Euro-Aufgeregtheit und kein Ende. Wer Märkten und Medien vertraut, sieht die Politik getrieben und Regierungen gleich reihenweise fallen. Die Politik kann es nicht, so seit Monaten der Tenor der Debatte: zu langsam, zu zaghaft, zu uneins – das passt gut ins Bild der regelmäßig als notorisch zerstritten porträtierten Europäischen Union. Die eben immer noch keine „big bazooka“ zieht, wie sie der britische Premier David Cameron kraftvoll gefordert hat. Die Sprache der Euro-Debatte ist ein Thema für sich und die Panzerfaust im Friedensprojekt Europa nicht ohne Ironie.
Eine Wirtschafts-Union
Während aber alle Augen weiter auf Griechenland und Italien gerichtet sind, haben die Regierungen der Euro-Länder soeben fast unbemerkt die Weichen für eine neue Europäische Union gestellt. Auch wenn die Mehrzahl der Analysten nicht müde wird, die Beschlüsse des Euro-Gipfels Ende Oktober 2011 klein zu reden: Rückblickend werden sie als historisch bewertet werden. Was der Euro-Gipfel in den frühen Morgenstunden des 27. Oktober 2011 beschlossen hat, wird das Gesicht der Europäischen Union nachhaltig verändern. In Brüssel haben die Euro-Länder nicht weniger als das Fundament für eine Fiskalunion gelegt – und nebenbei einer neuen Form des „Kerneuropa“ den Weg geebnet. Das Verhältnis zwischen den „ins“ und „outs“ wird sich schon bald als die neue Trennlinie in der EU erweisen.
Wenn es an die Konkretisierung der Beschlüsse geht, werden sich noch viele Hürden auftürmen – die Richtung aber ist seit Ende Oktober klar: Die (noch) 17 Euro-Länder schließen sich enger zusammen, verstärken ihre eigenen Institutionen und Verfahren und grenzen sich dabei deutlicher als bisher von den Nicht-Euro-Ländern ab. Die Wirtschaftsunion soll vertieft werden und zwar, so heißt es in den Beschlüssen, in einer Form, „die unserer Währungsunion angemessen ist“. Die Überwachung der nationalen Haushalte soll deutlich gestärkt werden und Kommissionspräsident José Manuel Barroso hat in dieser Woche in seiner Berliner Europa-Rede bereits die Grundlinien des geplanten Verfahrens vorgestellt. Es wird ab sofort ein so genannter „Euro-Gipfel“ – bestehend aus den Staats- und Regierungschefs der Euro-Länder und dem Präsidenten der EU-Kommission – etabliert, der mindestens zwei Mal im Jahr tagt. Den Vorsitz in dieser Runde übernimmt vorerst Herman Van Rompuy, bis ein Präsident für den Euro-Gipfel benannt ist. Dieser soll dann auch dafür Sorge tragen, dass die Nicht-Euro-Länder über die Diskussionen und Beschlüsse künftiger Euro-Gipfel informiert werden.
Ein Club im Club
Das birgt politische Sprengkraft. Seit Wochen schon gucken die Nicht-Euro-Länder in die Röhre, während unter deutsch-französischer Führung die Europäische Union umgebaut wird, und treffen sich in Brüssel erbost zu Selbstversicherungs-Abendessen, auf denen sie einander vergewissern, dass sie auch in Zukunft mitreden werden. Eine mögliche Spaltung der Europäischen Union in einen Euro-Kern und eine Peripherie, deren größte Gemeinsamkeit die Mitgliedschaft im Binnenmarkt ist, würde den Zusammenhalt der Union bedrohen. Die Mitglieder der Euro-Zone werden deshalb weiter beteuern, dass sie sich nicht als exklusiver Club verstehen, sondern Transparenz walten lassen wollen und offen für neue Mitglieder sind. Laut Vertrag ist die Euro-Zone auf ein Anwachsen ihrer Mitglieder angelegt. Lediglich das Vereinigte Königreich und Dänemark besitzen ein Opting out.
Wenn der Euro-Gipfel aber ernst macht mit seinem Grundsatzbeschluss zur Vertiefung der Wirtschaftsunion und dieser tatsächlich umgesetzt werden kann, und sich herausstellt, dass der Vertrag von Lissabon nicht als Grundlage für die „neue“ Euro-Zone herhalten kann, wird es de facto auf eine Union in der Union, möglicherweise sogar auf eine Union neben der Union hinauslaufen. Und seit dem G20-Gipfel in Cannes ist klar, dass die deutsche und die französische Regierung bereit sind, diesen Weg auch mit einer kleineren Anzahl von Euro-Mitgliedern zu gehen. Die Warnung an den damaligen griechischen Premier Giorgos Papandreou war eindeutig.
Eine neue Integrationsqualität
Wäre dies das Ende der Europäischen Union? Sicherlich das Ende der EU, wie wir sie kennen. Zwar entspricht die Europäische Union als Rechtsgemeinschaft, deren acquis communautaire für alle Mitglieder in gleicher Weise gilt, im Grunde schon lange nicht mehr der Realität. Schengen und der Euro sind die besten Beispiele, aber es gibt noch viele weitere Belege für das, was Daniel Thym einmal „Ungleichzeitigkeit“ im europäischen Verfassungsrecht genannt hat. Der wesentliche Unterschied zwischen der neuen Euro-Zone und den schon heute praktizierten Formen der verschiedenen Geschwindigkeiten läge darin, dass es sich um eine neue Qualität der abgestuften Integration handeln würde, die die Unterschiede zwischen den „ins“ und den „outs“ möglicherweise mittel- bis langfristig dermaßen verstärkt, dass Kern und Peripherie sich zu weit voneinander entfernen.
Die Debatte über Modelle differenzierter Integration wurde in den 1990er Jahren und zur Jahrtausendwende noch in der Politik diskutiert, seitdem aber im Wesentlichen in akademischen Debatten. Jetzt ist sie zurück im Zentrum der Europapolitik. Es sei daran erinnert, dass Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble sich 1994 mit einem viel beachteten Papier in die Debatte eingeschaltet hat, in dem er gemeinsam mit Karl Lamers eine „Festigung des Kerns“ forderte.
Noch ist nicht absehbar, welche Tragweite der nur im Grundsatz gefasste Beschluss zur Vertiefung der Wirtschaftsunion haben wird. Herman Van Rompuy wird aber noch vor Jahresende konkrete Vorschläge zur Umsetzung unterbreiten. Vorausgesetzt, die Euro-Länder bringen die Kraft für diesen Vertiefungsschritt auf, und es würde trotz des Lissabon-Traumas ein Weg gefunden, diese Neuerungen vertraglich zu verankern, dann bekäme die EU eine neue Zentrum-Peripherie-Logik, die die Union der Vergangenheit kräftig durchrütteln würde. Dieser Prozess ist mit vielen Risiken behaftet – aber die EU hat inzwischen keine andere Wahl mehr, als sich neu zu erfinden.