Online Kommentar

29. Okt. 2021

Für eine Aufholjagd in der europäischen Halbleiterindustrie braucht es Chipfabriken

IT Firma Bild eines Microchips auf einer Laptoptastatur.

Intel will eine Chipfabrik in Europa bauen. Das würde Milliardensubventionen kosten, doch die lohnen sich und sind sogar unumgänglich, will der Kontinent in der Halbleitertechnologie nochmal aufholen, sagen SPRIND-Chef Rafael Laguna und Erich Clementi von der DGAP im Gastbeitrag für Tagesspiegel Background. 

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Beim Thema digitale Souveränität herrscht in Europa ein breiter Konsens: Das Ziel der EU muss es sein, die Kontrolle über ihre Daten und die Privatsphäre ihrer Bürger zu verteidigen, und wirtschaftlich weitgehend selbstbestimmt handeln zu können. Die Digitalisierung verändert jede Industrie mit hohem Tempo, etabliert neue Betriebe und gefährdet die, die sich nicht verändern. Allem zugrunde liegen Halbleitertechnologien, Chips eben. Software braucht Hardware, und Chips sind die Grundbausteine für alles Digitale.

Europa verfügt über ausgezeichnete Forschungs- und Entwicklungseinrichtungen, produziert heute aber Chips, die vor zehn Jahren mal Weltklasse waren. Der Rückstand ist groß und das selbst gesteckte Ziel der EU, bis 2030 wieder Anschluss an die Weltspitze in KI, Hochleistungsrechenzentren, Microprozessordesign und Fertigung zu schaffen, erscheint kaum erreichbar.

Der Wandel der Halbleiterindustrie

Anfang der 2000er Jahre hatte Europa die berechtigte Hoffnung, mit dem GSM-Standard und der ARM-Architektur den Mobiltelefonmarkt zu dominieren und dass sich das mit Nokia, Ericsson, ARM und Siemens auch in der Wertschöpfungskee niederschlägt. Die Halbleiter für deren Handys wurden allerdings hauptsächlich von US-amerikanischen und asiatischen Firmen gebaut. Qualcomm und Samsung wuchsen zu gewaltigen Konzernen heran.

Doch mit den Smartphones wurden die Kundenschnittstelle und die Wertschöpfung neu definiert: Apps und Internetzugang wurden entscheidend, Telefonieren wurde ein Feature unter vielen. Die Folge: Nokia, Ericsson und Siemens standen im Abseits, die „profit pools“ wanderten in die USA, die Hardware-Produktion der Handys in die Billiglohnländer in Asien. Auch bei den neu entstehenden Spezialprozessoren für Computergrafik und KI ging Europa leer aus. Dessen Halbleiterindustrie spezialisierte sich auf Spezialchips für lokale Märkte und verlor so den Anschluss an die technologische Spitze in der Chipproduktion. Nur das niederländische Unternehmen ASML mit der herausragenden Marktposition in der Lithographie spielt heute bei der Fertigungstechnik für Chips in der Spitzenklasse mit.

Die Halbleiterindustrie hat auf den Konkurrenzkampf und die technologiegetriebene Kostensteigerung in der Fertigung mit einer zunehmenden Arbeitsteilung und Spezialisierung reagiert. Viele Halbleiterhersteller konzentrieren sich auf die Entwicklung und überlassen die Produktion spezialisierten Betrieben, die über Auragsbündelung ihre gewaltigen Fixkosten stemmen können. Das neue Geschäftsmodell hat die Markteintrisbarrieren gesenkt und zu einer erhöhten Vielfalt von Unternehmen geführt, die eigene Chips entwickeln, wie Apple, Google und Tesla. Auch Volkswagen hat die Absicht verkündet, dies zu tun.

Die Entwicklung von Halbleitern ist ein komplexes Zusammenspiel. Unternehmen liefern sich gegenseitig Innovationen und sind zugleich untereinander von den Fortschrien abhängig. Ohne Fabrikation und Zugriff auf die hochkomplexen und teuren Anlagen wird Forschung erschwert. Wie man in den USA sagt: „move production and innovation follows“. So geschehen in Richtung Asien. Vor Jahrzehnten haben europäische und amerikanische Unternehmen den Grundstein für die asiatische Industrie gelegt, indem sukzessiv immer höherwertige Prozesse ausgesiedelt wurden. Inzwischen werden mehr als 90 Prozent der leistungsfähigsten Chips in Taiwan und Südkorea gebaut – mien in einem geopolitisch nicht unkritischen Raum.

Wie EU und USA aufholen wollen

Die EU hat inzwischen erkannt, wie wichtig Innovation und Wachstum in diesem Bereich für den Wirtschaftsraum sind, und ambitionierte Ziele verkündet. Mit dem im September angekündigten „EU Chips Act“ sollen Forschung und Entwicklung, Chip-Design und -Fabrikation massiv gefördert werden. Auch wird die Notwendigkeit internationaler Kooperation betont: Alleine scha es kein Wirtschaftsraum.

Die USA sind zu ähnlichen Schlussfolgerungen gekommen: Allerdings führen sie in weiten Bereichen der Halbleiterindustrie und müssen „nur“ im Fabrikationsbereich wieder an die Weltspitze. Dazu wurde der „US Chips Act“ mit einem Umfang von mehr als 50 Milliarden US-Dollar im US-Senat bereits verabschiedet.

Vor diesem Hintergrund findet derzeit eine Diskussion zu den Handlungs- und Förderprioritäten und besonders zur möglichen Ansiedlung einer technologisch führenden Chipfabrik von Intel in Europa sta. Intels erklärte Absicht ist es, zukünftig Chips mit einer dann weltweit führenden Strukturgröße im Bereich von zwei bis drei Nanometern in Europa herzustellen und eine Auftrragsfertigung für den Drimarkt zu etablieren.

Eine einmalige Chance für Europa. Warum sollte das gefördert werden?

Erstens, weil autonomes Aufholen nahezu unmöglich ist. Kein europäisches Unternehmen kann die nötigen Ausgaben für solch eine Fabrik allein erbringen. Zudem fehlen die Absatzmärkte und das technologische Know-how. Die Tatsache, dass ein Hersteller wie Intel in Europa produzieren und einen beträchtlichen Teil der Kosten über den Export abdecken will, kann es der europäischen Industrie ermöglichen aufzuholen – bei richtiger Gestaltung der Zusammenarbeit.

Zweitens, weil die Nachfrage nach Hochleistungschips, die bei künftigen Sprunginnovationen mutmaßlich entstehen wird, exponentiell verläuft. Die Batterieherstellung für Elektrofahrzeuge ist eine gute Parallele dafür. Anfänglich sollte diese China überlassen werden, heute gilt sie der Europäischen Kommission als ein „Important Project of Common European Interest“. Auch bei der Cloud und beim autonomen Fahren versucht Europa eine Aufholjagd. Bei aller Zukunftsmalerei wissen wir, dass dafür im Auto zwei oder drei Supercomputer verbaut werden müssen, die imstande sind, die Flut an Kamera- und Sensorendaten zu verarbeiten. Ist autonomes Fahren erstmal Realität, wird es sich nicht auf die obere Automobilklasse beschränken.

Auch der Mobilfunk wird eine große Nachfrage entwickeln. Die massive Ausweitung der Kommunikationsbandbreiten durch 5G und nachfolgende Mobilfunkgenerationen werden aufgrund ihrer geringeren Reichweite und der dadurch erforderlichen, höheren Anzahl der Zellen deutlich energieeffizientere und leistungsstärkere Chips benötigen. Und auch Künstliche Intelligenz durchdringt immer mehr industrielle Anwendungsbereiche. Man spricht von ‚embedded AI‘, also hochspezialisierte Chiparchitekturen mit enormen Datenverarbeitungskapazitäten in den Endgeräten. Diese setzen technologisch führende Strukturbreiten voraus, um die erforderliche Menge an Rechnerleistung und Speicherkapazität energieeffizient liefern zu können.

Drittens, weil die neuen Anwendungsbereiche neue Technologien erfordern, und führende Technologien nur bei engster Zusammenarbeit in allen Teilen der Wertschöpfungskee geschaffen werden können.

Ringen um ARM und neue Chipstandards

Die europäische Industrie ist heute stark abhängig vom britischen Unternehmen ARM, in dessen Lizenz die Mehrzahl der heutigen Mikroprozessoren und -controller entwickelt werden – und um dessen Übernahme sich das US-Unternehmen Nvidia bemüht. Nvidia hat den Wert von ARM und dessen Ökosystems erkannt und mit 38 Milliarden US- Dollar bewertet. Die Zustimmung der Webewerbsbehörden steht zwar noch aus, aber nach einer Übernahme wäre ARM kein neutraler Teil der Lieferkee mehr.

Um die Abhängigkeit von ARM zu verringern, beteiligen sich derzeit große Teile der Chipindustrie am Auau des nächsten Chipstandards, RISC-V genannt. RISC-V verringert nicht nur Abhängigkeiten, sondern hat aufgrund der Offenheit des Designs und der dazugehörigen Lizenzen eindeutige Vorteile. Mit Open Hardware zeichnet sich eine Entwicklung ab, wie sie in der Informationstechnologie durch Open Source Software bereits geschehen ist.

Das führt zu Viertens: Die Zusammenarbeit führender europäischer Forschungseinrichtungen wie Fraunhofer IPMS in Dresden, IMEC in Brüssel und CEA-Leti in Grenoble mit einer Intel Fabrik ermöglicht Zugriff auf sonst unerschwingliche Produktionseinrichtungen und auf Produktions-Know-how. Diese Zusammenarbeit sollte ausgeweitet werden auf Forschungs- und Entwicklungsinstitutionen in den USA, um den Know-how-Transfer noch weiter zu verbessern.

Milliardensubventionen lohnen sich

Chipfabriken sind extrem teuer und hochkomplex. Nur noch wenige Firmen weltweit können sich das leisten und sind selbst dann noch auf staatliche Subventionen angewiesen. Diese staatliche Förderung in Asien – von steuerlichen Begünstigungen über freie Grundstückszuweisungen bis hin zu subventionierter Energie – sowie die niedrigen Arbeitskosten und laxeren Umweltvorgaben haben den Webewerb über Jahre in hohem Ausmaß verzerrt.

Für den Aufbau einer Chipfabrik in Europa werden von Intel für die ersten zwei „Module“ 20 Milliarden Dollar an Investitionskosten veranschlagt. In der Endphase, bei gutem Nachfrageverlauf, plant Intel zusätzliche 6 bis 8 Module zu bauen – also ein Gesamtinvestitionsvolumen zwischen 60 und 80 Milliarden Dollar. Jedes dieser Module schafft „nur“ rund 1500 hochqualifizierte Arbeitsplätze plus ingesamt weitere 10-30 Tausend für deren Infrastruktur. Die Ansiedlung dieser Fabrik in Europa müsste mit circa 35 Prozent der Investitionskosten subventioniert werden, um sie konkurrenzfähig mit den stark subventionierten asiatischen Konkurrenten zu machen und um damit den Grundstein für ein Aufholen zu legen.

Mehr als ein Drittel der Baukosten gehen in die Lithographie, also die Belichtungstechnik, die derzeit nur von einem Hersteller auf der Welt kommen kann: ASML aus den Niederlanden, die mit ihren Zulieferern wie Zeiss und Trumpf aus Deutschland die komplexeste Maschine überhaupt baut. Dank dieser weltweit führenden Technologie ist die Philips-Ausgründung ASML heute mit weit über 300 Milliarden Dollar Börsenkapitalisierung das wertvollste europäische Unternehmen. Die ersten 7 Milliarden Dollar flössen also schon einmal zurück in den europäischen Wirtschaftsraum und würden helfen, die Führungsposition dieses strategischen Lieferanten zu festigen. 15 Prozent der Kosten geht in den Bau der Fabrik. Steht sie hier, wird der Großteil dieser Leistung hier aus dem Wirtschaftsraum kommen. Also werden 50 Prozent der Kosten der Fabrik bereits im Europäischen Wirtschaftsraum verausgabt. Das ist mehr als die benötigten Subventionen.

Vertrauensvolle Kooperation ist essentiell bei der Weiterentwicklung der Chiptechnologien und der Entwicklung von geheimen Sicherheitschips. Diese kann nur in sehr enger Zusammenarbeit und mit einem Zugang zur Fabrikation funktionieren. Hier entsteht die Zukunft, und wer die vorhersagen will, muss sie machen. Machen sie andere anderswo, bleiben wir Zuschauer.

Fazit: Eine technologisch führende Fabrik alleine tut es nicht. Eine Fabrik als Teil einer weiterführenden Strategie, die Europa im Bereich der Chiparchitekturen und der Forschung entlang der gesamten Wertschöpfungskee, in Partnerscha mit der US-Chip-Industrie und Intel, und mit der „richtigen“ Ausgestaltung der IP-Rechte begleitet, ist eine einmalige und letzte Möglichkeit für die europäische Industrie, den Anschluss an die Spitze herzustellen. Von den positiven „Nebeneffekten“ von mehreren Milliarden ausländischen Direktinvestitionen, mehr Exporten, hochqualifizierten Arbeitsplätzen und anderen Synergien ganz zu schweigen.

Bibliografische Angaben

Clementi, Erich. “Für eine Aufholjagd in der europäischen Halbleiterindustrie braucht es Chipfabriken.” October 2021.

Dieser Text wurde zuerst am 28. Oktober 2021 bei Tagesspiegel Background veröffentlicht. 

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