Wer in diesen Tagen in Brüssel Einschätzungen zu Berlins Europapolitik sucht, erntet genervtes Augenrollen. Trotz der demonstrativen Harmonie auf dem Euro-Gipfel vergangene Woche in Brüssel stimmt so manches EU-Mitglied ungern in den Ton ein, den Deutschland derzeit vorgibt.
Der „Fiskalpakt“
An der Oberfläche sieht alles noch recht einvernehmlich aus: Am 30. Januar 2012 haben die 17 Euro-Länder beschlossen, einen Fiskalvertrag zu verabschieden, der im März gemeinsam mit acht Nicht-Euro-Ländern unterzeichnet werden soll (lediglich Großbritannien und Tschechien haben angekündigt nicht mitzugehen). Der Fiskalvertrag enthält im Wesentlichen die Verpflichtung zur Einführung einer nationalen Schuldenbremse in allen Euro-Ländern und soll außerdem zu einer Verschärfung des Defizitverfahrens führen.
Kritiker weisen aber darauf hin, dass der Vertrag im Grunde überflüssig sei, da seine wesentlichen Maßnahmen auch auf der Grundlage des EU-Vertrags hätten organisiert werden können und schon im Euro-Plus-Pakt vom Sommer 2011 enthalten seien. Und eine klare Verschärfung des Defizitverfahrens bringe er nicht, weil die Bestimmungen weiterhin schwammig seien. „Jenseits der politischen Symbolik ist der Wert des neuen Pakts (...) schwer zu greifen“, urteilte die FAZ im Nachgang zum Gipfel (1.2.2012). Und der Wiener Standard nannte ihn gar „weich wie einen Pudding“ (1.2.2012).
Warum gibt es also diesen Vertrag? Besonders zu einem Zeitpunkt, an dem man meinen könnte, die Europäische Union und ihre Mitglieder hätten Wichtigeres zu tun. Die weit verbreitete Ansicht ist: Weil Deutschland ihn wollte.
Merkels Medizin
Der Fiskalvertrag ist ein Zugeständnis an Berlin, das der Bundesregierung den Beweis für den deutschen Wähler an die Hand geben soll: Die von Kanzlerin Angela Merkel ausgerufene „Stabilitätsunion“ hat sich in Brüssel durchgesetzt. Deutschland macht die Regeln. Der Fiskalvertrag steht in der Tradition der deutschen Überzeugung, dass die Union als Rechtsgemeinschaft nicht auf flexiblen Absprachen beruhen kann, sondern auf verbindlichen Regeln basieren muss – vor allem dann, wenn Deutschland wie in der Schuldenkrise in die Tasche greifen muss. Wenn es um die Einhaltung von Regeln geht, schickt Berlin als Testballon kurz vor dem Euro-Gipfel am 30. Januar auch mal die Idee eines „Sparkommissars“ ins Rennen, der in Athen die Umsetzung der Reformen überwachen soll. Das löst in Athen und anderswo Entsetzen aus, über das man in Berlin wiederum erstaunt ist. Regeln sind schließlich dazu da, eingehalten zu werden. Das mangelnde Gespür für den Effekt solcher Vorstöße ist verblüffend.
Sparen und wachsen?
Dass die deutsche Haltung von anderen EU-Ländern geradezu als „rechtsbesessen“ wahrgenommen wird und gut ins Klischee kalter deutscher Regelungswut passt, die auch vor der Würde anderer EU-Länder nicht Halt macht (siehe die FAZ vom 29.1.2012: „Athen verlangt Respekt vor seiner Würde“), wird in Berlin immer noch zu wenig kritisch reflektiert.
Zwar hat sich inzwischen der Fokus auch in den Berliner Debatten stärker in Richtung der Frage verschoben, wie neben dem notwendigen Sparkurs auch das Wachstum gefördert werden kann, um die Wettbewerbsfähigkeit von Ländern der Euro-Zone zu stärken und die schwierige Lage vor allem der jungen Bevölkerung in Griechenland, Irland oder Spanien zu verbessern. In der Kommunikation der Ergebnisse des Euro-Gipfels Ende Januar 2012 hat die Bundesregierung den Schwerpunkt daher auch auf die (allerdings mageren) Impulse der Regierungen für mehr Wachstum gelegt.
Im Grundsatz aber bleibt die vorherrschende Analyse zur Schuldenmisere in Deutschland vor allem diese: Laxe Euro-Länder haben sehenden Auges Regeln verletzt, Deutschland und andere Euro-Länder müssen die Suppe auslöffeln.
Schulmeister Deutschland
Während Euro-Länder wie Finnland, die Niederlande oder Österreich insgeheim froh sind, dass Berlin die Rolle des „bad cop“ übernommen hat, und sich hinter dem breiten Rücken von Kanzlerin Merkel verstecken, kommt diese Sicht auf die Dinge längst nicht überall in Europa gut an. Deutschland wird mit seiner als unnachgiebig wahrgenommenen Haltung zunehmend als Teil des Problems gesehen. Dies gilt nicht nur für die Frage, welches ordnungspolitische Modell sich am Ende als der erfolgreiche Weg aus der Krise erweist. Und es geht auch nicht lediglich um das Problem, dass Berlin jetzt Führungsqualitäten beweisen muss, was notwendigerweise immer auch Kritiker auf den Plan ruft (ein Nachhall auf die 2010 und 2011 geführte Debatte zur deutschen Zurückhaltung).
Das Problem liegt viel tiefer: Die Geister der Vergangenheit sind zurück an Brüssels Verhandlungstischen. Deutschland wird als dominant, arrogant und kompromisslos wahrgenommen. Es gab Regeln und diese wurden verletzt, daher werden jetzt die Regeln und ihre Überwachung verschärft. Schwarz oder weiß. Weiß oder schwarz. Andere EU-Länder hingegen sehen sehr viel mehr Nuancen. Sie verweisen auf die Vorteile, die Deutschlands aus dem Euro und auch aus der Euro-Krise zieht sowie auf den deutschen „Sündenfall“ bei der Verletzung des Stabilitäts- und Wachstumspakts im Jahr 2003 („Did Germany sow the seeds of the eurozone debt crisis?“, fragte die BBC in einer erhellenden Sendung, die Ende Januar 2012 auf den deutschen Bruch der Defizitregeln zurückblickte).
Bessere Public Diplomacy ist nötig
Gegenüber dieser Wahrnehmung der anderen muss sich die Bundesregierung sehr viel offener zeigen. Gerade jetzt, wo in Berlin die Einsicht gereift ist, dass die Schuldenkrise, die zu einer politischen Krise der Europäischen Union wurde, eine umfassende Lösung braucht und die Bundesregierung bereits in den vergangenen Monaten gezeigt hat, dass sie bereit ist, Führung zu übernehmen, wäre es fatal, wenn Berlin seinen Gestaltungsspielraum fahrlässig einengt.
Genau das würde aber passieren, wenn die deutsche Europapolitik weiterhin so wenig auf die Partner in den Ländern zugeht, die derzeit in Schwierigkeiten sind, und sich in der Konsequenz mit einer wachsenden antideutschen Rhetorik konfrontiert sieht. Regeln und Verfahren sind nur ein Teil der Lösung. Berlin muss endlich eine überzeugende Public Diplomacy gegenüber den besonders von der Krise betroffenen EU-Ländern entwickeln. Und ein besseres Gespür dafür, dass die fürs eigene Wahlvolk gedachten Äußerungen unweigerlich auch ihren Weg nach Athen, Lissabon oder Dublin finden.
Dazu sollte die Bundesregierung ihre Haltung in Brüssel und anderen EU-Hauptstädten besser erklären. Über Regierungen und EU-Institutionen hinaus sollte sie gezielter an Meinungsführer in Medien und Think-Tanks herantreten, und zwar auch jenseits von EU-Gipfeln. Es darf sich nicht der Eindruck verfestigen, dass Deutschland kein Interesse an einer kontroversen Debatte hat und nur seine Position im Europäischen Rat, hinter verschlossenen Türen, durchbringen will.
Vor allem wäre es wichtig, in die betroffenen Partnerländer hineinzuwirken und mehr Verständnis für deren schwierige Situation zu zeigen, der sich nicht nur die Bevölkerung, sondern auch Regierungsvertreter und Parlamentarier ausgesetzt sehen. Obwohl sich die deutschen Auslandsvertretungen der Notwendigkeit von Public Diplomacy im Zuge der Schuldenkrise durchaus bewusst sind, braucht diese Aufgabe eine sehr viel stärkere Sichtbarkeit, etwa durch deutsche Spitzenpolitiker.
Warum sind Vertreter der Bundesregierung, des Parlaments oder gar die Bundeskanzlerin nicht öfter in die Länder gereist, die unter der Krise besonders leiden? Wo bleiben sichtbare Gesten der Unterstützung beim schwierigen Reformprozess, die über wichtige symbolische Gesten hinaus ganz konkrete Hilfsangebote machen könnten. Sicherlich tut die Bundesregierung bereits einiges, ohne es an die große Glocke zu hängen. Darüber sollte sie die europäische Öffentlichkeit aber besser informieren.
Auf der anderen Seite müssen sich Deutschlands Partner bewusst machen, dass Deutschland auch heute keinesfalls die natürliche Führungsnation in der Euro-Frage ist. Dass sich Berlin immer noch mit dieser Rolle schwer tut und an sie gewöhnen muss, haben die vergangenen Monate gezeigt. EU-Länder, die Deutschlands Haltung teilen, sich aber bisher oft hinter Berlin verstecken, sollten dies sehr viel stärker offen demonstrieren, wie etwa der finnische Europaminister Alexander Stubb im Vorfeld des Euro-Gipfels Ende Januar 2012. Denn es ist zu bezweifeln, dass Berlin auf wachsenden Druck so reagiert, wie es die Kritiker wünschen - nämlich motiviert.
Die Salve, die vor wenigen Wochen von IWF-Chefin Christine Lagarde in der DGAP eröffnet wurde, bevor sich die globale Wirtschaftselite in Davos traf, um ins gleiche Horn zu stoßen – auf dem Weg dorthin noch munitioniert mit dem „blueprint“ von Weltbank-Präsident Robert Zoellick in der Financial Times, wie Deutschland den Euro retten solle –, könnte auch nach hinten losgehen. Aber an einem Rückzug ins Schneckenhaus, an einem verhalten agierenden Deutschland wie zu Beginn der griechischen Schuldenkrise im Jahr 2010, hat nun wirklich niemand in Europa ernsthaft Interesse.