Frühling der 15 Prozent

Der Oppositionspolitiker Ilja Ponomarev und die liberale Journalistin Natalja Tscherkessowa über Ziele und Zukunft der russischen Protestbewegung

Datum
19 Januar 2012
Uhrzeit
-
Ort der Veranstaltung
DGAP, Rauchstr. 17, 10787 Berlin Deutschland
Einladungstyp
Nur für geladene Gäste

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Motor der Proteste sei der neue russische Mittelstand, sagte Ilja Ponomarev, Oppositionspolitiker der Partei „Gerechtes Russland“. „Diese 15 Prozent waren bislang apolitisch und hielten sich aus der Politik heraus“, betonte das ehemalige Mitglied der Jugendbewegung der kommunistischen Partei. Doch dann habe Putin einfach gesagt: „Lasst die Hoffnung fahren! Ich komme für zwölf Jahre zurück. Und wir können noch zwölf dranhängen.“ Das, so Ponomarev, habe das Fass zum Überlaufen gebracht. Auf die Straße strömte überwiegend eine junge, gut ausgebildete urbane Mittelschicht. Doch der Protest hat auch eine soziale Dimension, wie die Gründerin der ersten liberalen Zeitschrift des damaligen Leningrad, Natalja Tscherkessowa, erläuterte: „Knapp 60 Prozent der Bürger sind arm, finden oft keine Arbeit, sind medizinisch schlecht versorgt und haben kaum Bildungschancen.“ Das trifft vor allem auf die ländliche Bevölkerung zu, die zaghaft beginnt, ihren Unmut zu äußern – ein Novum im postsowjetischen Russland. Zudem lasse die Regierungspartei „Einheitliches Russland“ die Bürger in den moralischen Abgrund blicken: „Diejenigen, die in den Wahllokalen die Fälschungen begangen haben, sind Menschen des öffentlichen Lebens, Lehrer zum Beispiel. Ein solches Handeln in der breiten Bevölkerung zu fördern untergräbt die Fundamente eines jeden Staates“, sagte Tscherkessowa.

Opposition ohne klares Zentrum

Alexander Rahr, Russland-Experte der DGAP, machte in seiner Eröffnungsrede deutlich, dass Putin vor einer Entscheidung stehe: entweder einen Dialog beginnen – oder die Proteste durch Schweigen weiter anfachen. Ponomarev sieht die nächsten Schritte klar vor Augen: „Wir müssen zeigen, dass wir immer mehr werden“. Ob sich das mit einer, wie er betont, „apolitischen Opposition ohne klares Zentrum“ bewerkstelligen lässt, bleibt fraglich. Dementsprechend skeptisch fragte die Europaabgeordnete der Grünen Marie-Luise Beck: „Kann die Macht mit einer solch amorphen Bewegung nicht relativ leicht umgehen?“ Eine nationale Plattform würde wohl rasch an ihren inneren und regional bedingten Widersprüchen zerbrechen, entgegnete Ponomarev. Doch mit dem „alternden Diktator“ Putin an der Staatsspitze und dem zu einem „Komma im Text der russischen Geschichte“ (Tscherkessowa) degradierten Medwedew als Juniorpartner an dessen Seite bestünde die erhebliche Gefahr eines politischen Stillstandes. Damit wiederum war Volker Rühe, Bundesminister a.D., nicht einverstanden: „Da werden Sie Medwedew nicht gerecht. Auch wenn er wenige gesetzliche Veränderungen eingebracht hat, so hat er doch den ganzen freiheitlichen Diskurs in Russland neu belebt.“

Hat die Protestbewegung eine Zukunft, kann sie nachhaltige Veränderungen bewirken? Abschließend beantworten ließ sich diese Frage nicht. Vieles hängt davon ab, ob es weitere Wahlfälschungen bei der Präsidentschaftswahl am 4. März geben wird. Putin könnte durchaus die nötigen 50 Prozent im ersten Wahlgang verfehlen. „Dann wird er Koalitionen mit dem liberalen Lager schmieden müssen“, sagte Rahr. „Das wäre nicht schlecht für die russische Demokratie.“

Format

Early Bird Breakfast
Zielgruppe
Think Tank Veranstaltung
Core Expertise region