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20. Febr. 2024

Atomare Heißluft: Deutsche Debatte über Nuklearwaffen

3D rendered illustration of many nuclear missiles
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Was tun, falls ein künftiger US-Präsident Trump seinen Nuklearschirm über Europa zuklappt? 1000 Atomsprengköpfe kaufen? Bei Frankreich unterschlüpfen? Die aktuelle Debatte in Deutschland zeugt von völliger Ahnungslosigkeit.

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Im politisch daueraufgeregten Deutschland wird derzeit ein weiteres Borstenvieh durch das sprichwörtliche Dorf getrieben. Die gewohnt wirren, aber gleichwohl gefährlichen Aussagen des möglichen US-Präsidentschaftskandidaten Donald Trump zur Aufkündigung der Nato-Beistandspflicht haben das ausgelöst, was es in der Republik schon lange nicht mehr gegeben hatte: eine veritable Atomdiskussion.

Eine SPD-Politikerin, die bislang ihre sicherheitspolitische Expertise geschickt verstecken konnte, räsonierte über eine eigenständige nukleare Abschreckungsfähigkeit der Europäischen Union, falls ein Republikaner ins Weiße Haus einziehen würde. Wie das genau aussehen soll, blieb allerdings offen, gibt es in der EU doch weder eine gemeinsame Regierung, noch ein gemeinsames Staatsoberhaupt, das über einen atomaren Einsatz verfügen könnte. Schließlich kann eine solche Entscheidung kaum in langen Brüsseler Nachtsitzungen mit abschließendem Mehrheitsvotum getroffen werden. 

Hier wusste allerdings ein deutscher Historiker Rat (wer Geschichte kann, kann auch Nuklearstrategie): Er schlug allen Ernstes einen gemeinsamen Roten Knopf zum Abschuss von Atomwaffen vor, der wie ein Wanderpokal von Hauptstadt zu Hauptstadt gereicht werden sollte. Klingt zumindest originell, allerdings dürfte die Vorstellung, dass eines Tages Viktor Orbán am nuklearen Drücker sitzt, nicht nur innerhalb der EU ein gewisses Unwohlsein auslösen.

Ein nüchterner Blick auf die Fakten kann helfen, um die Diskussion auf ihrem Weg zur Kernschmelze wieder in geordnete Bahnen zu lenken.

Atomsprengköpfe kaufen

Von akademischer Seite kam der offenbar ebenfalls ernst gemeinte Vorschlag, Deutschland möge doch 1000 Atomsprengköpfe von den Amerikanern kaufen. Dann säße Kanzler Scholz selbst am Atomknopf und müsste sich nicht mehr mit Orbán ins Benehmen setzen. Dass Deutschland Mitglied im Atomwaffen-Sperrvertrag ist, der lediglich den USA, Russland, Frankreich, Großbritannien und China Kernwaffen zubilligt und von allen anderen Unterzeichnern nukleare Abstinenz fordert? Schwamm drüber! Dass Deutschland sich im Vertrag zur Deutschen Einheit wiederholt und völkerrechtlich bindend zum dauerhaften Verzicht auf Massenvernichtungsmittel, einschließlich Atomwaffen, verpflichtet hat? Ein Detail! Dass in Deutschland keine ernst zu nehmende politische Stimme – nicht mal die ganz Nationalen von der AfD – eigene Kernwaffen fordert? Auch das gibt offenbar nicht zu denken. 

Gegen so viel Kreativität mutet der eher klassische Vorschlag, Frankreich möge doch die nukleare Abschreckung für Deutschland und die anderen EU-Mitglieder übernehmen, falls die USA ausfallen, geradezu hausbacken an. Vielleicht hilft aber auch ein nüchterner Blick auf die Fakten, um die Diskussion auf ihrem Weg zur Kernschmelze wieder in geordnete Bahnen zu lenken.

Nur mit Zustimmung des Kongresses

Zunächst ist eine Diskussion darüber, wie man sich auf einen möglichen US-Präsidenten Trump vorbereitet, der Bündnisse im Allgemeinen und die Nato und Deutschland im Besonderen hasst, vernünftig und notwendig. Auch eine Debatte darüber, wie die nukleare Abschreckung gegenüber einem aggressiven Russland gewahrt werden kann und was Deutschland dazu beitragen sollte, ist längst überfällig.

Sicherlich könnte Trump den transatlantischen Beziehungen gewaltigen Schaden zufügen. Ob er allerdings die 75 Jahre enger und vertrauensvoller Zusammenarbeit im westlichen Verteidigungsbündnis mit einem Federstrich auslöschen könnte, ist mehr als fraglich.

Allerdings ist Donald Trump längst noch nicht Präsident, und ein Nato-Austritt der USA kann nur mit Zustimmung des Kongresses in Washington beschlossen werden. Sicherlich könnte Trump, sofern er die Wahl gewinnt, den transatlantischen Beziehungen – und das ist mehr als nur Nato – gewaltigen Schaden zufügen. Ob er allerdings die 75 Jahre enger und vertrauensvoller Zusammenarbeit im westlichen Verteidigungsbündnis mit einem Federstrich auslöschen könnte, ist mehr als fraglich. Die überwältigende Mehrheit des sicherheitspolitischen Establishments in den USA würde sich dem entgegenstemmen.  

Atomare Sicherheitsgarantien

Dennoch lohnen sich Überlegungen für den worst case, da Hoffnung allein bekanntlich nicht die Politik ersetzt. Was wäre, wenn Donald Trump als Präsident ankündigt, nicht mehr für die Verbündeten einzustehen – ob konventionell oder nuklear? Zunächst scheitert die populäre Idee, Frankreich könne in diesem Fall seinen Nuklearschirm über Deutschland und Europa aufspannen, an den politischen Grundsätzen der Franzosen. Paris lehnt die Idee der „Erweiterten Abschreckung“, also dass ein Nuklearstaat atomare Sicherheitsgarantien für einen nicht-nuklearen Verbündeten übernehmen könne, rundheraus ab. 
 
Für Paris sind Kernwaffen nationale Waffen, die nur das eigene Territorium schützen können. Deshalb hat Frankreich ein eigenes Nuklearpotential entwickelt, statt sich auf den Schirm der USA zu verlassen. An diesem Credo hat bislang kein Präsident seit Charles de Gaulle etwas geändert. Allerdings – und das ist die gute Nachricht – verfügt die Nato über zwei europäische Nuklearmächte, Frankreich und Großbritannien, die in allen Nato-Dokumenten als unabhängige Entscheidungszentren bezeichnet werden. Sie stärken in der Nato-Logik die Abschreckung, weil sie das Kalkül für einen Angreifer verkomplizieren. Er müsste nämlich mit drei möglichen nuklearen Reaktionen rechnen.

Die gute Nachricht ist, dass die NATO über zwei europäische Nuklearmächte verfügt, Frankreich und Großbritannien, die in allen Nato-Dokumenten als unabhängige Entscheidungszentren bezeichnet werden. Sie stärken in der Nato-Logik die Abschreckung.

Würden aber diese eher kleinen Arsenale ausreichen, um die große Nuklearmacht Russland abzuschrecken, wenn Washington seinen Nuklearschirm über Europa zuklappt? Keiner weiß es. Allerdings manifestiert sich Abschreckung nicht nur in der Anzahl der Raketen, sondern auch und gerade im Kopf des Angreifers. Könnte sich Putin bei einem möglichen Angriff etwa auf Polen wirklich sicher sein, dass London und Paris nicht nuklear reagieren würden? Verkalkuliert er sich, wäre der Schaden für Russland so gewaltig, dass jeder erhoffte „Nutzen“ des Angriffs weit übertroffen würde. Heißt das, dass der amerikanische Nuklearschutz leicht ausgeglichen werden könnte? Natürlich nicht, aber ohne ihn würde die Abschreckung nicht völlig verschwinden.

Ein Dialog über nukleare Abschreckung

Was sollten also Deutschland und die Europäer tun, um im Trump’schen worst case die eigene Sicherheit weitgehend zu wahren? Erstens sollten sie mit dem fortfahren, was sie mit dem Kriegsbeginn in der Ukraine begonnen haben, nämlich ihre eigene Verteidigungsfähigkeit zu stärken. Hier hat die Bundesregierung mit der Zeitenwende ein wichtiges Zeichen gesetzt. Dennoch ist es geradezu skandalös, dass wohlhabende Nato-Staaten – wie Norwegen und Italien oder Kanada – nach wie vor deutlich unter den geforderten zwei Prozent bleiben.

Deutschland sollte das von Frankreich seit langem gemachte Angebot annehmen, in einen Dialog über nukleare Abschreckung einzutreten. Dies wäre keine Alternative für die Nukleardebatten mit den USA in der Nuklearen Planungsgruppe der Nato, sondern eine Ergänzung. 

Zweitens sollte Deutschland das von Frankreich seit langem gemachte Angebot annehmen, in einen Dialog über nukleare Abschreckung einzutreten. Dies wäre keine Alternative für die Nukleardebatten mit den USA in der Nuklearen Planungsgruppe der Nato, sondern eine Ergänzung. Auch müssten in diesen Dialog unbedingt Großbritannien einbezogen werden und – je nach Interesse – auch andere große EU-Mitglieder. Paris und London führen diesen Dialog schon länger mit dem Ziel, die jeweiligen Strategien und nuklearen Konzepte besser zu verstehen.

Drittens müsste gerade Deutschland das im Kalten Krieg durchaus vorhandene Wissen über die Grundlagen nuklearer Abschreckung wieder reaktivieren. In der Nato wird dies als die „Stärkung des nuklearen IQ“ bezeichnet. Die Anzahl der Professoren in Deutschland, die sich in ihren Seminaren mit Fragen nuklearer Abschreckung befassen, liegt im kleinen einstelligen Bereich. Selbst an der Führungsakademie der Bundeswehr spielen Nuklearfragen nur eine Nebenrolle. Hier herrscht gewaltiger Nachholbedarf. Gelingt es, das Wissen um den Nutzen aber auch die Dilemmas der nuklearen Abschreckung zu verbreitern, kann eine Nukleardebatte geführt werden, die diesen Namen auch verdient.

Bibliografische Angaben

Kamp, Karl-Heinz. “Atomare Heißluft: Deutsche Debatte über Nuklearwaffen.” German Council on Foreign Relations. February 2024.

Dieser Artikel erschien zuerst im Cicero - Magazin für politische Kultur am 16.02.2024.

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