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12. Juni 2019

Europa braucht mehr

Auf die sicherheitspolitischen Herausforderungen muss die EU angemessen reagieren: mit Mehrheitsentscheidungen und einer europäischen Armee

Europa ist ein Friedensprojekt – das politische Zusammenwachsen des Kontinents gründet im Kern auf dieser Idee. Nach zwei verheerenden Weltkriegen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und angesichts der bipolaren Nachkriegsordnung war die Wahrung des Friedens oberstes Ziel. Das scheint heute bisweilen zu langweilen, es ist jedoch weder eine Selbstverständlichkeit noch ein Vorrecht der Kriegs- oder Nachkriegsgeneration, daran zu erinnern.

Nach der friedlichen Revolution in der DDR, der Wiedervereinigung und den Freiheitsbewegungen, die den Zerfall der sowjetischen Machtsphäre auslösten, blieb neben allen Demokratisierungs- und Wohlstandsversprechen der Friedenserhalt auch für die schrittweise erweiterte EU zentral. Der ­Bosnien-Krieg hatte jenen, die annahmen, Europa sei auf Dauer vor kriegerischer Gewalt gefeit, die Zerbrechlichkeit des Friedens vor Augen geführt – so wie zuletzt die völkerrechtswidrige Annexion der Krim und der anhaltende Konflikt in der Ostukraine. Das Sicherheitsgefühl der mittelost- und osteuropäischen Staaten wird davon in besonderer Weise tangiert, und gerade Deutschland sollte die Interessen und Bedürfnisse seiner Nachbarn in dieser Hinsicht sehr ernst nehmen, um die Akzeptanz der EU als Garant für Frieden, Freiheit und Demokratie zu sichern und zu stärken.

Angesichts der gravierenden Veränderungen durch die Globalisierung und angesichts neuer Bedrohungen steht Europa heute erkennbar unter Druck: durch die asymmetrische und hybride Kriegführung, Cyberangriffe, den islamistischen Terrorismus, die zerfallenden Staaten im Nahen Osten und in Nordafrika sowie die Migration, die das innere Gleichgewicht vieler Nationen erschüttert. Europa erlebt, was der estnische Völkerrechtler Rein Mullerson die „Dämmerung einer neuen Ordnung“ (dawn of a new order) nennt: Die Hoffnungen, die mit dem Ende der Teilung der Welt in Ost und West gehegt wurden, sind einer neuen Unübersichtlichkeit gewichen. Unverhohlen werden auf der ganzen Welt multipolare Rivalitäten ausgelebt. Auf internationaler Ebene schwindet die Verlässlichkeit. Auch innerhalb Europas sind eingegangene Partnerschaften nicht mehr so unangefochten und beständig wie in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts.

Die EU garantiert heute rund 500 Millionen Menschen Freiheitsrechte und ein geregeltes, friedliches Miteinander in Staaten, die sich zu demokratischen Rechtsordnungen bekennen. Darum beneiden uns viele, die Anziehungskraft ist hoch. Doch die Partner auf dem wohlhabenden Kontinent haben sich entfremdet. Die einen stellen das transatlantische Verteidigungsbündnis in Frage, andere scheinen sich von unseren Werten, unseren Vorstellungen von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Freiheit zu entfernen. Hinzu kommt: Mit Großbritannien verlässt ein wichtiges Mitglied die Europäische Union. Das fordert die innereuropäische Balance heraus und ist ein Verlust – wer auch immer unter dem Austritt am stärksten leiden wird. 

Hohe Erwartungen, relative Machtlosigkeit

Angesichts der Unsicherheit und der komplexen Bedrohungslage müssen die Staaten Europas dichter zusammenrücken. In der globalisierten Welt haben sie nur als Gemeinschaft eine Chance, vor den Globalplayern in Politik und Wirtschaft zu bestehen. Alle Europäer sind in dieser Situation aufgerufen, Spaltungstendenzen entgegenzuwirken und mehr Verständnis füreinander aufzubringen. Gerade die Imponderabilien im transatlantischen Verhältnis machen eine innereuropäische Verständigung notwendiger denn je.

Weitgehend unstrittig ist, dass wir Europäer mehr Verantwortung für unsere eigene Sicherheit übernehmen müssen, um tatsächlich „weltpolitikfähiger“ zu werden, wie Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker es ausdrückt. Die in Reden und Papieren formulierten Ambitionen sind ebenso groß wie die Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger. Sicherheit und Schutz zählen zu den drängendsten Problemen, derer sich die EU annehmen soll. Etwa drei Viertel der Menschen befürworten eine gemeinsame europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik.

Diesen hohen Erwartungen steht in der Realität die relative Machtlosigkeit der Gemeinschaftsinstitutionen gegenüber. Die Mitgliedstaaten – nicht die Gemeinschaft – sind die entscheidenden Akteure in der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Gemeinsame Initiativen wie die Einsätze internationaler Marineeinheiten im Mittelmeer beweisen, dass Kooperationen sinnvoll sind, doch tragen sie den Charakter von befristeten Projekten. Die Verstetigung und die Vertiefung der Zusammenarbeit muss das Ziel sein.

Der Blick in die Geschichte der europäischen Integration lehrt, dass der Verzicht auf nationale Kompetenzen auf dem Sektor Sicherheit und Verteidigung in der Vergangenheit auf besondere Vorbehalte stieß. Fünf Jahre nach Kriegsende hatte der damalige französische Ministerpräsident René Pleven eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft vorgeschlagen. Die Zusammenlegung europäischer Armeen – 1950, noch vor Gründung der Montanunion – war ein mutiger Vorstoß. Die Zeit war noch nicht reif: Zwei Jahre nach der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl scheiterte der Pleven-Plan, er fand keine Mehrheit in der Französischen Nationalversammlung.

Die Einsicht in die Notwendigkeit europäischer Kooperationen auch auf dem Feld der Sicherheit ist inzwischen gewachsen. Die Europäische Union will mehr als eine Werte- und Wirtschaftsgemeinschaft sein. Im Vertrag von Maastricht beschloss der Europäische Rat 1992 nicht nur die Konvergenzkriterien, die der gemeinsamen Währung zugrunde liegen, sondern alle EU-Mitglieder verpflichteten sich ausdrücklich auf eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik sowie zur Zusammenarbeit auf den Feldern Justiz und Innere Sicherheit.

Wie aus Absichtserklärungen politische Wirklichkeit wird

Trotzdem fällt es heute, ein Vierteljahrhundert später, den Staaten der EU noch immer schwer, sicherheitspolitisch mit einer Stimme zu sprechen und als Union mehr zu sein als die Summe der Einzelstaaten. Die deutsch-französische Ankündigung gemeinsamer Regeln für den Export von Rüstungsgütern weisen in die richtige Richtung. Genauso PESCO, die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit, zu der sich 25 Mitgliedstaaten entschlossen haben, die zumindest der Einstieg in eine Europäische Verteidigungsunion sein könnte – wie immer diese am Ende aussieht.

Die Teilnehmerstaaten haben sich zum Ausbau und zu einer verstärkten Kooperation verpflichtet – allerdings politisch, nicht rechtlich. Die nationale Souveränität bleibt unberührt. Das erspart zwar mühevolle Ratifizierungsverfahren, hat aber wie alle zwischenstaatlichen Verabredungen eine Kehrseite: Es hängt allein vom politischen Willen der Regierungen der Mitgliedstaaten ab, ob aus Absichtserklärungen politische Wirklichkeit wird.

Es ist besser, schrittweise voranzugehen als gar nicht. Aber solch kleine Fortschritte in Ehren – Europa braucht mehr: Die größere Bereitschaft aller, nationale Souveränität zugunsten gemeinschaftlicher Politik aufzugeben. Die EU benötigt dringend ein wirksames Instrument der Sicherheits- und Verteidigungspolitik: eine europäische Armee.

Und Europa als Ganzes braucht eine Verständigung darüber, in welchen Bedrohungslagen gemeinsame Streitkräfte einzusetzen sind, wer im Krisenfall darüber entscheidet und wo nichtmilitärische Unterstützung angemessen ist. Diese Fragen gehören in ein außen- und sicherheitspolitisches Konzept, das Diplomatie, ziviles Krisenmanagement, polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit, aber auch Entwicklungs-, Handels- und Einwanderungspolitik einschließt und auf gemeinsam definierten Interessen, Prioritäten und Strategien basiert. In die Debatte darüber tragen die Nationen ihre jeweilige historische Prägung, ihre Ängste und Erfahrungen hinein. Wer Europa will, muss diese Verschiedenheit akzeptieren, nationale Eigenarten kennen und Empfindlichkeiten respektieren. Die eigenen Vorstellungen dürfen nicht zum Maß aller Dinge werden.

Für qualifizierte Mehrheitsentscheidungen

Wenn es Europa mit der gemeinsamen Verteidigung ernst meint, werden wir nationale Gesetze ändern und Rechtsangleichungen finden müssen. Das gilt für alle Partner in der Union. Auch Deutschland mit seinen historisch begründeten engen verfassungsrechtlichen Vorgaben – Stichwort: Parlamentsvorbehalt – wird sich bewegen müssen.

Die EU hat sich in ihrer Geschichte beständig weiterentwickelt, einen Endpunkt gibt es nicht. Die Weltlage und Veränderungen innerhalb der Gemeinschaft machen fortwährende Anpassungen nötig. Dazu werden wir auch die Entscheidungsfindung in der EU ändern müssen, um ihre Handlungsfähigkeit zu stärken. Das Einstimmigkeitsprinzip sollte einst Einmütigkeit fördern. Heute erweist es sich als Hemmnis. Einstimmigkeitsprinzip heißt, dass der Langsamste alles blockieren kann. Für die notwendigen Reformen innerhalb der EU brauchen wir stattdessen ein System wie auch immer qualifizierter Mehrheitsentscheidungen. Nur so wird sich die Idee von Europa als Friedensprojekt und als Garant für Sicherheit und Demokratie festigen und damit die Legitimation und Akzeptanz der EU dauerhaft sichern lassen.

Dr. Wolfgang Schäuble ist seit 2017 Präsident des Deutschen Bundestags. Von 1984 bis 1991 und von 2005 bis 2017 gehörte er der Bundesregierung an, u.a. als Innen- und Finanzminister.

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