Ein Jahr nach Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine zeigt sich, dass sich nicht nur Russland verkalkuliert hat, mit Blick auf die Widerstandsfähigkeit der Ukraine und den Umfang westlicher Sanktionen und Waffenlieferungen, sondern auch dass die Hoffnungen auf ein baldiges Ende des Krieges unrealistisch sind.
Trotz massiver Verluste auf russischer Seite von bis zu 200.000 verletzten und getöteten Soldaten hat Wladimir Putin sein Ziel, die Ukraine als Staat und Gesellschaft zu zerstören und das russische Imperium mit Gewalt zusammenzuhalten, nicht aufgegeben. Westliche Sanktionen haben nicht die Wirkung erzielt, wie erhofft, der Rückgang des russischen Bruttoinlandsprodukts betrug „nur“ etwas mehr als drei Prozent.
Der Krieg beschleunigt den Zerfall des russischen Imperiums
Dabei hat der Kreml durch die Invasion eher das Gegenteil von dem erreicht, was er wollte: Er hat die Ukraine verloren und trägt mit diesem Krieg zu einer weiteren Konsolidierung des ukrainischen Staates und seiner Identität gegen Russland bei. Der Krieg beschleunigt den Zerfall des russischen Imperiums. Russland fehlen zukünftig die militärischen und wirtschaftlichen Ressourcen, um autoritäre Stabilität in seiner Nachbarschaft zu garantieren.
Der Krieg hat die USA nach Europa zurückgebracht, die eigentlich das Ziel verfolgt hatten, sich auf den Großmachtkonflikt mit China zu konzentrieren. Er gibt der Nato wieder eine Schlüsselrolle für die europäische Sicherheit. Wir sehen jetzt sogar eine Nato-Norderweiterung um Finnland und Schweden. Russland hat den sogenannten Westen wiederbelebt, der das umfassende Sanktionspaket gegen einen großen Staat wie Russland seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs aufgelegt hat.
Diese Sanktionen werden, je länger sie andauern, die russische Wirtschaft nachhaltig schwächen. Schließlich koppeln sich die EU-Mitgliedstaaten von russischem Öl und Gas ab, was Russlands Geschäftsmodell in Frage stellt.
Putins Regime wirkt aktuell eher konsolidiert und er wird ohne Problem die Wahlen 2024 gewinnen
Dieser Krieg hat auch Russland verändert: Das Land ist autoritärer, tendenziell totalitärer geworden, mit Repressionen gegen die Zivilgesellschaft, jegliche Opposition und der Schließung aller unabhängigen Medien. Mit der teilweisen Mobilisierung in Russland von bisher 300.000 Soldaten wird die gesamte Gesellschaft in diesen Krieg gezogen. Die Armee plant, in diesem Jahr über eine Millionen Russen zu mobilisieren.
Interne Repressionen haben eine Log-in Funktion für die russische Gesellschaft und Elite: Niemand aus der obersten Entscheidungsebene darf das Land verlassen und passt sich an. Auch wenn bis zu einer Millionen Russen das Land verlassen haben, unterstützt die Gesellschaft in einer großen Mehrheit die neue Realität, aus Angst vor Repressionen, aber auch aus Anpassung und Patriotismus.
Putins Rolle in der russischen Politik ist eher gewachsen, es gibt keine konkurrierenden Interessengruppen oder Herausforderer mehr, er entscheidet in einem immer kleineren Kreis. Jeder im System kann Opfer von Repression werden, sollte er nicht loyal sein. Die Degradierung von Staat und Gesellschaft wird es dem Regime leichter machen, an der Macht zu bleiben und unter schwierigen Bedingungen zu überleben.
Prigoschin oder Kadyrow sind Medienfiguren, aber keine entscheidenden politischen Akteure
Putins Regime wirkt aktuell eher konsolidiert und er wird ohne Problem die Wahlen 2024 gewinnen, sollte Russland den Krieg nicht verlieren. Personen wie der Chef der Gruppe Wagner Prigoschin oder der tschetschenische Präsident Kadyrow sind Medienfiguren, aber keine entscheidenden politischen Akteure.
Russland ist in der Lage, weitere Waffen und Munition rund um die Uhr zu produzieren, das System hat genug finanzielle Ressourcen um zwei bis drei Jahre gut zu überleben. Dabei hilft ihm, dass nur etwa 30 Staaten weltweit die westlichen Sanktionen unterstützen und es inzwischen Umgehungsregime für den Import von Waren über die Türkei, den Nahen Osten und Zentralasien gibt.
Das Kalkül Putins ist, dass die westlichen Gesellschaften weniger resilient sind als die russische, er spielt auf Zeit und erwartet, dass der Druck im Westen wächst, um Frieden zu schließen und die Ukrainer unter Druck gesetzt werden. Für ihn macht es nur Sinn zu verhandeln, wenn er Zeit gewinnt.
Der Abnutzungskrieg wird sich im Frühsommer festfahren
Russland hat bereits die seit Wochen diskutierte Offensive begonnen und es ist davon auszugehen, dass sie sechs bis acht Wochen anhalten wird. Die russische Taktik hat sich geändert, es wird nicht mehr auf breiter Front angegriffen, sondern gezielt an strategisch wichtigen Punkten werden Truppen konzentriert. Trotzdem scheinen der russischen Armee Soldaten und Waffen zu fehlen, um größere Geländegewinne zu machen. Es ist davon auszugehen, dass die Ukraine eine Gegenoffensive im April oder Mai plant, einem Zeitpunkt, wo sie mit neuen Waffen und im Westen ausgebildeten Truppen rechnet.
Aber auch von dieser Offensive ist nicht zu erwarten, dass sie zu großen Geländegewinnen führen wird, da ihr Panzer, Munition und Truppen in ausreichender Zahl fehlen werden. Deshalb wird sich dieser Abnutzungskrieg im Frühsommer festfahren und es ist davon auszugehen, dass es dann kaum noch Geländegewinne geben wird.
Nur eine Niederlage Russlands wird zu Veränderung führen
Es ist davon auszugehen, dass Moskau dann signalisiert, dass es unter bestimmten Umständen an Waffenstillstandsverhandlungen interessiert ist, unter der Bedingung, dass die eroberten Gebiete von westlicher Seite anerkannt werden. Aber alle Indikatoren in Russland weisen darauf hin, dass es auf einen langen Krieg zielt.
Neben der weiteren Mobilisierung und der Umstellung auf Kriegswirtschaft ist es vor allem die Verschiebung des Narrativ der russischen Propaganda, dass Russland jetzt nicht mehr gegen „Faschisten“ in der Ukraine kämpfe, sondern gegen die vereinte Nato, deren Stellvertreter aus Sicht des Kremls die Ukraine ist. Allen, die zurzeit Friedensappelle äußern, sollte klar sein, dass Moskau kein Interesse an Frieden hat, sondern alles darauf vorbereitet, einen langen Krieg auf Sieg zu führen.
Nur eine Niederlage Russlands wird zu Veränderung führen. Jedoch unterstützen westliche Staaten die Ukraine nicht ausreichend, dass sie diesen Krieg gewinnen kann. Die USA und die großen EU-Staaten wie Deutschland versuchen eine größere Eskalation durch begrenzte Waffenlieferungen zu vermeiden. Dabei wird sich die Politik von Bundeskanzler Olaf Scholz nicht verändern: Er agiert vorsichtig und nur im Tandem mit den USA.
Dabei hat er sein Ziel im Blick, dass die Ukraine diesen Krieg nicht verlieren, aber auch nicht unbedingt gewinnen soll. Dieser Krieg kann noch Jahre dauern und der Schwachpunkt werden die westliche Politik und Gesellschaften sein. Der Druck für Frieden und Kompromisse wird wachsen und die Unterstützung für die Ukraine sinken. Genau darauf spekuliert Wladimir Putin.