Russlands Krieg gegen die Ukraine beschleunigt die endgültige Auflösung des russischen Imperiums und markiert damit das eigentliche Ende der Sowjetunion. Wladimir Putin sucht mit Waffengewalt zu verhindern, dass die Ukraine den russischen Einflussbereich verlässt. Damit sendet er ein fatales Signal an alle postsowjetischen Staaten ringsum: Wer sich Russland nicht unterordnet, wird mit Gewalt dazu gezwungen und kann seine staatliche Souveränität verlieren.
Weder haben die postsowjetischen Eliten in der Nachbarschaft zu Russland ein Interesse daran, ihre Staatlichkeit aufzugeben, noch möchten diese Gesellschaften in einer totalitären Sowjetunion 2.0 leben. Dabei ist Russland unter Putin weder wirtschaftlich noch durch Soft Power in der Lage, die Länder der Region in seinem Einflussbereich zu halten. Ihm ist als einziges Instrument die militärische Macht geblieben, aber selbst diese steht auf tönernen Füssen. Als Konsequenz aus dem brutalen Krieg gegen die Ukraine teilen alle postsowjetischen Staaten das Interesse, Russlands Einflussbereich so bald wie möglich zu verlassen. Putins Russland ist kein Garant von autoritärer Stabilität mehr, sondern ein revisionistischer Gewaltakteur ohne Grenzen.
Putins Angst vor der Modernisierung
Gleichzeitig zerstört Putin das Vermächtnis von Michail Gorbatschow, der nach dem Scheitern seiner Reformpolitik mit Glasnost und Perestroika eine relativ friedliche Auflösung der Sowjetunion ermöglichte. Sein Nachfolger Boris Jelzin war zu schwach, um Russland wirklich zu demokratisieren. Auch der Westen versäumte es, Russland Anfang der neunziger Jahre in ein gemeinsames Europa aufzunehmen und in die transatlantischen Sicherheitsstrukturen zu integrieren. Putin hätte in die Geschichte eingehen können als Präsident, der den Zerfall Russlands verhindert und das Land modernisiert hat.
Das Signal für die postsowjetischen Staaten war: Akzeptiert ihr die russische Hegemonie nicht, wird euch das Gleiche passieren wie der Ukraine.
Jedoch war eine gesellschaftliche und ökonomische Modernisierung für den Erhalt der Macht des Systems Putin zu gefährlich, weshalb er spätestens mit seiner dritten Amtszeit ab 2012 auf Repression nach innen und Aggression nach aussen setzte. Putins Fixierung auf die Nato und die USA als die grössten Feinde Russlands entsprachen eher seinen ideologischen Vorstellungen als ehemaliger Offizier des sowjetischen Geheimdienstes als der Realität westlicher Politik in Europa. Jedoch haben die USA mit ihrer Politik des Regime-Changes im Nahen Osten nach 9/11 die Angst Putins geschürt, dass ihm ein ähnliches Schicksal wie Muammar al-Ghadhafi in Libyen und Saddam Hussein im Irak bevorstehen könnte.
Russland definiert sich als Grossmacht über seine Rolle als Regionalmacht im postsowjetischen Raum. Verliert es seinen Einfluss über den eurasischen Kontinent, kann es in der multipolaren Welt kein eigenständiger Pol mehr werden. Stattdessen wird es durch seine technologische Rückständigkeit immer mehr zu einem Anhängsel Europas oder Chinas. Indem Russland die postsowjetischen Konflikte managte, war es aus Sicht der europäischen Staaten ein Stabilisator in ihrer östlichen Nachbarschaft.
Die Ukraine als Schlüsselstaat
Die Annexion der Krim und der Krieg in der Ukraine markieren ein Ende dieser Politik. Putin zeigt sich nun bereit, mit militärischer Gewalt einen Nachbarstaat zu annektieren, um nicht weiter an Einfluss zu verlieren. Es wird hier jedoch evident, wie wenig er die Ukraine grundsätzlich versteht. Es waren eben nicht die USA oder die EU, die den Euromaidan 2013/14 initiierten, sondern es war die ukrainische Gesellschaft, die sich von ihrem sowjetischen Erbe und dem russischen Kolonialismus emanzipieren und in einem freien Land leben wollte. Putins Angst vor einer Demokratisierung des wichtigsten postsowjetischen Nachbarlands war eine wichtige Motivation, um ab 2014 Krieg gegen die Ukraine zu führen. Das Signal für die übrigen postsowjetischen Staaten sollte sein: Akzeptiert ihr die russische Hegemonie nicht, wird euch das Gleiche passieren wie der Ukraine.
Die Ukraine ist ein Schlüsselstaat für Russland, da sie bevölkerungsmässig, historisch und geografisch zentral für die Grösse und Sicherheit Russlands ist. «Ohne die Ukraine hört Russland auf, ein eurasisches Imperium zu sein», schrieb der US-Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski 1997. Für Putin hat die Ukraine kein Recht, ein eigener Staat, eine eigene Gesellschaft und eine eigene Kultur zu sein – für ihn «ist die Ukraine Russland».
Mit diesem Ansatz reiht sich Putin in die lange kolonialistische Tradition des russischen Imperiums ein, die den Nachbarstaaten das Existenzrecht abspricht. Indem die russischen Besatzer in den annektierten Gebieten im Osten und im Süden der Ukraine als erste Massnahmen Bildung und Umerziehung russifizieren, wollen sie alles Ukrainische auslöschen.
Diese Usurpation ist der Versuch, das russische Imperium mit anderen Mitteln wieder herzustellen. Putins Pläne beschränken sich keineswegs nur auf den Donbass, er will die gesamte Ukraine und auch weitere Staaten des postsowjetischen Raumes «wieder eingliedern». Das betrifft die Republik Moldau ebenso wie die georgischen Gebiete Abchasien und Südossetien. Dabei könnte der mit Weissrussland geplante Unionsstaat auch dazu dienen, Länder wie Armenien oder Kasachstan stärker mit Russland zu verschmelzen.
Putins Ambitionen und Russlands militärische und ökonomische Fähigkeiten weisen jedoch massive Defizite auf. Russland ist zwar als Erbe der Sowjetunion nach wie vor eine globale Nuklearmacht, aber konventionell stellt es eine Regionalmacht dar. Die technologische Basis der russischen Waffenindustrie ist weiterhin sowjetisch, alle modernen Waffensysteme aber basieren auf westlicher Technologie und befinden sich zum Teil erst im Stadium von Prototypen. Je mehr die Ukraine mit modernen westlichen Waffen ausgerüstet wird, desto weniger kann die russische Armee dem etwas entgegensetzen. Deshalb war es unumgänglich, dass Putin nach der Niederlage seiner Truppen vor Charkiw eine erste Teilmobilisierung ankündigte. Wie im Zarenreich sind es die Menschen, die in den Krieg geschickt werden, um als Kanonenfutter den Kampf zu gewinnen.
Putin will Macht demonstrieren. Dabei ist Russland auch immer weniger in der Lage, autoritäre Stabilität im Südkaukasus und in Zentralasien zu garantieren. Noch 2020 vermochte der Kreml im zweiten Krieg um Nagorni Karabach zwischen Armenien und Aserbaidschan einen Waffenstillstand auszuhandeln und diesen mit eigenen «Friedenstruppen» zu stützen. Davon kann bei dem kürzlich erfolgten Angriff Aserbaidschans auf Armenien mit rund 300 Toten keine Rede mehr sein. Aserbaidschan vermochte mit türkischer Unterstützung den Krieg von 2020 für sich zu entscheiden, jetzt testet es militärisch aus, wie weit es in Bezug auf Russlands Duldsamkeit gehen kann.
Des Kremls neue Schwäche
Moskau galt bisher als Verbündeter Armeniens. Mittlerweile aber hat es seine besten Truppen in der «Friedensmission» durch Wehrpflichtige ersetzt, diese werden in der Ukraine benötigt. Gleiches gilt für russische Soldaten in den abtrünnigen georgischen Regionen Abchasien und Südossetien. Aserbaidschan nutzt die neue russische Schwäche, um militärisch einen «Friedensvertrag» mit Armenien sowie einen Korridor in seine Enklave Nachitschewan über armenisches Territorium durchzusetzen. Indem der Kreml dies nicht straft, offenbart er seine Hilflosigkeit. Dasselbe zeigt sich beim Grenzkonflikt zwischen Tadschikistan und Kirgistan in Zentralasien. Mitte September war Russland nicht bereit oder in der Lage, zu vermitteln oder gar einzugreifen.
In beiden Konflikten geht es auch um Grenzen, die nach dem Ende der Sowjetunion vertraglich nicht festgelegt wurden. Ethnische und Grenzkonflikte waren die wichtigsten Auslöser für Gewalt beim Zerfall der Sowjetunion. Diese Konflikte gaben Moskau später die Möglichkeit, zu vermitteln und eigene Truppen zu stationieren. Bisher war Russland durch seine militärische Übermacht in der Lage, weitere Eskalationen zu verhindern.
Je stärker die russische Politik und die russische Armee in der Ukraine gebunden sind, desto weniger Aufmerksamkeit wird der Kreml den Konflikten im postsowjetischen Raum widmen können. Dies wird dazu führen, dass China in Zentralasien, die Türkei im Südkaukasus und die EU in Osteuropa zu einem zentralen Akteur wird. Zu beobachten sind eine Desintegration des postsowjetischen Raumes sowie die Entstehung regionaler Ordnungen, in denen Russland immer weniger dominiert.
Die russische Aggression gegen die Ukraine hat die Emanzipation und die Konsolidierung postsowjetischer Staaten und Gesellschaften in hohem Masse verstärkt. Nun kommt das Nation-Building der letzten dreissig Jahre zu einem Ende. Putins Russland ist auch für die Staaten in der südlichen und der östlichen Nachbarschaft kein attraktives Gesellschafts- und Politikmodell mehr.
Paradoxerweise beschleunigt Putin die Nationswerdung der Ukraine mit seinem Krieg noch zusätzlich, dermassen innerlich geeint war die ukrainische Gesellschaft noch niemals zuvor. Selbst das bis dato russlandfreundliche Weissrussland hat sich mit der Wahl von 2020, um welche die Menschen betrogen wurden, von Russland gelöst. Es ist kein Zufall, dass Putin den «befreundeten» Langzeitdiktator Alexander Lukaschenko mit allen Mitteln an der Macht zu halten sucht. De facto schwindet der russische Einfluss. Aber auch hier gilt, dass Gewalt und Repression einen politischen Wandel nur zeitweise aufzuhalten vermögen. Ihnen liegt kein nachhaltiges politisches Konzept zugrunde. Dies gilt wohlgemerkt auch für Russland selbst.