Kommentar

12. Okt. 2015

Das Weißbuch – kein Buch der Weisen

Das Strategiedokument dient nicht nur der Verständigung der Eliten

Nicht der große Wurf, sondern ein fortwährender Diskussionsprozess sollte das Ziel deutscher Bemühungen sein, um Eliten und Bevölkerung auf Sicherheitsrisiken einzustellen. Mit vernetztem Wissen können insbesondere Think-Tanks soziale, politische, geografische, technische, fach- und ressortspezifische Denkbarrieren überwinden helfen. Damit können sie als Frühwarnsystem dienen und künftige Probleme identifizieren, bevor sich politische Fronten bilden, meint Josef Braml.

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Politik- und Öffentlichkeitsberatung

Weißbücher sollten der Beratung für Politik und Öffentlichkeit dienen. Sie sollen zum einen den politischen Entscheidungsträgern helfen, die Sicherheitslage auszuloten, strategische Ziele und Instrumente zu formulieren, um Sicherheitsrisiken zu begegnen. Zum andern soll eine möglichst öffentlichkeitswirksame Diskussion dieser Fragen helfen, deutsche Außen- und Sicherheitspolitik gegenüber der Bevölkerung zu rechtfertigen. Anders als in einem autokratischen System steht in einer Demokratie das nationale Interesse nicht a priori fest, sondern muss in einem fortwährenden Diskussionsprozess immer wieder aufs Neue ausgehandelt werden. In diesem pluralistischen Sinne wäre das Weißbuch – oder im besten Falle eine nationale Sicherheitsstrategie – das Vehikel, um diese Debatte immer wieder weiter zu transportieren: „Legitimation durch Kommunikation“ lautet denn auch ein zentraler politikwissenschaftlicher Lehrsatz.

Der absehbare Weg ist das Ziel

Wenn diese Übungen in kürzeren Abständen als bisher erfolgten, würde die Legitimation außen- und sicherheitspolitischer Entscheidungen laufend gewährleistet und müsste nicht jeweils von Neuem, oft im ungünstigsten Fall, nämlich bei akuten Krisen, angeleiert werden. Zudem nähme eine regelmäßige Anpassung Druck von den Strategen, einen großen, mehrere Jahre gültigen Wurf erarbeiten zu müssen. Das „aktuelle“ Weißbuch wurde vor knapp zehn Jahren unter der Ägide des damaligen Bundesverteidigungsministers Franz Josef Jung erarbeitet. Doch wer hätte seinerzeit gedacht, dass nur ein Jahr später, die 2007/2008 einsetzende Wirtschafts- und Finanzkrise die Handlungsfähigkeit von Staaten gefährden oder 2014 Russland die europäische Sicherheitsordnung infrage stellen würde? Um zu vermeiden, dass auf lange Sicht nicht vorhersehbare Krisen ein solches Dokument obsolet erscheinen lassen, wäre es ebenso wenig zweckdienlich, nur noch abstrakte Gemeinplätze zu bemühen. Wir müssen bei unseren konkreteren Planungen vielmehr auf kürzere Sicht fahren. So wie das die Initiatoren des Weißbuches, der spätere Bundesverteidigungsminister Helmut Schmidt und sein Planungsstabschef Theo Sommer, mit den ersten Weißbuch-Veröffentlichungen 1969 und 1970 mit einem Abstand von nur einem Jahr praktizierten. Seitdem sind die Nachfolgedokumente jedoch in immer größer werdenden Intervallen erschienen, zuletzt 1985, 1994 und 2006.

Mit vernetztem Wissen Denkbarrieren überwinden

Sich auf aktuelle und absehbare Sicherheitsszenarien einzustellen, bleibt gleichwohl ein nicht minder anspruchsvolles Unterfangen. Das Weißbuch 2006 etablierte in Deutschland die Perspektive der „vernetzen Sicherheit“ und der „zivil-militärischen Zusammenarbeit“, ein methodisches Konzept, das auch auf internationaler Ebene, etwa von den alliierten Verbänden in Afghanistan, übernommen wurde. Diese methodischen Ansätze sollten weiterentwickelt werden. Denn nur mit vernetztem Wissen können Denkbarrieren überwunden und im Sinne eines Frühwarnsystems künftige Probleme identifiziert und Lösungsansätze gegeben werden.

Um eine in anderen westlichen Nationen ausgeprägte strategische Kultur auch in Deutschland zu entwickeln, wäre es nötig, die strategic community, den Kreis sicherheitspolitisch Denkender, zu erweitern und mehr Abgeordnete des Deutschen Bundestages sowie Think-Tanks stärker in die Diskussion einzubinden. Mit vernetztem Wissen können vor allem Mitarbeiter von Think-Tanks, sozusagen als Grenzgänger Wissen transformieren, indem sie sechs Arten von Grenzen übertreten:

  • 1. Geografische Grenzen überschreiten: Wir sollten auf dem globalen Marktplatz der Ideen die besten Ideen für deutsche Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft nutzbar machen – zumal die meisten Lösungen gar nicht in einem rein nationalen Rahmen denkbar sind. Wir sollten nicht nur die strategischen Dokumente unserer Alliierten einbeziehen, sondern ebenso die Perspektiven aufsteigender Mächte mitdenken, weil auch deren Wahrnehmungen – egal wie richtig oder falsch sie aus unserer Sicht sein mögen – die globale Realität verändern werden.
  • 2. Fachdisziplinen- und Denkschulen-übergreifend arbeiten: Das jeweilige Problem bestimmt den Mix an nötigen Werkzeugen, nicht umgekehrt die Methode die Fragestellung – wie es noch immer an vielen deutschen Universitäten praktiziert wird. Think-Tanker werden dafür trainiert, Probleme pragmatisch zu analysieren und können das Modellieren möglichst abstrakter Denkgebäude und theoretische Puzzles ihren Kollegen an Universitäten überlassen, die dafür besser geschult sind.
  • 3. Ressortzuständigkeiten und Hierarchien überwinden: Oft scheitert auch in der Praxis die Verständigung an ressortspezifischen Interessen oder wenig kompatiblen Sprech- und Denkweisen, die in den verschiedenen Ministerien kultiviert werden. Think-Tanks können einen neutralen, hierarchiefreien Raum bieten, in dem sich politische Entscheidungsträger losgelöst von ihren institutionellen Zuständigkeiten über umfassende, ressortübergreifende Themen verständigen können.
  • 4. Über Märkte hinausdenken: Think-Tanks können Vertreter der Wirtschaft in die strategische Diskussion einbinden und ihnen verdeutlichen, dass politische Rahmensetzungen in anderen Ländern oder auf internationaler Ebene entscheidend für ihren langfristigen Geschäftserfolg sind – und nicht nur reine Marktanalysen.
  • 5. Dehnen technischer Grenzen: Cyber- und Energiesicherheit können durch Technologie verbessert werden. So zahlen sich Investitionen in Forschung und Entwicklung erneuerbarer Energien und energiesparender Technologien in Form von mehr Energiesicherheit aus.
  • 6. Überwinden sozialer Barrieren: Politikberatung dient nicht nur der Verständigung von Eliten. In einer Demokratie müssen Entscheidungen auch gerechtfertigt werden. Die Einsicht der Bürger, dass Politiker Unterstützenswertes leisten, hängt davon ab, ob Probleme und ihre Lösungen in verständlicher Sprache – über die Medien – kommuniziert werden.

In den USA sorgen Themennetzwerke sowie reger Personalaustausch und eine Drehtürkultur dafür, dass sich solche Grenzen erst gar nicht bilden. Zudem fördern Strukturen wie ein Nationaler Sicherheitsrat umfassendes Denken. In Deutschland müssen wir uns vorerst auf Ersatzvehikel wie den Weißbuchprozess beschränken, um eine strategische Kultur vernetzten Denkens zu befördern.

Institutionelle Anpassungen nötig

Neben der Erweiterung des Kreises der Diskussionsteilnehmer wären auch institutionelle Veränderungen hilfreich. Denkbar wären in der Exekutive ein Nationaler Sicherheitsberater mit einem entsprechenden interdisziplinären Mitarbeiterstab, eine neue, an außen- und sicherheitspolitische Aufgaben angepasste Ausschussstruktur im Deutschen Bundestag (dem zentralen Ort für Legitimation), Förderung neuer praxisorientierter Aufbaustudiengänge und Fortbildungseinrichtungen.

Dass wir nach wie vor ein Legitimationsdefizit in Deutschland haben, zeigte unter anderem der „Skandal“, der zum Rücktritt von Bundespräsident Horst Köhler führte. Es ist bezeichnend für die Nabelschau unseres politischen Diskurses, dass die Sicherung der Seewege wenige interessierte, als das Weißbuch 2006 aktualisiert wurde, jedoch ein Bundespräsident im Mai 2010 seinen Hut nehmen musste, als er in die mediale Bredouille kam, weil er das Offensichtliche sagte – dass eine Exportnation sich im eigenen und internationalen Interesse um die Sicherung der Handelswege kümmern muss. So kann man weder im atlantischen Bündnis noch in der Welt seiner Verantwortung gerecht werden, eine liberale Weltordnung aufrechtzuerhalten.

Im Januar 2014 mahnte der amtierende Bundespräsident Joachim Gauck bei der Münchner Sicherheitskonferenz die neue Verantwortung Deutschlands an – und musste dafür ebenso Vorwürfe der Kriegstreiberei hinnehmen. Doch zahlreiche sicherheitspolitische Krisen, die mittlerweile vor unserer Haustür angekommen sind, sollten uns Grund genug zum Nachdenken geben, wie wir eine Welt mitgestalten wollen, die unseren Werten und Interessen entspricht. Das zuletzt 2006 aktualisierte Weißbuch sollte künftig allgemeinverständlicher, an einen breiteren Kreis von Adressaten gerichtet und in kürzeren Intervallen fortgeschrieben werden, um Deutschlands sicherheitspolitische Strategie und Debatte kontinuierlich den veränderten sicherheitspolitischen Herausforderungen und Gestaltungsmöglichkeiten anzupassen. Das würde die Legitimation außen- und sicherheitspolitischen Handelns in der Fach-, Medien- und breiten Öffentlichkeit im In- und Ausland stärken. Vielleicht kommen wir damit unserem Fernziel einen weiteren Schritt näher: als weltoffene Handelsnation auch unserer sicherheitspolitischen Verantwortung in der Welt gerechter zu werden.

Dieser Text erschien am 12. Oktober als Gastbeitrag beim Handelsblatt sowie beim Bundesministerium der Verteidigung

Bibliografische Angaben

Braml, Josef. “Das Weißbuch – kein Buch der Weisen.” October 2015.

DGAPstandpunkt 6, 12. Oktober 2015, 3 S.

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