Policy Brief

Nov 28, 2019

Extremismus bekämpfen, Demokratie schützen 

Prävention von gewaltbereitem Extremismus in der EU

Freiheitliche Demokratien sind fragil und von innen leicht angreifbar. Polarisierung, Radikalisierung und Terrorismus sind eng verwoben und die Digitalisierung gibt der politischen Gewalt eine weitere Dimension. Rückkehrer aus Syrien und dem Irak stellen eine neue Herausforderung dar. Wie groß die Sorge ist, Rückkehrer könnten in Europa Anschläge verüben, wird auch an der Diskussion über die IS-Anhänger deutscher Staatsbürgerschaft deutlich, die derzeit von der Türkei nach Deutschland abgeschoben werden. 

 

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Kernpunkte:
  • Extremismus und Terrorismus sind grenzüberschreitende Phänomene. Deswegen müssen die EU-Staaten ihre Gegenstrategien gemeinsam organisieren. Die EU sollte ihre Kooperation bei der Bekämpfung und Prävention von gewaltbereitem Extremismus (P/CVE) effizienter und transparenter gestalten. 
  • Vier Herausforderungen sind zentral: Die weitere Polarisierung der Gesellschaft vermeiden; Radikalisierung verhindern; der Digitalisierung Rechnung tragen und einen angemessenen Umgang mit Rückkehrenden aus Syrien und Irak finden.
  • Deutschland sollte beim Aufbau des neuen EU-Kooperationsmechanismus eine führende Rolle spielen. Wichtig ist die Zusammenarbeit von Staat und Zivilgesellschaft. Programme sollten im hyper-lokalen Kontext entwickelt und implementiert werden.

Extremisten wollen die freiheitlich-demokratischen Staats- und Gesellschaftsordnungen in der Europäischen Union (EU) durch ihre Utopien ersetzen: Anhänger des „Islamischen Staates“ fordern beispielsweise ein Kalifat, Rechtsextremisten wollen einen Führerstaat errichten. Legalistische Extremisten wie die Identitäre Bewegung oder die Muslimbruderschaft agieren zumindest auf einer strategischen Ebene meist gewaltfrei. Verfassungsfeindliche Organisationen sind jedoch, ganzheitlich betrachtet, Teil des Phänomens „gewaltbereiter Extremismus“. 

Politische Gewalt in Form von Terrorismus ist in der EU kein neues Phänomen und tritt, wenn man die jährliche Anzahl der Anschläge und Todesopfer anschaut, in Wellenbewegungen auf. Laut EUROPOL wurden zwischen 2010 und 2018 in der Europäischen Union 1.689 terroristische Anschläge geplant, von denen allerdings die überwiegende Zahl scheiterte oder vereitelt werden konnte. Im Jahr 2018 gab es 13 Todesopfer in Trèbes, Paris, Lüttich und Straßburg. Linksextremistischer bzw. anarchistischer Terrorismus ist maßgeblich auf Spanien, Italien und Griechenland fokussiert; 19 Anschläge bzw. Anschlagsversuche gab es in 2018 in diesen Ländern. 

Die Anzahl der erfolgreichen Anschläge und der Todesopfer ist in den letzten Jahren signifikant gesunken

Insgesamt jedoch ist die Anzahl der erfolgreichen Anschläge und der Todesopfer in den letzten Jahren signifikant gesunken, was in erster Linie auf den operativen Niedergang des „Islamischen Staates“ in Syrien und Irak zurückzuführen ist. Die EU sollte diese Situation nutzen, um die Zusammenarbeit bei der Bekämpfung und Prävention von gewaltbereitem Extremismus (P/CVE) neu zu strukturieren und nachhaltig zu stärken. 

Dabei geht es um zwei Herausforderungen: einerseits um die Querschnittsaufgabe, die P/CVE- Strategien und -Maßnahmen innerhalb der EU zu koordinieren, und anderseits um die Identifizierung der künftig relevanten Themen.

Ein EU-Kooperations­mechanismus

Da sich Extremisten über die Grenzen des Nationalstaates hinweg organisieren, stellt ihre Bekämpfung eine Herausforderung für die EU als Ganzes dar. Diese Erkenntnis hat in den letzten Jahren zu engerer Kooperation und einem intensiveren Erfahrungsaustausch unter den Mitgliedstaaten geführt. Trotzdem stößt die Zusammenarbeit bei der Bekämpfung und Prävention des gewaltbereiten Extremismus (P/CVE) noch auf vielerlei Hürden. Da die Trends und Entwicklungen im Themen- und Handlungsfeld sehr dynamisch und vielfältig sind, gestaltet sich der Wissensaustausch zwischen Praxis, Wissenschaft und Politik schwierig. Außerdem haben nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch die Akteure auf Kommunal-, Regional-, und Landesebene unterschiedliche Ansätze, Zielvorstellungen und Arbeitskontexte. 

Abbildung 1: EU-Kooperationsmechanismus zur Prävention und Bekämpfung von Terrorismus

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Abbildung 1: EU-Kooperationsmechanismus zur Prävention und Bekämpfung von Terrorismus
License
Attribution-NonCommercial-ShareAlike CC BY-NC-SA
Quelle: High-Level Commission Expert Group on Radicalisation (HLCEG-R), Final Report, 18.05.2019, S.15, https://ec.europa.eu/home-affairs/sites/homeaffairs/files/whatwe-do/policies/european-agenda-security/20180613_final-report-radicalisation.pdf (abgerufen am 8.11.2019).

Mit der Arbeitsgruppe High-Level Commission Expert Group on Radicalisation haben die Europäische Kommission und die Mitgliedstaaten im Mai 2018 Vorschläge für eine verbesserte strukturierte Koordination der P/CVE-Arbeit vorgelegt (siehe Abbildung S. 3). Bei diesem Prozess spielten Deutschland und Frankreich als Initiatoren eine aktive Rolle.

Es gibt kein einheitliches Persönlichkeitsprofil von Extremisten

Die Arbeitsgruppe stellte mehrere Vorschläge für eine effizientere und transparentere P/CVE-Arbeit der EU vor. Durch neue Strukturen sollten Dopplungen vermieden, Mitgliedstaaten enger eingebunden sowie Wissenschaft und Praxis besser vernetzt werden. Die Vorschläge werden voraussichtlich bis 2020 umgesetzt. 

Relevante Themen

Um die Wirksamkeit dieser neuen Struktur sowie der europäischen P/CVE-Strategien und Strukturen insgesamt zu erhöhen, sollte vorrangig an Lösungen für die folgenden vier strategischen Herausforderung gearbeitet werden:

Herausforderung #1: Polarisierung

Extremismus – insbesondere terroristische Gewalt – ist die extremste Form der politischen Kommunikation. Er funktioniert auf einer strategischen Ebene dann, wenn es Zuschauer gibt und diese ihrerseits extrem reagieren. Provokation, Eskalation und das Schüren der „Angst vor dem Nachbarn“ sollen die Gesellschaft polarisieren, einzelne Gruppen stigmatisieren und Regierungen zur Überreaktion provozieren. Entscheidend ist daher, wie Staat, Medien und Gesellschaft auf Extremismus und Terrorismus reagieren: Sie können den Extremisten in die Hände spielen, indem sie ihr Ziel der gesellschaftlichen Spaltung befördern. Oder sie lassen die Strategie der Extremisten ins Leere laufen, indem sie den Zusammenhalt einer pluralistischen Gesellschaft gegen Hetze und Gewalt betonen. 

Herausforderung #2: Radikalisierung

Große Teile der Forschung legen den Schluss nahe, dass es kein einheitliches Persönlichkeitsprofil von Extremisten gibt. Weder psychologische Faktoren, noch (fehlende) Bildungsabschlüsse oder sozio-ökonomische Faktoren lassen Rückschlüsse auf Radikalisierungspotentiale zu. Generell gilt, dass fast alle Mitglieder einer „Risikogruppe“ den Angeboten von Extremisten widerstehen. Die Radikalisierungsverläufe sind individuell. Generalisierende Präventions- oder Deradikalisierungskonzepte erweisen sich daher als strittig. Hinzu kommt, dass es auch an Erkenntnissen fehlt, wie Resilienz gegen extremistische Propaganda und Rekrutierung wirksamer gefördert werden kann.

Herausforderung #3: Digitalisierung

Extremisten nutzen die sozialen Medien zur Rekrutierung und zur Verbreitung von Propaganda. Die Entfernung illegaler Inhalte aus dem Internet wurde auf Druck von Regierungen und Zivilgesellschaft zwar verbessert, ist aber weiterhin ungenügend. Einige soziale Online-Medien scheinen zudem bestimmte psychologische Effekte (Heuristiken) zu verstärken, die ohnehin schon existierende Tendenzen zu gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit vertiefen können. Insbesondere bei den „digital natives“ verschwimmt die Grenze zwischen Online- und Offline-Welt. Die bisherigen P/CVE-Strategien gehen auf dieses Phänomen kaum ein. 

Herausforderung #4: Rückkehrer

Niedrige Schätzungen gehen von etwa 430 europäischen IS-Angehörigen aus, die noch in Syrien festgehalten werden, zusammen mit etwa 700 Kindern. Nach Deutschland sind bisher etwa 300 Personen, also etwa ein Drittel der ursprünglich ausgereisten Personen, zurückgekehrt. Dies stellt Deutschland und andere EU-Mitgliedstaaten vor neue Herausforderungen, wenn es um verlässliche Risikoeinschätzungen, die strafrechtliche Verfolgung und die Resozialisierung von Rückkehrern aus Syrien und dem Irak geht. Oft fehlt es an Informationen über die Motivation zur Ausreise ins Kriegsgebiet, über das Verhalten vor Ort und über den Grund zur Rückkehr. Für den Umgang mit traumatisierten Rückkehrern und potenziell radikalisierten Frauen und Kindern aus Kriegsgebieten gibt es keine bewährten Praktiken. 

Empfehlungen für die Bundesregierung

Eine wirksame P/CVE-Strategie ist für die Entwicklung einer europäischen Sicherheitsordnung bis zum Jahr 2025 zentral. Sie muss auf einem effektiven Kooperationsmechanismus basieren, damit die vielzähligen P/CVE-Akteure voneinander lernen (bewährte Praktiken) und in ihrem lokalen Kontext koordiniert auf diese thematischen Herausforderungen reagieren können.  Deutschland sollte in diesem Prozess auch weiterhin eine führende Rolle spielen und sich dafür einsetzen, dass beim Aufbau eines EU-Kooperationsmechanismus folgende Ansätze integriert werden:

Bekämpfung und Prävention von gewaltbereitem Extremismus ist eine gesamtgesellschaftliche, lokale und internationale Aufgabe

Empfehlung #1: Do no harm!

P/CVE-Arbeit darf nicht zur gesellschaftlichen Polarisierung und Stigmatisierung bestimmter Gruppen beitragen. Um dieses Risiko zu reduzieren, sollte P/CVE nicht „versicherheitlicht“ werden. Es empfiehlt sich ein Graswurzel-Ansatz: P/CVE-Programme sollten in der Regel im jeweiligen hyper-lokalen Kontext und mit lokalen Partnern entwickelt und implementiert werden, um den politischen, sozialen und kulturellen Besonderheiten vor Ort Rechnung zu tragen. 

Empfehlung#2: Lernende Netzwerke etablieren

Um besser zu verstehen, wie gewaltbereiter Extremismus wirksam verhindert oder bekämpft werden kann, ist ein enger Austausch zwischen Praxis, Wissenschaft und Forschung sowie zwischen staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren nötig. Lokale, nationalstaatliche und europäische P/CVE-Netzwerke sollen sich noch intensiver über bewährte Praktiken austauschen, auch um Trends frühzeitig erkennen zu können. In Deutschland gibt es beispielsweise das „International Forum for Expert Exchange on Countering Islamist Extremism“ (InFoEx), das die DGAP in Zusammenarbeit mit dem Netzwerk der Beratungsstelle „Radikalisierung“ des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge aufgebaut hat. Es fördert den internationalen Austausch zwischen Praxis, Wissenschaft und Politik, wenn es um Hilfen für Aussteiger aus islamistischen Gruppen geht. 

Empfehlung #3: On(Off)line gehen

Die Trennung zwischen „Realität“ und „Online-Welten“ verschwindet zunehmend. P/CVE-Maßnahmen sollten deshalb häufiger Online- und Offline - Komponenten kombinieren.

Empfehlung #4: Staatliche und zivilgesellschaftliche Akteure zusammenbringen

Bei der Prävention und Bekämpfung von Extremismus haben sich Multi-Stakeholder-Ansätze bewährt. Diese zielen darauf, dass alle staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteure, die mit P/CVE befasst sind, fachlich qualifiziert sind, kooperativ arbeiten und eine abgestimmte und ganzheitliche Strategie verfolgen.

Empfehlung #5: Wirkungen messen

Die Wirkungsmessung, insbesondere von präventiven Maßnahmen, stellt eine große Herausforderung dar.  P/CVE-Programme sollten deshalb so konzipiert werden, dass sich die Auftraggeber und die praktizierenden und evaluierenden Akteure bereits in der Konzeptionsphase über Erfolgsdefinitionen und Wirkungsannahmen verständigen und Kriterien und Prozesse zu deren Messbarkeit vereinbaren.

Die Bekämpfung und Prävention von gewaltbereitem Extremismus ist eine gesamtgesellschaftliche, lokale und zugleich internationale Aufgabe. Nur eine kontinuierliche, strukturierte und vertrauensvolle Zusammenarbeit wird es den Mitgliedstaaten und der EU als Ganzes ermöglichen, Extremismus und Terrorismus wirksam zu bekämpfen und ihre demokratischen und pluralistischen Gesellschaften dauerhaft zu schützen.

Bibliographic data

Koller, Sofia, and Alexander Ritzmann. “Extremismus bekämpfen, Demokratie schützen .” November 2019.

DGAP Policy Brief Nr. 5, 28. November 2019, 7 S.