Kommentar

07. Juli 2016

Gerade jetzt: Der Westliche Balkan braucht eine klare EU-Perspektive

Nach dem Brexit-Referendum wird die EU in den kommenden Jahren mit inneren Debatten und dem Ringen um die Zukunft der europäischen Einigung beschäftigt sein. Eine Erweiterung um die Staaten des Westlichen Balkans rückt damit in weite Ferne. Ohne eine klare Mitgliedschaftsperspektive drohen jedoch gefährliche Rückschritte in der demokratischen und friedlichen Entwicklung der gesamten Region.

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Bereits vor dem Brexit-Referendum standen der Westliche Balkan und die EU-Erweiterung nicht oben auf der Agenda der europäischen Entscheidungsträger. Spätestens mit Einsetzen der Wirtschafts- und Finanzkrise sowie drohenden Austritten war die EU vornehmlich mit ihrer inneren Verfasstheit beschäftigt. Dies beanspruchte nicht nur Kräfte und Ressourcen; bei steigendem Euroskeptizismus in den Bevölkerungen erschien es für die Regierungen auch innenpolitisch wenig opportun, eine proaktive Erweiterungspolitik zu verfolgen. So stagnierte der Erweiterungsprozess, worüber auch kleinere Erfolge nicht hinwegtäuschen können. Der von der EU angetriebene Dialog zur Normalisierung der Beziehungen zwischen Belgrad und Pristina und der so genannte Berlin-Prozess, eine Konferenzserie, bei der zuletzt am 4. Juli 2016 in Paris die Staats- und Regierungschefs aller Westbalkanländer zusammenkamen, bringen beispielsweise kaum substanzielle Fortschritte.

Mit Serbien und Montenegro wird zwar verhandelt, jedoch ist ein erfolgreicher Abschluss nicht absehbar. In Albanien wird derzeit um eine Justizreform gerungen, die nur die erste Voraussetzung für die Öffnung von Verhandlungskapiteln ist. Solange Kosovo nicht von allen EU-Staaten anerkannt wird, ist ein Beitritt nicht möglich. Bosnien-Herzegowina ist praktisch nicht regierbar und noch immer unter internationaler Vormundschaft. In Mazedonien legt derzeit eine Staatskrise das gesamte Land lahm. Das einzige Ziel, dass die Länder in der Region eint und zumindest vordergründig stabilisiert, ist eine EU-Mitgliedschaft und die damit verbundenen Hoffnungen auf Wohlstand und Prosperität. Mit dem Sieg des Brexit-Lagers beim Referendum in Großbritannien ist dieses Ziel in noch weitere Ferne gerückt.

Unabhängig von den konkreten Folgen des Referendums: In den nächsten Jahren wird die EU vornehmlich mit sich selbst beschäftigt sein. Die Austrittsverhandlungen zwischen der EU und Großbritannien sowie die sie begleitenden Debatten um mehr oder weniger Europa, eine mögliche Unabhängigkeit Schottlands und das Propagieren weiterer Referenden durch rechtspopulistische Parteien wird die Tagesordnung bestimmen. In der EU wird es darum gehen, das Projekt der europäischen Einigung zu verteidigen und bereits gewonnene Errungenschaften zu retten. In dieser Situation werden weder die Regierungen der Mitgliedstaaten noch die Bevölkerungen ein überbordendes Interesse an einer zügigen Erweiterung der EU haben, zumal die Staaten des Westbalkans wirtschaftlich schwach und diverse bilaterale Streitigkeiten in der Region nicht gelöst sind; die EU wird zunächst versuchen, ihre eigenen Probleme zu lösen, bevor sie sich anderen zuwendet.

Diese Politik birgt Risiken. Schon jetzt zeigt sich, welche Folgen ein stagnierender Erweiterungsprozess haben kann: Insbesondere in Mazedonien, doch auch in anderen Ländern des Westlichen Balkans gibt es Rückschritte in der Demokratisierung der politischen Systeme; autoritäre Tendenzen der Regierungen und Angriffe auf die Pressefreiheit sind nur einige Symptome. Die Eliten haben sich gut im Status quo eingerichtet; Bekenntnisse zu Reformen reichen meist nur so weit, dass eigene Pfründe nicht gefährdet werden. Ohne eine starke Präsenz der EU und den Willen, die politischen Prozesse in der Region zu begleiten, drohen weitere demokratische Rückschritte sowie letztendlich eine Destabilisierung des gesamten Westlichen Balkans. Noch hat die EU in ihren Bemühungen um Reformen einen Großteil der Bevölkerungen hinter sich; doch im Zuge der Stagnation und enttäuschter Hoffnungen ist hier bereits ein Rückgang zu verzeichnen. Mit einer EU, die kaum mehr über ihre Grenzen hinausschaut, wird die Frustration weiter steigen. Andere „global player“, wie vor allem Russland, stehen gerne bereit, um dieses Vakuum zu füllen und ihre Einflusssphäre auszuweiten.

Die EU muss in den nächsten Jahren viele Kräfte mobilisieren, um ihren inneren Zusammenhalt sicherzustellen. Sie darf dabei jedoch den Westlichen Balkan nicht außer Acht lassen: Eine fehlende Beitrittsperspektive bedroht die demokratische und friedliche Entwicklung in der Region. Zudem besitzt die EU im Westlichen Balkan nach wie vor Strahlkraft und die Konditionalität der Erweiterungspolitik ist ein wirksamer Mechanismus für Reformen. Die EU sollte die Integration des Westlichen Balkans nutzen, um der Krise neue Erfolge entgegenzusetzen.

Bibliografische Angaben

Wohlfeld, Sarah. “Gerade jetzt: Der Westliche Balkan braucht eine klare EU-Perspektive.” July 2016.

DGAPstandpunkt 7, 2016, 2 S.

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