Europa hat Widerstandskraft
Europa hat gewählt, und das Ergebnis fällt anders aus als erwartet. Das Zentrum hält sich, aber es ist neu besetzt. Populisten sind erstarkt, aber die befürchtete Welle war das nicht. Was diese Wahl bedeutet, und was die EU nun tun müsste: ein IP-Interview mit der Direktorin der DGAP, Dr. Daniela Schwarzer.
IP: Was sind, ganz kurz gesagt, die drei wichtigsten Erkenntnisse aus dieser Wahl?
Dr. Daniela Schwarzer: Erstens eine gute Nachricht: Europa hat Widerstandskraft. Die Wahlbeteiligung ist in vielen EU-Staaten angestiegen, in Deutschland von 48 auf 61.5 Prozent. Die Bürgerinnen und Bürger haben Umfragen zu Folge mehr als in vorherigen Wahlen tatsächlich über Europa abgestimmt, und nicht vornehmlich nationale Politiker sanktioniert. Bei der Europawahl 2019 war klar: Es geht um sehr viel. Zweitens haben die europaskeptischen Rechtspopulisten weniger stark abgeschnitten als befürchtet wurde. Die große Mobilisierung hat das politische Zentrum gestärkt. Und doch ist drittens das alte Parteiengefüge unaufhaltsam im Umbruch. Die Parteienlandschaft ist zersplittert, das Zentrum strukturiert sich neu. Dies bestimmt ab sofort auch die Kräfteverhältnisse im Europäischen Parlament. Die „Große Koalition“ reicht auch dort nicht mehr zur Mehrheitsbildung.
IP: Erfordert dies eine andere Art von Politik?
Schwarzer: Es müssen mehr Akteure mit an Bord gebracht werden. Die gemäßigten Parteien können das als Chance für eine sachorientiertere Politik nutzen, teils auch mit wechselnden Mehrheiten. So könnten große Themen vorangebracht werden und auf vielfältige Art und Weise in die nationalen politischen Arenen zurückwirken. Der wichtigste Test dafür ist das notwendige Umsteuern in der Klimapolitik.
IP: Für wie groß halten Sie die Bedrohung durch diejenigen, welche die EU von innen zerstören wollen?
Schwarzer: Von der AfD über Salvinis Lega bis hin zu Marine Le Pens rechtsextremen Rassemblement National sind EU-feindliche Kräfte angetreten, das EU-System von innen zu verändern, oder gar zu zerstören. Auch wenn sie weniger Sitze gewonnen haben, als befürchtet wurde, können sie über ihre Präsenz im Europäischen Parlament, aber auch im Rat und in der künftigen Kommission das System behindern oder sogar blockieren. Mit ihnen muss sehr bewusst die politische Auseinandersetzung gesucht werden. Oftmals verlieren Rechts- und Linksextremisten an Attraktivität, wenn sie in politische Verantwortung kommen und dann ihre teils völlig unrealistischen Versprechen als solche entlarvt werden. Interessant ist, dass kaum eine Partei mehr den Austritt des eigenen Landes aus der EU propagiert – das Brexitdrama ist vielen eine große Lehre.
IP: Wird das reichen? Muss die EU nicht mehr tun, um sich selbst zu erhalten?
Schwarzer: Sie muss viel ernsthafter auf die Sorgen derjenigen reagieren, die sich von Europäisierung und Globalisierung, von technologischen Umbrüchen und hochmobilen Politik- und Wirtschaftseliten abgekoppelt und nicht verstanden fühlen. Das ist allerdings nicht nur eine Aufgabe für die EU, sondern ganz besonders auch für die nationale Politik. Das Wirksamste, was die Politiker, die Europa für die Lösung und nicht das Problem halten, jetzt tun können ist, Handlungsfähigkeit zu beweisen! Dazu gehört auch, das große Ganze und insbesondere die Umbrüche im internationalen System in den Blick zu nehmen. Gerade die globalen Herausforderungen machen deutlich, warum es kein EU-Staat alleine besser schaffen würde, sich zu behaupten, als die EU gemeinsam.
IP: Sehen Sie die EU nur von innen bedroht?
Schwarzer: Nein. Die EU muss weiterhin sehr genau beobachten, welche externen Akteure destabilisierend wirken. Russland tut dies im Inneren der EU etwa durch Desinformationskampagnen und andere Methoden hybrider Kriegsführung. China nimmt politisch Einfluss auf Staaten in der EU, etwa nachdem chinesische Direktinvestitionen ins Land geflossen sind. Das Abstimmungsverhalten einiger EU-Staaten zu Menschenrechtsfragen untermauert diese These in erschreckender Form. Fakt ist: Die EU befindet sich inmitten eines Systemwettbewerbs, in dem westliche liberale Demokratien herausgefordert sind. Sie hat Feinde und Herausforderer, die triumphieren, wenn sie schwächelt. Es wird eine sehr wichtige Aufgabe bleiben, diese zu entlarven und zurückzudrängen.
IP: Nach diesem Wahlausgang dürfte der EU ein nie dagewesener parteipolitischer Machtkampf blühen. Wie wird sich das auf Europas Handlungsfähigkeit auswirken?
Schwarzer: Polarisierung und Zersplitterung nehmen zu, auch im Europäischen Parlament. Doch das politische Zentrum hat eine Mehrheit von mindestens 505 von den 751 Sitzen und kann handeln – wenn es denn will. Interessant wird die Zusammensetzung der Europäischen Kommission. Die derzeitigen Regierungen in Ungarn, Polen und Italien werden keine EU-Freunde als Kandidaten ins Rennen schicken – so wachsen auch unter den Kommissarinnen und Kommissaren die Gegensätze.
IP: Was heißt das für den Europäischen Rat?
Schwarzer: Der Rat braucht in dieser Situation einen starken und weitsichtigen Vorsitz, um die Staats- und Regierungschefs auf gemeinsames Handeln zu verpflichten. Gleichzeitig muss er verhindern, dass im Institutionendreieck die langfristig so wichtigen supranationalen Elemente – Kommission und Parlament – untergraben und geschwächt werden. Kommt die EU im Gemeinschaftsverfahren nicht voran, werden die Staaten verstärkt in Kleingruppen zusammenarbeiten. Hierbei kann kurzfristiger Pragmatismus allerdings langfristig Kohäsion gefährden. Das kann passieren, wenn die verstärkte Zusammenarbeit andere ausgrenzt oder von Nicht-Beteiligten auch nur so wahrgenommen wird. Wenn differenzierte Integration zum Motor von Desintegration wird, ist sie schlecht gemacht.
IP: Angela Merkel und Emmanuel Macron haben sich im Wahlkampf vermehrt auch gegeneinander gestellt. Erwarten Sie, dass Deutschland und Frankreich nun wieder stärker an einem Strang ziehen? Werden sie das sogar müssen, um sich einer erstarkten Allianz von Rechtspopulisten entgegenzustellen?
Schwarzer: Die Verbindung von Macrons Partei La République en Marche mit den europäischen Liberalen, ALDE, zu denen auch die deutsche FDP gehört, hat es in den letzten Wochen des Wahlkampfs schwieriger für beide gemacht, geeint aufzutreten. Aber das derzeitige Schattendasein der deutsch-französischen Regierungskooperation darf nicht allein auf den Wahlkampf geschoben werden. Seit Macron mit einem ambitionierten Europaprogramm 2017 zum Staatspräsidenten gewählt wurde, sind Berlin und Paris nicht weit gekommen. Das liegt nicht nur daran, dass die Bundesregierung nicht mit einem vergleichbaren Willen des Zupackens und einem deutlich niedrigeren Ambitionsniveau geantwortet hat.
IP: Haben die beiden Länder, obwohl enge Partner, nicht auch oft einfach große Auffassungsunterschiede?
Schwarzer: Ja und das ist keineswegs etwas Neues. Offensichtlich investieren aber beide Seiten derzeit zu wenig in die Kärnerarbeit, also einen deutsch-französischen Konsens als Grundlage europäischer Kompromisse zu erarbeiten und andere früh mit in die Diskussion einzubeziehen. Das werden sie aber tun müssen, um voran zu kommen und so der Bevölkerung zu zeigen, dass die EU angesichts der inneren und äußeren Herausforderungen handlungsfähig ist. Gelingt das nicht, stärkt es diejenigen Kräfte weiter, die die EU als nutzlos oder sogar bedrohlich für die nationale Problemlösungsfähigkeit darstellen.
IP: Wie ordnen Sie das Wahlergebnis denn mit Blick auf die Reformfähigkeit der EU ein? In welchen Bereichen sind Reformen nun am wahrscheinlichsten, wo nicht?
Schwarzer: Die EU wird in absehbarer Zeit keine größere Vertragsreform anstreben. Einerseits, weil angesichts europaskeptischer Regierungen Kompromisse in weiter Ferne liegen, andererseits aus Angst vor dem Scheitern in den nationalen Ratifizierungsverfahren. Mit anderen Worten: Es wird keine relevanten Reformen der Institutionen geben und keine neue Vergemeinschaftung von Politiken, die die Verträge bislang nicht abdecken.
IP: Was kann und muss es stattdessen geben?
Schwarzer: Entscheidend sind Weiterentwicklungen unterhalb der Primärrechtsebene, um die EU zukunftsfähig zu machen. Dazu gehört eine robustere Eurozone durch eine Vervollständigung der Bankenunion und einen grenzüberschreitend tieferen und effizienteren Kapitalmarkt. Dies ist nicht nur wichtig für den Erhalt der Eurozone, weil so die private Risikoteilung verstärkt wird, sondern auch für die unternehmerische Wettbewerbsfähigkeit. Besserer Zugang zu Kapital ist gerade für innovationsstarke, jüngere Unternehmen entscheidend. Europa hinkt den USA in diesem Punkt entscheidend hinterher. Das ist nur ein Teil der notwendigen Schritte im Umbau des europäischen Wirtschafts- und Sozialmodells, das aufgrund der technologischen Revolution und externer Herausforderungen notwendig ist. Dazu gehört übrigens auch eine zukunftsgewandte europäische Forschungs- und Innovationspolitik.
IP: Und wenn wir den Blick etwas weiten – sehen Sie die EU als einen globalen Akteur …?
Schwarzer: Nun – im globalen Großmächtewettwerb und angesichts der Umbrüche im internationalen System muss die EU neben ihrer inneren Konsolidierung dringend nach außen stärker auftreten. Es geht um den gemeinsamen Rückgewinn von Souveränität und Handlungsfähigkeit, auch um ein verlässlicher Bündnispartner zu bleiben, etwa in der NATO. Um das internationale System von morgen mitzugestalten – ganz besonders auch in Bereichen wie Technologie und Digitalisierung – muss die EU über einen Zugewinn an Wettbewerbsfähigkeit und Innovationsstärke eine Position festigen, die es ihr erlaubt, an der globalen Regelsetzung und Definition von Standards mitzuwirken. Hierbei geht es nicht nur um technische Details, sondern um Fragen, die tief in den Bereich der Bürgerrechte hineinreichen. Hier wie in anderen Bereichen, etwa der Sicherheit und Verteidigung, sollte die EU übrigens mit Großbritannien, wenn es die EU absehbar verlässt, eng strategisch zusammenarbeiten.
Die Fragen an Daniela Schwarzer stellte Martin Bialecki, Chefredakteur