Karl Kaiser hat eine entscheidende Rolle als Brücke zwischen Europa und Amerika gespielt, indem er beiden Seiten ein besseres Verständnis für die jeweils andere vermittelt und dabei geholfen hat, unvermeidliche Spannungen zu überwinden. Nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Ende des Kalten Krieges war es ihm ein Anliegen, dass beide Seiten erkennen, dass die USA weiterhin eine Schlüsselrolle bei der Aufrechterhaltung einer liberalen internationalen Ordnung spielen. Doch seitdem haben wir den Irakkrieg, die Finanzkrise von 2008, den Aufstieg Chinas, die Rückkehr des russischen Revanchismus und den Aufstieg des populistischen Nationalismus auf beiden Seiten des Atlantiks erlebt. Manche mögen sich fragen, ob Kaisers Aussage heute noch gültig ist.
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts sagten einige eine Spaltung zwischen den USA und Europa voraus. In meinen jüngsten Memoiren, „A Life in the American Century“, beschreibe ich ein Treffen in Berlin im Jahr 2001, bei dem ein britischer Politiker argumentierte, dass der europäische Föderalismus „ein französisches Komplott sei, um eine Nation zu schaffen, die das amerikanische Machtgleichgewicht ausbalanciert“. Doch Deutsche wie Karsten Voigt und Karl Kaiser versicherten mir, dass Deutschland dies nicht so sehe. Und das gilt auch heute noch. Die transatlantische Allianz bleibt entscheidend für die globale Ordnung sowie für amerikanische und europäische Interessen, selbst wenn sich der Fokus nach Asien verschiebt.
Der Kalte Krieg endete ohne die nukleare Katastrophe, die über unseren Köpfen schwebte, wurde jedoch durch eine Phase der Hybris ersetzt, als die Vereinigten Staaten zur einzigen Supermacht der Welt wurden. Dieser unipolare Moment wurde bald durch die Angst vor transnationalem Terrorismus und Cyberkriegen ersetzt. Analysten sprechen heute von einem neuen Kalten Krieg mit einem aufstrebenden China und der Angst vor einer nuklearen Eskalation nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine. Unsere mentale Landkarte der Welt hat sich in den vergangenen 30 Jahren dramatisch verändert.
Über acht Jahrzehnte hinweg hat die Welt das erlebt, was der Verleger Henry Luce im März 1941 „das amerikanische Jahrhundert“ nannte. Im 19. Jahrhundert lag das globale Machtzentrum in Europa, das seine imperialen Tentakel über die Welt ausstreckte. Die Vereinigten Staaten spielten damals eine Nebenrolle mit einem Militär, das nicht viel größer war als das von Chile. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden die USA zur größten Industrienation der Welt und machten fast ein Viertel der Weltwirtschaft aus (gemessen an Wechselkursen gilt dies noch heute). Als US-Präsident Woodrow Wilson 1917 zwei Millionen Soldaten nach Europa entsandte, gaben die USA dem Ersten Weltkrieg die entscheidende Wendung. Doch danach kehrten die Vereinigten Staaten „zur Normalität“ zurück und wurden in den 1930er Jahren stark isolationistisch.
Das amerikanische Jahrhundert begann nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Vereinigten Staaten zum Guten oder Schlechten die führende Macht in den globalen Angelegenheiten wurden. Kann das so bleiben?
Die Aufrechterhaltung der Allianzen
Die Vereinigten Staaten bleiben die stärkste Militärmacht der Welt und die größte Volkswirtschaft, doch seit den 2010er Jahren ist China zu einem fast gleichwertigen wirtschaftlichen Konkurrenten geworden. Die amerikanische Vormachtstellung in diesem Jahrhundert wird nicht wie im 20. Jahrhundert aussehen. Die größte Gefahr für Amerika ist nicht, dass China es überholen könnte, sondern dass die Diffusion von Macht zu einer Lähmung führt, die das Handeln unmöglich macht. Vieles wird davon abhängen, ob die USA ihre Allianzen aufrechterhalten.
China hat große Stärken, aber auch Schwächen. Beim Blick auf das Gesamtbild der Machtbalance haben die USA mindestens fünf langfristige Vorteile.
Erstens die Geografie: Die Vereinigten Staaten sind von zwei Ozeanen und zwei freundlichen Nachbarn umgeben, während China Grenzen mit 14 anderen Ländern teilt und in mehrere Territorialkonflikte verwickelt ist.
Zweitens haben die USA einen Energie-Vorteil, während China auf Energie-Importe angewiesen ist.
Drittens ziehen die Vereinigten Staaten Macht aus ihren großen transnationalen Finanzinstitutionen und der internationalen Rolle des Dollars. Eine glaubwürdige Reservewährung erfordert freie Konvertierbarkeit sowie tiefe Kapitalmärkte und Rechtsstaatlichkeit, die China fehlen.
Viertens haben die USA einen demografischen Vorteil als das einzige große entwickelte Land, das voraussichtlich seinen dritten Platz im globalen Bevölkerungsranking halten wird. Sieben der fünfzehn größten Volkswirtschaften der Welt werden in den nächsten zehn Jahren eine schrumpfende Erwerbsbevölkerung haben, während die US-Bevölkerung weiter wächst.
Und fünftens stehen die Vereinigten Staaten an der Spitze wichtiger neuer Technologien (Bio-, Nano- und Informationstechnologien). China investiert zwar stark in Forschung und Entwicklung und erzielt hohe Patentzahlen, doch seine Forschungsuniversitäten rangieren laut eigenen Maßstäben immer noch hinter denen der USA.
Wie innenpolitische Veränderungen die US-Soft Power prägen
Insgesamt verfügen die Vereinigten Staaten in diesem Machtwettbewerb über eine starke Ausgangsposition. Wenn die Amerikaner jedoch der Hysterie über den Aufstieg Chinas erliegen, könnten sie ihre Karten schlecht ausspielen. Es wäre ein schwerer Fehler, Karten mit hohem Wert – darunter starke Allianzen und Einfluss in internationalen Institutionen – abzulegen. China stellt keine existenzielle Bedrohung für die USA dar, es sei denn, US-Führer machen es zu einer, indem sie in einen großen Krieg stolpern. Die historische Analogie, die mir Sorgen bereitet, ist eher 1914 als 1941.
Meine größere Sorge gilt jedoch den inneren Veränderungen und deren Auswirkungen auf die amerikanische Soft Power. Selbst wenn die äußere Macht dominant bleibt, kann ein Land seine innere Tugend und Anziehungskraft auf andere verlieren. Das Römische Reich bestand noch lange, nachdem es seine republikanische Regierungsform verloren hatte. Benjamin Franklin sagte zu der von den Gründervätern geschaffenen Regierungsform der USA: „Eine Republik, wenn ihr sie bewahren könnt.“
Politische Polarisierung ist ein Problem, und das gesellschaftliche Leben wird immer komplexer. Die Technologie eröffnet ein breites Spektrum an Chancen und Risiken im Zusammenhang mit künstlicher Intelligenz, Big Data, Machine Learning, Deep Fakes und generativen Bots – um nur einige zu nennen. Noch größere Herausforderungen zeichnen sich in den Bereichen Biotechnologie ab, ganz zu schweigen von den Auswirkungen des Klimawandels.
Einige Historiker vergleichen den heutigen Fluss von Ideen und Verbindungen mit den Umwälzungen der Renaissance und Reformation vor fünf Jahrhunderten, jedoch in weitaus größerem Maßstab. Und auf diese Epochen folgte der Dreißigjährige Krieg, der ein Drittel der deutschen Bevölkerung das Leben kostete. Heute ist die Welt reicher und riskanter als je zuvor. Es gibt Gründe für Pessimismus, und viele sehen ihn in den Ergebnissen der US-Wahl von 2024. Gleichzeitig haben die Amerikaner in den 1890er, 1930er und 1960er Jahren noch schlimmere Zeiten überstanden.
Trotz all ihrer Schwächen sind die Vereinigten Staaten eine innovative und widerstandsfähige Gesellschaft, die sich in der Vergangenheit immer wieder neu erfinden konnte. Karl Kaisers Optimismus von 1992 könnte immer noch richtig sein.
Dieser Text ist ein Kapitel aus dem Buch „Wege in die Zukunft: Perspektiven für die Außenpolitik: Zum 90. Geburtstag von Karl Kaiser“ . Die vollständige Version können Sie oben im PDF bzw. über das E-Book aufrufen.