Frankreichs Sozialsystem vom Rotstift bedroht

Familiensplitting und Renten im Fokus / Kürzungen schüren EU-Skepsis der Franzosen

Bei der Bekämpfung von sozialer Ungleichheit gilt Frankreich als Erfolgsmodell unter den OECD-Ländern. Doch der Bedarf an sozialen Leistungen steigt, die Staatseinnahmen stagnieren. Um die Brüsseler Haushalts- und Reformauflagen zu erfüllen, soll bei den Sozialausgaben der Rotstift angesetzt werden. „Verliert der französische Sozialstaat seine Ausnahmestellung, werden die Franzosen die EU noch stärker mit sozialem Rückschritt verbinden“, warnt Arnaud Lechevalier in einer aktuellen DGAP-Studie.

Anders als in den meisten OECD-Ländern hat sich in Frankreich die Einkommensungleichheit von Mitte der 80er Jahre bis zum Beginn der Krise 2008 nicht verschärft. „Während andernorts die Niedrigeinkommen massiv gesunken sind, ist der Lebensstandard der Geringverdiener bis zur Krise in Frankreich schneller gestiegen als der der Mittelschicht“, sagt Arnaud Lechevalier, Gastprofessor an der Europa-Universität Viadrina.

Der Sozialökonom führt dies auf die Umverteilungskraft des französischen Sozialsystems und auf den Mindestlohn zurück. Dank hoher Ausgaben – die staatlichen Ausgaben für Sozialleistungen entsprechen mehr als einem Drittel des BIP – gelinge es, das Armutsrisiko bemerkenswert zu senken: Ohne Steuern und Sozialtransfers zählt die Armutsquote Frankreichs mit 37,6 Prozent zu den höchsten in den OECD-Ländern (Deutschland: 35,6 Prozent; Dänemark: 24 Prozent; 2009). Nach Steuern und Sozialtransfers fällt sie auf 14,0 Prozent zurück.

Umverteilungskraft des französischen Sozialsystems schwindet

Seit Ausbruch der Krise schwindet die Umverteilungskraft des französischen Staates jedoch – sowohl auf der Abgabenseite als auch bei den Leistungen für Geringverdiener. Die Einkommens- und Vermögenssteuer wurde bereits unter Präsident Sarkozy vereinfacht, Grenz- und Durchschnittssteuersätze gekürzt. Und die Sozialleistungen steigen weniger schnell als die Einkommen. „Das betrifft besonders Geringverdiener“, so Arnaud Lechevalier.

Kürzungen der Sozialleistungen schüren EU-Skepsis

Trotz höherem Mindestlohn und besseren Zuverdienstmöglichkeiten steigt der Bedarf an sozialen Leistungen. Die Brüsseler Auflage, das laufende Haushaltsdefizit auf 3 Prozent des BIP zu verringern, wurde bereits verschoben. Doch da die französische Wirtschaft immer tiefer in die Rezession rutscht, stehen die Sozialausgaben nun vor der Abmagerungskur. Präsident François Hollande hat Reformen der Grundrenten sowie des Familiensplittings angekündigt. Ein Gesetz, das den Arbeitsmarkt weiter flexibilisiert, ist bereits verabschiedet worden. „Frankreich galt lange als Erfolgsmodell für die Begrenzung von Einkommensungleichheit und Armut“, so Arnaud Lechevalier. „Verliert Frankreich diese Ausnahmestellung, wird die Bevölkerung die EU noch stärker mit sozialem Rückschritt in Verbindung bringen.“
 


Zum Download:
DGAPanalyse 4/2013 (PDF-Dokument)
Ende einer Ausnahme? Der französische Sozialstaat im Wandel
von Arnaud Lechevalier

Arnaud Lechevalier ist Gastprofessor an der Europa-Universität Viadrina und forscht am Centre Marc Bloch in Berlin.

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