Wahl ohne Wahlkampf
Premierminister Dmitri Medwedews Aufruf an alle Parteien, so wenig Geld wie möglich für den Wahlkampf auszugeben, um es in Zeiten der wirtschaftlichen Krise lieber für andere Zwecke zu verwenden, war Programm für diese Wahlen. Die Vorverlegung der Wahlen von Dezember auf Mitte September und damit direkt in die Zeit nach der Sommerpause erschwerte es den Parteien, die Wähler im Wahlkampf zu erreichen. Auch wenn Debatten im staatlichen Fernsehen stattfanden, gab es in diesem Jahr erstaunlich wenig Wahlwerbung in den Straßen Moskaus. Teilweise wurde der Eindruck erweckt, dass so wenige Personen wie möglich mitbekommen sollten, dass diese Wahlen stattfinden. Die nationalistisch-populistische LDPR von Wladimir Schirinowski hatte die höchsten Ausgaben für den Wahlkampf, gefolgt von der vom Kreml geschaffenen „sozialdemokratischen“ Partei Gerechtes Russland und erst auf Platz drei von der Regierungspartei Einiges Russland. Diese Zahlen spiegeln aber bei Weitem nicht die administrativen Ressourcen und Unterstützung durch Amtsträger wider, die Einiges Russland als „Partei der Macht“ zukamen.
Wahl ohne Wahl
Mit einer Senkung der Hürde für den Zugang zum Parlament von 7 auf 5 Prozent und einer Erleichterung der Registrierung von Parteien verdoppelte sich die Zahl der für die Wahl zugelassenen Parteien auf 14 gegenüber 2011. Gleichzeitig wurden viele dieser Parteien nur geschaffen, um anderen Parteien die Stimmen abzunehmen beziehungsweise Pluralismus vorzutäuschen. Das Magazin Forbes Russland wies nach, dass die Programme einer Reihe von Parteien ganze Passagen mit gleichem Wortlaut enthielten. Das zeigt, wie wenig Mühe sich die Politiktechnologen des Kremls gemacht haben, für diese Parteien unterschiedliche Programme zu schreiben.1 Nach Auszählung von mehr als 90 Prozent der Stimmen werden nur vier Parteien in der neuen Duma vertreten sein: Einiges Russland mit 54 Prozent sowie die systemische Opposition bestehend aus der Kommunistischen Partei mit 13,5 Prozent, der LDPR mit 13,2 Prozent und Gerechtes Russland mit 6 Prozent.2 Die systemische Opposition sind jene Parteien, die in der Duma vertreten sind, mehrheitlich mit der Regierungspartei stimmen, ihre Politik eng mit dem Kreml abstimmen und damit gar keine Opposition darstellen. Einiges Russland hat gegenüber 2011 um 5 Prozent zugelegt, entgegen Umfragen, die im Vorfeld von 40 bis 48 Prozent der Stimmen ausgingen.3
Die „echte“ Opposition ist chancenlos geblieben: Einerseits wurde ihre Führung und insbesondere der ursprüngliche gemeinsame Kandidat Michail Kasjanow im Vorfeld durch einen manipulierten Skandalfilm des Fernsehsenders NTW diskreditiert.4 Andererseits sind die Führer der Opposition so stark zerstritten, dass mehrere Parteien angetreten sind und sich gegenseitig die wenigen Stimmen weggenommen haben. Die liberalen Parteien Jabloko mit 1,85 Prozent und PARNAS mit 0,8 Prozent sind nicht annähernd an die Fünfprozenthürde gekommen (nach 90 Prozent der Auszählung). Neben der Diskreditierung von Kandidaten dieser Parteien fehlt ihnen der Kontakt zur Bevölkerung.5 Die Kompromisslosigkeit ihres Führungspersonals sowie der Mangel an neuen, unverbrauchten Persönlichkeiten bestätigen nur die tiefe Krise und Irrelevanz der nicht-systemischen Opposition.
Gesetzgebung ist alles
Nach den Massendemonstrationen gegen Wahlfälschungen bei den Parlamentswahlen 2011 bereitete die russische Führung seit der Wiederwahl Wladimir Putins 2012 die diesjährigen Wahlen systematisch vor. Eine wichtige Voraussetzung für die damaligen Massendemonstrationen war, dass NGOs wie Golos Wahlfälschungen in großem Umfang zugunsten von Einiges Russland nachgewiesen hatten. 2013 war Golos eine der ersten Organisationen, die mittels neuer Gesetzgebung als „Ausländischer Agent“ diskreditiert wurde und seither de facto keine Wahlbeobachtung mehr durchführen kann.6 Weiter beschränkten 2014 gesetzliche Veränderungen stark die Zahl der Wahlbeobachter, die sich nur noch für eine Wahlstation registrieren lassen können. Eine Begrenzung der Wahlbeobachter um die Hälfte gegenüber 2011 macht eine flächendeckende Wahlbeobachtung unmöglich.7 Staatliche Stellen wissen nun genau, welcher Wahlbeobachter wo registriert ist und wo keine Wahlbeobachtung stattfindet. Ebenso wurden die Möglichkeiten zur Wahlbeobachtung für Journalisten stark beschnitten.
Weitere Elemente der veränderten Gesetzgebung sind:
- die staatliche Parteienfinanzierung wurde erheblich ausgebaut und gleichzeitig die private Finanzierung eingeschränkt, was die Abhängigkeit von staatlichen Leistungen erhöht;
- eine Beschränkung der Möglichkeiten unabhängiger Kandidaten, sich zu registrieren;
- ein Neuzuschnitt von Wahlkreisen, in dem Städte mit ländlichen Regionen zusammengelegt wurden, was Vorteile für Einiges Russland schafft, das traditionell auf dem Land größere Zustimmungsraten erhält;
- vorbestrafte Personen haben für den Zeitraum von zehn Jahren ihr passives Wahlrecht verloren; dies betrifft unter anderem den populären Oppositionspolitiker Alexej Nawalny und den ehemaligen Oligarchen Michail Chodorkowski.
Indem das Justizministerium Anfang September dem einzigen unabhängigen Umfrageinstitut Lewada mit einer Listung als Ausländischer Agent drohte, werden nun selbst Meinungsumfragen als politische Tätigkeit bezeichnet.8 Dieser Angriff kurz vor der Wahl erscheint als ein weiteres Element, um die Kontrolle und Manipulation der öffentlichen Meinung zu perfektionieren. Ähnlich wie bei Golos schuf die Duma speziell für dieses Vorgehen ein Gesetz für Lewada und demonstrierte damit erneut, dass politisch systematisch gegen unabhängige Organisationen vorgegangen wird. Seit 2012 erleben wir eine neue Welle einer schrittweisen Einschränkung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit, der Arbeit von Medien, NGOs und Oppositionellen, die klar auf Machterhalt durch Repression abzielt, insbesondere im Umfeld einer sich verschärfenden Wirtschaftskrise.
Ohne Putin geht nichts
Die niedrige Wahlbeteiligung von unter 50 Prozent im Landesdurchschnitt und unter 30 Prozent in Moskau und Petersburg zeigt, wie wenig die Parteien Wähler motivieren konnten und schwächt die Legitimität der zukünftigen Duma. Das war letztlich von der politischen Führung in Kauf genommen worden, um die Wahl unter Kontrolle zu haben. Auch wenn Einiges Russland am Ende eine absolute Mehrheit in der Duma erringen sollte, ist dies zweitrangig, da mit der systemischen Opposition ausschließlich Parteien im Parlament vertreten sind, die alle vom Kreml initiierten Gesetzesprojekte durchbringen können. Einiges Russland wirbt zwar mit Sätzen des russischen Präsidenten, dieser hat sich jedoch von der Partei distanziert und dem loyalen Ministerpräsidenten Medwedew deren Führung überlassen. Damit färbt das negative Image von Einiges Russland als Partei der Machteliten, Korruption, „Diebe und Gauner“9 nicht auf den Präsidenten ab.
Putin hat seit der Annexion der Krim dauerhaft hohe Zustimmungsraten von über 80 Prozent. Die Legitimation der Duma insgesamt wird durch die niedrige Wahlbeteiligung und den Mangel an einer glaubwürdigen Opposition weiter sinken. Auch die Ernennung der als integer geltenden ehemaligen Menschenrechtsbeauftragten Ella Pamfilowa zur obersten Wahlleiterin wird daran nichts ändern, da sie in einem vom Kreml vorgegebenen politischen und gesetzlichen Rahmen agiert. Diese Entwicklung folgt der Logik, dass das politische System immer stärker auf den Präsidenten zugeschnitten wird und seine Rolle in dessen Erhalt und Legitimation wächst. Damit geht einher, dass enge Wegbegleiter Putins – wie vor der Wahl der ehemalige Leiter der Präsidialadministration, Sergei Iwanow, oder wie angekündigt nach der Wahl der mächtige Leiter der Ermittlungskomitees, Alexander Bastrykin – durch jüngere, loyale Personen ohne besondere Machtressourcen ausgewechselt werden.
Testlauf für die Präsidentschaftswahl?
Somit wird alles vorbereitet für die eigentlich wichtige Wahl des Präsidenten 2018. Technisch hat das System Putin seine Methoden verfeinert, um unabhängige Positionen auszuschalten und die öffentliche Meinung zu manipulieren. Gleichzeitig hat sich gegenüber 2011/12 mit Blick auf die gesellschaftliche und wirtschaftliche Krise im Land nichts grundlegend verändert. Im Gegenteil, die Situation verschärft sich weiter: Es gibt kein nachhaltiges Wirtschaftsmodell, aufgrund der dauerhaft niedrigen Öl- und Gaspreise fehlen die ökonomischen Spielräume, die Währungsreserven schrumpfen bedrohlich und es wird nur noch der Mangel verwaltet. Die Perspektivlosigkeit in der Bevölkerung wächst wie auch das Gefühl in der Elite, dass es nach 2018 zu Veränderungen kommen muss. Dabei hängt alles von der Popularität des Präsidenten ab, der vor allem durch seine außenpolitischen Auftritte von den wachsenden innenpolitischen Defiziten ablenkt. Diese Duma-Wahl wird daran nichts ändern.
Diese Tendenzen machen das System immer anfälliger, da alle Entscheidungen nur noch von der Person des Präsidenten abhängen und das Gefühl in der Bevölkerung aufkommt, nur er könne die Probleme des Landes lösen. Putin aber kommen die politischen und gesellschaftlichen Korrektive für eine Erneuerung seiner Politik abhanden ebenso wie Ideen und der Wille, tatsächlich etwas zu verändern. Machterhalt durch Einschränkung der politischen Freiheiten und wachsende Repression sind die Folgen. Die kürzlich erfolgte Gründung einer Nationalgarde, die direkt dem Präsidenten unterstellt ist, unterstreicht die Angst in der Führung vor Umsturzversuchen aus der Gesellschaft oder Elite. Bis auf lokale Demonstrationen als Folge der Wirtschaftskrise gibt es jedoch bisher keine Symptome für den Wunsch nach Veränderung. Somit kann nur der wachsende Druck einer sich verschärfenden Wirtschaftskrise – aktuell sichtbar in der Aussage des Finanzministeriums, dass bereits 2017 die Gelder des Wohlfahrtsfonds auslaufen können – Veränderungen einleiten.
Dieser Text erschien am 19. September 2016 als Gastbeitrag bei ZEIT Online.
- 1Partijny assortiment: Schto nam predlagajut polititscheskie partii (Parteienauswahl: Was schlagen uns die politischen Parteien vor?), in: Forbes, 14.9.2016, http://www.forbes.ru/mneniya/vertikal/327969-partiinyi-assortiment-chto…
- 2„Edinaja Rossija“ nabral 54 % posle podstscheta 90 % protokolov (Einiges Russland gewinnt 54 Prozent nach Auszählung von 90 Prozent der Protokolle), in: RBK, 19.09.2016, http://www.rbc.ru/politics/19/09/2016/57df78549a7947aadd4d3dbd
- 3Das Lewada-Zentrum gilt als zurzeit einziges unabhängiges Meinungsforschungsinstitut in Russland und steht wohl auch deshalb massiv unter Druck. Die Zahlen der beiden großen Institute (neben Lewada das staatliche Institut VCIOM) stimmen zu dieser Frage weitgehend überein und können als realistisch angesehen werden. Lewada-Zentr., Gotovnos’ glosovat’ i predvy¬bornye rejtingi (Bereitschaft zu wählen und Vorwahlraiting), 1.9.2016, http://www.levada.ru/2016/09/01/gotovnost-golosovat-i-predvybornye-rejt…
- 4State TV Targets Putin’s Former Prime Minister with Sex Movie, in: Bloomberg 2.4.2016, http://www.bloomberg.com/news/articles/2016-04-02/state-tv-targets-puti….
- 5Das ist anders in Moskau, wo Jabloko auf über 10 Prozent der Stimmen kam und damit ein liberales Elektorat mobilisieren konnte.
- 6Russian NGO Golos Still Labeled „Foreign Agent“ Despite Court Ruling, Lawyer Says, in: The Moscow Times, 17.9.2016, https://themoscowtimes.com/articles/russian-ngo-golos-still-labeled-for….
- 7Vybory bez prismotria: skol’ko nabljudatelej ostanetsja na vyborach v Gosdumu? (Wahl ohne Aufsicht: Wie viele Wahlbeobachter bleiben bei den Wahlen zur Staatsduma?), in: RBK, 15.9.2016, http://www.rbc.ru/politics/15/09/2016/57dac2609a7947fa0b96649f?from=new….
- 8I „Levadu“ postschitali (Und Lewada dazugezählt), in: Kommersant’, 17.9.2016, http://www.kommersant.ru/doc/3081977?utm_source=kommersant&utm_medium=d…
- 9Bezeichnung für Einiges Russland des Oppositionspolitikers Alexej Nawalny, die auf den Massendemonstrationen 2011/12 enorme Popularität erhielt.