de Gauche oder gar durch die Einbeziehung von dessen politischen Forderungen läuft der sozialistische Kandidat Gefahr, Nicolas Sarkozy das bürgerliche Lager und das politische Zentrum zu überlassen. Bisher erklären jeweils ein Drittel der Wähler von François Bayrou, dem Kandidaten der Zentrumspartei MoDem, der mit 9,1 Prozent seinen Stimmanteil im Vergleich zu 2007 beinahe halbierte, in der zweiten Runde für Hollande oder Sarkozy stimmen zu wollen. Trotz des schwachen Abschneidens stellt die Wählerschaft Bayrous für beide Kandidaten eine wichtige Zielgruppe dar. Daher wird eine Wahlempfehlung Bayrous für den zweiten Wahlgang, auf die er bei der Wahl 2007 verzichtet hatte, bedeutsam sein. Im Präsidentschaftswahlkampf 2012 wird Bayrou dieses Manöver, das ihn zwischen beiden Wahlen weitgehend marginalisierte, wohl kaum wiederholen. Angesichts seiner harschen Kritik an Sarkozy nicht nur während des Wahlkampfs sondern während der vergangenen fünf Jahre wäre eine Wahlempfehlung von Bayrou zu Gunsten des amtierenden Präsidenten kaum glaubwürdig. Wenn Bayrou seine Glaubwürdigkeit in den Augen seiner Wähler nicht aufs Spiel setzen will, könnte dessen anhaltende Kritik an Sarkozy somit zum Glücksfall für Hollande werden.
Obwohl François Bayrou Hollandes Forderungen im Bereich der Sozialpolitik als demagogisch kritisiert hat, hat Hollande während des Wahlkampfs zur ersten Runde durch sein Bekenntnis zur Haushaltskonsolidierung und durch seine Hinweise auf die durch die Eurokrise entstehenden Zwänge Themen betont, die im Programm von François Bayrou bereits seit der letzten Präsidentschaftswahl einen zentralen Platz finden. Neben diesen Themen versucht Hollande, das Thema der Moralisierung der Politik aufzugreifen, um von Nicolas Sarkozys politischer Praxis enttäuschte Wähler, die sich im ersten Wahlgang für Bayrou entschieden haben, für sich zu gewinnen. Auch Hollandes Umorientierung während des Wahlkampfes im Bereich der Atompolitik von einer weitreichenden Senkung des Atomanteils am Strommix, wie er mit der EELV ausgehandelt war, hin zur Forderung, in der kommenden Amtszeit lediglich den Atommeiler in Fessenheim vom Netz zu nehmen und die Rückführung lediglich als Ziel bis 2050 anzusehen, kann als Versuch gesehen werden, sich dem atomfreundlichen politischen Zentrum zuzuwenden.
Eine weitere gemäßigte Orientierung in Richtung des politischen Zentrums durch Hollande ist zu erwarten. Entscheidend für seinen Erfolg unter den Zentrumswählern wird aber nicht nur seine Positionierung sein, sondern ebenso die Strategie Sarkozys. Dieser ist nach dem starken Abschneiden des rechtsextremen Front National der Versuchung ausgesetzt, durch die Fokusierung von Themen wie Immigration und Sicherheit in den verbleibenden zwei Wochen die Stimmen der unentschiedenen Wähler des Front National auf sich zu vereinigen. Dies könnte aber Wähler des Zentrums veranlassen, ins Lager Hollandes zu wechseln oder sich der Stimme zu enthalten. So finden sich beide Kandidaten in der Position eines politischen Spagats zwischen dem Zentrum und den jeweiligen Extremen ihres politischen Lagers. Allerdings gleicht derjenige Sarkozys eher einer Herkulesaufgabe, da er keine direkte Wahlempfehlung von Le Pen erwarten darf und dadurch um deren Wählerschaft aktiv buhlen muss.
Ist der Spagat zu meistern?
Bis zum 6. Mai wird sich Hollande der Herausforderung stellen müssen, sich zur Integrationsfigur der französischen Linken zu entwickeln und gleichzeitig Stimmen aus dem politischen Zentrum auf sich zu vereinen. Da die Forderungen des Front de Gauche und des MoDem besonders im Bereich der Haushalts- und Sozialpolitik weit auseinander liegen, steht Hollande vor der Aufgabe, das Unvereinbare zu vereinbaren. Seine Strategie der ersten Tagen nach dem ersten Urnengang wird er dabei fortsetzen und kündigt an, von seinem Programm auch zwischen den beiden Wahlgängen nicht abrücken zu wollen. Dabei setzt er auch auf die im zentristischen Lager ebenso wie im radikal linken Lager vorherrschende Anti-Sarkozy Stimmung, auch wenn diese ihn nicht als Kandidat der Herzen zum Wahlsieg trägt sondern lediglich als kleineres von zwei Übeln erscheinen lässt.
Seit Wochen steht die Diskussion über zwei europapolitische Themen in Europa unter Beobachtung. Zum einen ist dies Hollandes Forderung einer Nachverhandlung des europäischen Fiskalpakts, zum anderen Sarkozys Vorschlag zur Aussetzung des Abkommens von Schengen. Besonders Hollandes Forderung einer Nachverhandlung des europäischen Fiskalpakts und die Ergänzung des Vertrags um eine Wachstumskomponente sorgten in Europa für Aufregung unter den Staats- und Regierungschefs. Diese stets wiederholte Forderung ist ebenso dem Wahlkampf geschuldet und an den Teil der europakritischen Wählerschaft gerichtet wie Sarkozys Forderung sich an die europakritische und immigrationskritische Wählerschaft richtet. Ob Hollande langfristig Pate für ein europäisches Model stehen wird, das sozialdemokratische Züge trägt, ist ungewiss. Zwar hat er am 17. März im Wahlkampf von verschiedenen europäischen sozialistischen und sozialdemokratischen Parteivorsitzenden – unter ihnen auch Sigmar Gabriel – Unterstützung für seine Forderung erhalten. Nach einem Wahlsieg muss François Hollande allerdings mehrheitlich mit Partnern verhandeln, die konservativen Parteien angehören. Dies lässt erwarten, dass er deutlich gemäßigter in seinen Forderungen auftreten wird. Denkbar wäre, dass sich Hollande in Brüssel mit der Forderung nach einer europäischen Wachstumsprogramm durchsetzt, ohne dabei den Kern des Fiskalpakts anzurühren. Damit könnte er als neu gewählter Präsident in Frankreich sein Gesicht wahren, ohne dabei auf der europäischen Ebene viel Porzellan zu zerschlagen.
Für die Europapolitik und die deutsch-französischen Beziehungen wird aber auch die Bereitschaft eines Präsidenten Hollande, strukturelle Reformen am Arbeitsmarkt und am Sozialsystem durchzuführen, eine zentrale Rolle spielen. Diese innenpolitischen Reformen werden jedoch für Hollande im Falle eines Erfolgs des Front de Gauche bei den Parlamentswahlen im Juni schwer durchzusetzen sein, besonders wenn dieser so stark ausfällt, dass Hollande bei der Benennung seines Premierministers und der Regierungsmitglieder Rücksicht auf das linke Parteienbündnis nehmen muss oder diese Regierung sogar in der Assemblée nationale auf die Stimmen des Front de Gauche angewiesen sein wird. Wichtige innenpolitische Reformen könnten in diesem Fall auf der Strecke bleiben.
Sein bisheriger Realismus, seine Vorsicht im Wahlkampf angesichts der Herausforderungen durch die Euro- und Schuldenkrise und die zu erwartenden politischen Reformanstrengungen nach den Wahlen werden wohl dazu beitragen, dass der grundsätzlich pro-europäische Hollande nicht als Schreckgespenst in Europa auftreten wird und auch die deutsch-französischen Beziehungen keinen Schaden nehmen werden. Vielmehr ist zu erwarten, dass nach eventuellen anfänglichen Abstimmungsschwierigkeiten zwischen der deutschen Kanzlerin und dem französischen Präsidenten, wie zu Beginn der Amtszeit von Nicolas Sarkozy im Jahr 2007, die Beziehungen aufgrund des Realitätsdrucks wieder in ruhigeres Fahrwasser gebracht werden und der Wahlkampf schneller vergessen sein wird als politische Kommentatoren dies voraussagen.
Richard Probst ist Masterstudent am Institut d’Etudes politique in Grenoble und der Universität Konstanz.