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23. Mai 2014

„Wir sind kein Schlachtfeld und schon gar nicht die Trophäe“

Andrii Deshchytsia, amtierender Außenminister der Ukraine

Wie kann die Ukraine ihre Souveränitätskrise überwinden? Welche Interessen verfolgt das Land als ein Subjekt der internationalen Politik? Und wie sieht es die europäische Sicherheitsarchitektur? Die Ukraine wünsche sich das Gleiche wie jede andere Nation auch, so Andrii Deshchytsia – Frieden und Wohlstand. Der Weg dorthin liegt für ihn in einer europäischen Perspektive.

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Die Ukraine wird häufig als ein Objekt der internationalen Großmächte bezeichnet. Welche Interessen verfolgt die Ukraine als ein Subjekt der internationalen Politik?

Es gibt keinen Grund, die Ukraine als Kampfplatz großer geopolitischer Mächte zu sehen. Wir sind kein Schlachtfeld und schon gar nicht die Trophäe. Wir sind ein normales europäisches Land, das sich das Gleiche wie jede andere Nation wünscht – Frieden und Wohlstand. Alle diese Ziele werden wir auch erreichen, wie unsere Nachbarn in Europa sie erreicht haben – durch eine friedliche Zusammenarbeit und eine europäische Perspektive. Unsere Ziele bleiben unverändert: die Integration in die Europäische Union (EU), das heißt die Unterzeichnung des Wirtschaftsteils des Assoziierungsabkommens, eine Freihandelszone zwischen der Ukraine und der EU und möglichst schnell eine Visafreiheit mit der EU.

Nach der Besetzung der Krim ergeben sich jedoch neue Prioritäten: die territoriale Integrität des Landes muss wieder hergestellt und gegen die russische Aggression muss Widerstand geleistet werden. Außerdem müssen wir eine Lösung für die Situation in den östlichen Regionen der Ukraine finden. Gleichzeitig sind diese Prioritäten eng mit den innenpolitischen Fragen verbunden: die Präsidentschaftswahlen müssen durchgeführt, internen Reformen umgesetzt, und die wirtschaftliche und finanzielle Lage stabilisiert werden.

In der Zukunft konzentrieren wir uns darauf, die partnerschaftlichen und nachbarschaftlichen Beziehungen zu Russland auf gleichberechtigter Basis zu erneuern. Allerdings ist dies keine unmittelbare Aufgabe. Die Voraussetzungen sind, dass Russland von seiner aggressive Politik gegenüber der Ukraine ablässt, der Besetzung der Krim aufgibt, der anti-ukrainischer Propaganda in den russischen Medien Einhalt gebietet und den beispiellosen politisch- diplomatischen, wirtschaftlichen und militärischen Druck abbaut.

Wie kann die Ukraine die Krise der Staatlichkeit und Souveränität überwinden?

Ich würde nicht von einer Krise der Staatlichkeit in der Ukraine sprechen. In der Ukraine arbeiten alle legitimen Organe, einschließlich der Regierung und des Parlaments. In wenigen Tagen finden die vorgezogenen Präsidentschaftswahlen statt. Der umfassende Demokratisierungsprozess hat begonnen. Er beinhaltet eine Verfassungsreform, die Dezentralisierung der Macht sowie einen gesamtukrainischen Dialog der nationalen Einheit. Das ukrainische Volk sieht das Land vereint und unteilbar. Laut den jüngsten Umfragen befürworten mehr als 73 % der Befragten eine vereinte Ukraine, inklusive des Ostens und Südens. Darüber hinaus haben die Umfragen gezeigt, dass 72,8 % der Bewohner der Region Donezk und 70,1 % der Bewohner der Region Lugansk die territoriale Integrität der Ukraine unterstützen.

Es geht hierbei also nicht um eine interne Staatskrise, sondern um einen externen Konflikt mit einer Macht, die den Erfolg der Ukraine nicht zulassen will. Diese Krise wird überwunden, wenn die Russische Föderation ihre destruktive Politik beendet und in den Verhandlungsrahmen der internationalen Beziehungen zurückkehrt. Wir bestehen darauf, dass Russland die Besatzung der Krim aufgibt, sich von den Terroristen distanziert, Truppen von der Grenze mit der Ukraine abzieht und Provokationen an der Grenze nicht zulässt. Russland soll seine Verpflichtungen laut Genfer Abkommen erfüllen und nicht mehr versuchen, die Situation in unserem Land zu destabilisieren.

Die europäische Sicherheitsarchitektur scheint nicht mehr stabil zu sein. Welche Rolle in den Augen der Ukraine spielen internationale Organisationen wie z.B. die OSZE?

In dieser Krise der modernen Sicherheitsarchitektur spielen die internationalen Organisationen eine entscheidende Rolle. Alle internationalen Partner verstehen heute, dass Russland die gesamte internationale Gemeinschaft herausfordert. Dies zeigt die Unterstützung für die Position der Ukraine in allen wichtigen internationalen Organisationen von der UNO über die EU bis hin zum Europarat oder der OSZE. Die Ukraine begrüßt die aktive Position der OSZE bei der Umsetzung des Genfer Abkommens vom 17. April. Eine von der OSZE vorgeschlagene Roadmap kann ein Hilfsmechanismus für die Umsetzung des Genfer Abkommens werden. Es ist jedoch wichtig, klare Verpflichtungen für die Russische Föderation zu definieren.

Heute brauchen wir ein gemeinsames und entschlossenes Handeln der internationalen Gemeinschaft, um die aggressive Politik des Kremls zu stoppen und sie in einen zivilisierten internationalen Rechtsrahmen zu leiten. Die Welt muss verstehen, dass die aktuellen Aktionen von Russland nicht nur der Ukraine „Kopfschmerzen“ bereiten. Mit diesen Aktionen wird das gesamte System der internationalen Beziehungen herausgefordert, das seit dem Zweiten Weltkrieg entstanden ist.

Stabilisierung der Wirtschaft: Was kann die internationale Gemeinschaft für die wirtschaftliche Stabilisierung der Ukraine unternehmen?

Die Ukraine braucht für ihren Erfolg drei Dinge - Reformen, Frieden und die internationale Unterstützung. Das Land ist moralisch und politisch für radikale Reformen bereit. Einige von ihnen werden bereits verwirklicht, andere sind auf dem Vormarsch. Das Parlament und die Regierung zeigen starken politischen Willen. Ich habe keinen Zweifel, dass auch der neue Präsident diesen Willen haben wird. Dennoch ist der Frieden die wichtigste Voraussetzung für die vollständige Umsetzung der notwendigen Reformen. Die Verwirklichung dieser Ziele ist ohne internationale Unterstützung nicht möglich. Diese Unterstützung kann in Form von Sanktionen und andere Druckmittel erfolgen.

Die Ukraine ist heute zu einem Vorposten der Demokratie geworden. Hier entscheidet sich nicht nur das Schicksal der ukrainischen Demokratie, sondern auch die Zukunft des internationalen Friedens, Stabilität und Balance. Deshalb glaube ich, dass wir auf eine umfassende Unterstützung zählen können. Wenn die Ukraine die Zusammenarbeit mit dem IWF wieder aufgenommen hat, gibt es große Chancen zur Stabilisierung. Wir haben ein umfassendes Programm für Wirtschaftsreformen vorgelegt. Es wird in den nächsten zwei Jahren durch einen IWF-Kredit in Höhe von 17,01 Milliarden. Dollar unterstützt. Darüber hinaus erhält die Ukraine Unterstützung von der Europäischen Union und der Weltbank.

Hoffentlich haben alle diese Faktoren einen positiven Effekt. Der Wirtschaftsmotor wird angekurbelt und die Ukraine wird sich als ein erfolgreiches, demokratisches, europäisches Land etablieren, mit der Perspektive ein sicherer Investitionspartner zu werden. Ich bin überzeugt, dass das ukrainische Volk und der ukrainische Staat aus der aktuellen Krise gestärkt hervorgehen werden, weil wir den höchsten Preis für eine bessere Zukunft in einem vereinten Europa bezahlt haben.

Welche besonderen Projekte erwarten Sie von der EU für die Entwicklung der ukrainischen Gesellschaft?

Die Entwicklung der Zivilgesellschaft ist für alle Staaten, die durch den Schmelztiegel der sowjetischen Vergangenheit gegangen sind, sehr wichtig. Die Umsetzung der notwendigen demokratischen Reformen in diesen Ländern ist durch die unmittelbare Unterstützung der entwickelten Zivilgesellschaft geschehen.

Das wichtigste Ergebnis der „Revolution der Würde“ vom Euromaidan ist die Geburt einer neuen ukrainischen Zivilgesellschaft, die eine klare Haltung zur Zukunft seines Landes hat. Daher entsprechen die Reformen der ukrainischen Regierung der neuen Realität und den neuen Erwartungen der Öffentlichkeit. Sie sind auf unser gemeinsames Ziel gerichtet: Den Aufbau eines wirksamen, demokratischen Staates nach europäischem Vorbild, in dem der Mensch mit seinen Rechten und Freiheiten das höchste Gut sind.

Die Unterstützung unserer europäischen Partner ist in diesem Prozess sehr wichtig. Ein gutes Beispiel ist die Vereinbarung mit der EU zur Unterstützung der Zivilgesellschaft in der Ukraine, die im Moment vorbereitet wird. Die Zivilgesellschaft soll befähigt werden, die demokratischen Reformen und die sozioökonomischen Entwicklung in der Ukraine voranzutreiben. Das Budget des Programms beträgt 10 Millionen Euro. Die Zivilgesellschaft soll an der Umsetzung der Reformen in der Ukraine beteiligt werden und die Qualität der öffentlichen Politik beeinflussen.

Die vor kurzem unterzeichnete Vereinbarung mit der Europäischen Union über die Finanzierung des Staatsaufbaus schreibt ebenfalls die Entwicklung eines Dialogs mit der Zivilgesellschaft fest und verleiht ihr entsprechende Kontrollfunktionen. Unsere Bürger erhalten besseren Zugang zu öffentlichen Informationen einschließlich Haushaltsfragen. Die Vereinbarung unterstreicht außerdem die Rolle der Zivilgesellschaft beim Monitoring der Verwaltungs- und Verfassungsreform, bei der Harmonisierung der Wahlgesetze und bei der Korruptionsbekämpfung. Ich hoffe, dass die aktive Rolle der Zivilgesellschaft zu der treibenden Kraft wird, die dem Aufbau eines neuen europäischen Modells der Ukraine helfen wird.

Bibliografische Angaben

DGAP-Interview, 23. Mai 2014

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