Streitgespräch zwischen Luke Harding und Alexander Rahr
Es waren zwei sehr unterschiedliche Einschätzungen, die bei der Diskussion zwischen dem britischen Journalisten Luke Harding und dem Russland-Experten Alexander Rahr aufeinandertrafen. „Putins Russland ist die wahrscheinlich größte Kleptokratie der Welt“, fasste Harding seine Erfahrungen als Moskau-Korrespondent zusammen. Rahr dagegen beschrieb ein politisches System im Übergang, das sich langsam, aber stetig entwickele und mit dem der Westen mehr Geduld haben müsse.
In seinem Buch „Mafiastaat. Ein Reporter in Putins Russland“ beschreibt Harding seine Erlebnisse in Moskau. Sein Aufenthalt stand von Anfang an unter keinem guten Stern: Schon in den ersten Monaten brachen Agenten des russischen Geheimdienstes FSB, dem Nachfolger des KGB, in seine Wohnung ein – der Beginn eines psychologischen Kleinkriegs gegen Harding, dessen kritische Berichterstattung den Sicherheitsdiensten offenbar ein Dorn im Auge war.
Codewort „Banane“
Sein Fehler sei gewesen, so Harding, dass er ungeschriebene Regeln verletzt und Tabuthemen aufgegriffen habe: Putins immensen Reichtum, die mächtigen Geheimdienste, den Tschetschenien-Krieg. „Aber wenn man als Journalist über ein bestimmtes Thema nicht schreiben darf, dann will man es natürlich erst recht tun.“ Harding sieht den FSB in der Tradition des sowjetischen KGB, mit vergleichbaren Methoden: Sexratgeber neben dem Ehebett, abgehörte Telefonate, Wohnungseinbrüche und Beschattungen. Am Telefon verwendete er das Codewort „Banane“, um kremlkritische Oligarchen nicht beim Namen zu nennen – dies hätte den sofortigen Abbruch der Verbindung bedeutet. 2011 schließlich erfolgte faktisch Hardings Ausweisung, als sein Pressevisum nicht verlängert wurde: „surreale Erfahrungen“, wie der Autor resümiert. Es handele sich bei Putins Russland um einen disfunktionalen Staat, der von den Machteliten dazu missbraucht werde, den Reichtum des Landes zu stehlen und auf ausländischen Konten zu bunkern. Zwar gebe es eine global agierende Elite, doch die „mentale Landkarte“ sei die gleiche wie zu Zeiten des Kalten Krieges.
Evolutionärer Prozess
Ist Russland nach wie vor ein stalinistisch-kommunistischer Staat? Nehme man Luke Hardings Erfahrungen zum Maßstab, so könnte man diesen Eindruck gewinnen, erklärte Alexander Rahr, doch tatsächlich sei dem nicht so. Rahr wertete die Proteste während der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen und kurz vor Putins Amtseinführung als Zeichen, dass sich die Gesellschaft verändere. Zwar warnte er vor überhöhten Erwartungen: „Wir werden mehr Zeit brauchen, bis sich Russland demokratisiert, wir müssen Geduld haben.“ Es handele sich um einen „evolutionären, nicht revolutionären“ Prozess. Doch sei eine Mittelschicht entstanden, die in vielen russischen Städten zu einer ernstzunehmenden Kraft heranwachse. Noch könne man von keiner geeinten Opposition sprechen, jeder gründe „seine eigene Partei“. Wenn aber diese Mittelschicht sich auf den Marsch durch die kommunalen Institutionen mache, könne das langfristig zu Veränderungen führen. Diese Gesellschaftsschicht sei in den kommenden Jahren der „Testfall“ für Putins Reformwillen: „Wenn Putin klug ist, dann wird er mit dieser Mittelschicht in einen Dialog treten.“
Luke Harding dagegen sieht „keine Anzeichen dafür, dass Putin an Reformen interessiert“ sei. Der Präsident habe „keinen Plan“, wie er mit politischer Opposition in den nächsten Jahren konstruktiv umgehen solle. „Putin sieht sich als eine Art aufgeklärten Absolutisten, er lebt in einer festgefügten Weltsicht, in der jemand wie ich ein ausländischer Spion ist“. Der Präsident müsse an der Macht bleiben, weil er nur so sicherstellen könne, dass seine Reichtümer und die der herrschenden Elite geschützt seien. Sobald Putin abtrete, breche dieses System zusammen.
„Soft Power ist effektiver als Kritik“
Im Zentrum der Debatte standen immer wieder die massiven Menschenrechtsverletzungen des russischen Staates. Könne, dürfe es angesichts solcher Verstöße überhaupt so etwas wie Realpolitik gegenüber Russland geben oder müsste nicht der Westen eindeutig Stellung beziehen? Auf diese Frage aus dem Publikum antwortete Rahr, die Außenminister der westlichen Staaten dürften nicht mit NGOs wie Amnesty International in Konkurrenz treten. Eine streng wertebasierte Außenpolitik führe nicht immer zum Ziel. Rahr plädierte für einen pragmatischen Ansatz, der berücksichtige, dass Russland mehr Zeit benötige, um sich rechtsstaatlich zu entwickeln. Anstelle von Boykotten solle man einen Ansatz des „Wandels durch Handel“ – oder durch Einbindung – verfolgen: „Soft Power ist effektiver als reine Kritik“. Harding dagegen plädierte für einen kritischen Umgang mit Russland. Eine gewisse Form der Einbindung sei wichtig und richtig, doch für Politiker, die erwiesenermaßen Menschenrechtsverletzungen begangen hätten, sollten Einreiseverbote verhängt werden.
Die Veranstaltung wurde in Zusammenarbeit mit der American Academy Berlin durchgeführt.
Luke Hardings Buch „Mafiastaat. Ein Reporter in Putins Russland“ erscheint bei EditionWELTKIOSK.