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Jan 06, 2025

Es gilt die Macht des Stärkeren – das Ende der russischen Hegemonie im Südkaukasus lässt unruhige Zeiten anbrechen

Russischer Armeekonvoi in Armenien nach Berg-Karabach Richtung Karawane eines russischen Armeekonvois in der armenischen Provinz Vayots Dzor bewegt sich am 1. Juni 2021 nach Berg-Karabach.
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Wie sehr sich Putin mit der Ukraine verkalkuliert hat, zeigt sich an dem Umstand, dass Moskau in seinem «Hinterhof» des Südkaukasus stetig an Einfluss und Macht verliert. Dabei ist kein Staat in Sicht, der eine neue regionale Ordnung garantieren könnte – auch nicht die Türkei.

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Seit Putin im Februar 2022 seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine gestartet hat, beschleunigt sich der Zerfall russischer imperialer Macht. Insbesondere im Südkaukasus lassen sich das Ende russischer Hegemonie und der Aufstieg Aserbaidschans sowie der Türkei als zentrale Akteure einer neuen regionalen Ordnung beobachten.

Bereits nach dem Sieg Aserbaidschans im zweiten Krieg um die Region Nagorni Karabach 2020 zeigte sich, dass der Kreml nur noch mit Zugeständnissen einen Waffenstillstand aushandeln konnte. Dabei war es Moskau zwar gelungen, «Friedenstruppen» in Nagorni Karabach zum Schutz der armenischen Bevölkerung zu stationieren. Nachdem Aserbaidschan jedoch 2023 die umkämpfte Region vollständig erobert hatte und die Karabach-Armenier hatte vertreiben können, musste Moskau einem vorzeitigen Abzug seiner Truppen zustimmen.

Grenzen der Schutzmacht

Ebenso hat Russland die kampffähigsten Truppen aus seinen Militärbasen im armenischen Gjumri sowie in den von Russland besetzten georgischen Regionen Abchasien und Südossetien in die Ukraine verlagert. Das schwächt Russlands Rolle als sicherheitspolitischer Akteur im Südkaukasus.

Vor allem Armenien, dessen traditionelle Schutzmacht Moskau ist, hat das zu spüren bekommen. Nicht nur war der Kreml nicht bereit, die Armenier in Nagorni Karabach zu schützen, Baku konnte trotz der Stationierung von russischen Grenztruppen gar wichtige strategische Punkte auf armenischem Staatsterritorium an der gemeinsamen Grenze erobern.

Selbst ein geschwächtes Russland bleibt ein einflussreicher Akteur im Südkaukasus.

Laut einer Umfrage des International Republican Institute von 2023 sank die Zahl der Armenier, die der Aussage zustimmen, dass ihr Land gute Beziehungen zu Russland habe, seit 2019 von 93 auf 31 Prozent. 2024 mussten russische Grenzbeamte den Flughafen in Erewan verlassen und auch die armenische Grenze zu Aserbaidschan und Iran. Dafür hat die EU eine zivile Beobachtermission an der Grenze zu Aserbaidschan stationiert und ist damit erstmals mit bis zu 200 Beobachtern dauerhaft vor Ort.

Russische Firmen waren seit dem Ende der Sowjetunion der mit Abstand wichtigste Waffenlieferant Armeniens mit einem Anteil von über 90 Prozent. Inzwischen braucht Russland nicht nur alle Waffen, die es produziert, selber in der Ukraine, es muss zudem in Nordkorea und Iran Munition, Raketen und Drohnen kaufen. Damit hat Indien Russland als wichtigsten Waffenlieferanten abgelöst.

Ebenso hat der armenische Ministerpräsident Nikol Paschinjan die Beziehungen zum von Russland geführten Sicherheitsbündnis OVKS eingefroren und droht, wegen dessen Untätigkeit die Organisation zu verlassen. Der Kreml ist inzwischen nicht mehr massgeblich in Verhandlungen über einen Friedensvertrag zwischen Baku und Erewan eingebunden, was vor einigen Jahren undenkbar gewesen wäre.

Neu definierte Interessen

Dabei haben sich mit dem Krieg gegen die Ukraine die Interessen des Kremls gegenüber dem Südkaukasus verändert. Aufgrund westlicher Sanktionen braucht das Land alternative Handelsrouten zu neuen Märkten. Iran ist ein wichtiger Partner Russlands im Krieg gegen die Ukraine geworden, vor allem mit der Lieferung von Drohnen. Deshalb ist für Moskau der Nord-Süd-Korridor über den Südkaukasus so wichtig. Dieser führt weiter über iranisches Territorium nach Indien, einem weiteren wichtigen Handelspartner Moskaus. Hinzu kommt, dass die Staaten des Südkaukasus – allen voran Georgien und Armenien – sowie die Türkei der Umgehung von Sanktionen dienen.

Der Handel zwischen Russland und Armenien hat sich zwischen 2021 und 2023 verdreifacht. Georgien wiederum hat seinen Handel mit Ländern der von Russland dominierten Eurasischen Wirtschaftsunion massiv ausgebaut: 2023 mit Kirgistan um 640 Prozent und mit Kasachstan um 200 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Beide Staaten exportieren diese Waren laut unabhängigen Recherchen weiter nach Russland – ein lukratives Umgehungsgeschäft.

Aserbaidschan ist zu einem Schlüsselstaat im Südkaukasus geworden. Als turksprachiges Land steht es kulturell und politisch der Türkei sehr nahe. Ankara hat im Rahmen von Nato-Trainings geholfen, sowohl die aserbaidschanische als auch die georgische Armee zu modernisieren. Es hat durch Drohnen, Luftunterstützung und Aufklärung massgeblich zum Sieg Aserbaidschans im zweiten Nagorni-Karabach-Krieg beigetragen.

Armenien hatte mit seinen veralteten russischen Waffen keine Chance gegen die modern ausgerüstete aserbaidschanische Armee. Baku diktiert aufgrund seiner militärischen Überlegenheit de facto die Regeln für ein Friedensabkommen mit Armenien. Putins zweitägige Reise nach Aserbaidschan im August hat die gewachsene strategische und ökonomische Bedeutung Aserbaidschans aufgezeigt. Russland exportiert inzwischen mehr Gas in das rohstoffreiche Land, damit dieses sein Erdgas weiter in die EU exportieren kann . . .

Auch Iran ist inzwischen aktiver im Südkaukasus, da Moskau die regionale Stabilität nicht mehr zu garantieren vermag und sein Rivale Türkei an Einfluss gewinnt. Solange Russland als regionaler Hegemon westlichen Einfluss im Südkaukasus eindämmen konnte, brauchte Iran nicht tätig zu werden. Das hat sich inzwischen geändert, vor allem durch eine engere Kooperation der Islamischen Republik mit Armenien und eine vorsichtige Annäherung an Georgien.

So hat Teheran im südarmenischen Kapan ein Konsulat eröffnet und der armenischen Führung angeboten, Truppen auf Armeniens Territorium zu stationieren, um aserbaidschanische Angriffe abzuschrecken. Dies hat Erewan aufgrund seiner Annäherung an die EU und die USA abgelehnt, aber es verdeutlicht, dass Iran nicht mehr davon ausgeht, dass Moskau mögliche Angriffe auf armenisches Territorium verhindern kann.

Die iranische Führung wendet sich vehement gegen den von Aserbaidschan geforderten extraterritorialen Korridor in seine Exklave Nachitschewan über armenisches Territorium direkt an der Grenze zu Iran. Russland unterstützt diesen Korridor unter der Bedingung, dort eigene Grenztruppen zur Überwachung zu stationieren. Für Iran würde damit der aserbaidschanisch-türkische Einfluss an seiner nördlichen Grenze wachsen. Israel, ein wichtiger Waffenlieferant Bakus, nutzt für Operationen auf iranischem Gebiet bereits aserbaidschanisches Territorium.

Noch mehr Instabilität

All diese Entwicklungen zeigen, dass mit dem Ende russischer Hegemonie im Südkaukasus andere Staaten an Einfluss in der Region gewinnen, mit denen Moskau Kompromisse machen muss. Auch China und die EU haben ihre Aktivitäten in der Region ausgebaut. Die beiden teilen das Interesse an einem alternativen Transitkorridor über den Südkaukasus, zwischen Schwarzem Meer und Zentralasien.

China hat den Zuschlag für den Bau des georgischen Schwarzmeerhafens in Anaklia bekommen. Es ist massgeblich am Ausbau des mittleren Korridors über den Südkaukasus beteiligt, der eine begrenzte Alternative für die nördliche Transitroute über russisches Territorium bietet. Die EU hat, nachdem die OSZE-Minsk-Gruppe für Verhandlungen zu Nagorni Karabach ihre Glaubwürdigkeit verloren hatte, für eine gewisse Zeit die wesentliche Plattform für Verhandlungen zwischen Armenien und Aserbaidschan zur Verfügung gestellt.

Im Kontext des Krieges gegen die Ukraine hat Brüssel neben der Ukraine und der Moldau auch Georgien einen Beitritt angeboten. Mit der Distanzierung Armeniens von Moskau hat Brüssel die Sicherheitskooperation mit Erewan ausgebaut, die Wirtschaftshilfen aufgestockt sowie Visaverhandlungen mit dem Land eröffnet.

Trotzdem bleibt ein geschwächtes Russland ein einflussreicher Akteur im Südkaukasus. Russische Unternehmen besitzen fast die gesamte strategische Infrastruktur in Armenien wie Gas- und Elektrizitätsnetze, Telekommunikation sowie die armenische Eisenbahn. Russland ist der wichtigste Gaslieferant des Landes und betreibt den wichtigsten Stromproduzenten, das Kernkraftwerk Mezamor.

In Georgien ist zurzeit eine Abwendung der Regierungspartei Georgischer Traum und ihres Gründers, des Milliardärs Bidsina Iwanischwili, von der EU zu beobachten. Iwanischwili befürchtet mit der EU-Integration einen Machtverlust, da sich seine Partei dann kompetitiven Wahlen stellen muss und er durch Stärkung der Rechtsstaatlichkeit Einfluss über das Verfassungsgericht verlieren würde. Mit der Einführung eines Gesetzes zur Kontrolle ausländischer Finanzierung von Nichtregierungsorganisationen sowie einem restriktiven LGBTQ-Gesetz kopiert der Georgische Traum die russische Gesetzgebung. Da Moskau Truppen in Abchasien und Südossetien stationiert hat, stellt der mächtige Nachbar immer eine militärische Gefahr für Georgien dar.

Solange die EU keine Sicherheitsgarantien für die Länder des Südkaukasus geben kann, werden diese immer bemüht sein müssen, sich gegenüber den regionalen Mächten und damit auch Russland abzusichern. Die russische Hegemonie im Südkaukasus geht zu Ende, doch ist kein anderer Staat, auch nicht die Türkei, in der Lage, eine neue regionale Ordnung zu garantieren. Das führt zu Instabilität, zur Macht des Stärkeren und zu Arrangements vor allem zwischen autoritären Staaten. In dieser Weise übt Russland, trotz begrenzten Ressourcen, weiterhin Einfluss auf die Region aus.

Bibliographic data

Meister, Stefan. “Es gilt die Macht des Stärkeren – das Ende der russischen Hegemonie im Südkaukasus lässt unruhige Zeiten anbrechen.” German Council on Foreign Relations. January 2025.

Diser Artikel wurde am 24.12.2024 in der NZZ veröffentlicht.

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